Die WELT fragt: „War das Zeus, der vom Himmel gestiegen ist? Oder der Wiedergänger André Malraux’, des französischen Schriftstellers und Kulturministers, der anlässlich der Einweihung der Beleuchtung der Akropolis 1959 die Ehre hatte, eine große Rede zu halten?“.

Sicher ist eines: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat es nicht mit den kleinen Gesten.

Bei seinem Besuch in Athen hat er zu einer Neugründung Europas aufgerufen. Dazu müsse die EU „demokratischer und souveräner“ werden, sagte Macron bei einer Rede vor der Akropolis.

Andernfalls werde der Staatenverbund auseinanderbrechen, warnte er. Der Prozess dazu müsse bald eingeleitet werden: Sechs Monate lang sollten die europäischen Völker über die Zukunft Europas beraten und reden.

Danach müsse offen politisch entschieden werden. Der Neugründungsprozess solle nach Macrons Ansicht in Athen, der Wiege der Demokratie, beginnen. Das klingt zunächst gut, mutig – und hat einen historischen Anknüpfungspunkt. Es ist Macron gelungen, sich bei seiner Rede vor der Akropolis wirksam in Szene zu setzen.

Nicht hinter verschlossenen Türen! Der Prozess dazu müsse bald eingeleitet werden: Sechs Monate lang sollten die europäischen Völker über die Zukunft Europas beraten und reden, sagte er. Danach müsse offen politisch entschieden werden, „nicht hinter verschlossenen Türen“. Der Neugründungsprozess sollte in Athen, der Wiege der Demokratie, beginnen, fügte er hinzu.

An die Jugend Europas gewandt sagte er: „Die Eule von Athen schaut leicht nach hinten. Tun Sie es nicht – schauen Sie nach vorne.“

Bürokraten und Technokraten hätten den Sinn Europas verdreht. Jungen Griechen wurde vor wenigen Jahren versprochen, die Sparmaßnahmen würden bald ihr Leben verbessern. „Was erleben sie heute? Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit“, sagte Macron. Ein solches Europa wolle niemand haben.

Der Nationalökonom und Finanzwissenschaftler Hans Werner Sinn hingegen erklärte Anfang letzten Monats, Macron lege es auf ein Europa der zwei Geschwindigkeiten an. Dies teile den Kontinent quer durch Mitteleuropa und mache Deutschland zum „Anhängsel und Zahlmeister einer neuen lateinischen Münzunion“, so Sinn.

So wolle Emmanuel Macron seinem Land Entbehrungen ersparen, wobei er den Schulterschluss mit Deutschland suche, so der Ökonom weiter. Das sei offenbar einfacher, als die darniederliegende Industrie aus eigener Anstrengung wieder fit zu machen.

Macron wolle außerdem für die Zukunft ein eigenes Parlament für die Euro-Zone mit eigenem Budget und mit einer eigenen Steuerhoheit – und der Möglichkeit, in gemeinsamer Verantwortung Schulden zu machen. Hinzu komme eine gemeinsame Einlagenversicherung für die Banken und eine Europäische Arbeitslosenversicherung, um damit „einen direkten Geldfluss vom Norden in den Süden zu organisieren“.

Nach Meinung des Kanzlerkandidaten Martin Schulz hat Macron „gute und sehr konkrete Vorschläge“ für die Reform der Europäischen Union unterbreitet, die „zum Teil auf Überlegungen aus dem EU-Parlament“ beruhten.

Für Macrons Idee eines eigenen Budgets für die Eurozone sei Schulz bereits als Präsident des Europäischen Parlaments eingetreten, hob der SPD-Politiker hervor. Damals habe Kanzlerin Merkel das „brüsk abgelehnt“. Nach der Wahl Macrons sei es „schön, dass bei ihr jetzt zumindest eine Bereitschaft zum Nachdenken festzustellen ist“.

Macron wollte diese Rede allen Sicherheitsbedenken zum Trotz auf dem Hügel der Pnyx halten, dort wo die Griechen den Staat und die Demokratie erfunden haben. Er wollte sie mit Beginn der Dämmerung halten, wenn die Hügel rings um Athen in ein rosafarbenes Licht getaucht sind, wenn die Zikaden noch zirpen, während jener blauen Stunde also, da alles möglich scheint, sogar die Neuerfindung einer so alten und inzwischen vielfach verratenen Idee wie Europa.

Viel Symbolik und Mystik, modern ausgedrückt: Show! Was bleibt sind Fragen: Wie will man das praktisch umsetzen? Wer soll das bezahlen? Wir als Zahlmeister? Drückt Macron sich nicht vor Reformen in Frankreich? Wenn diese beantwortet sind, reformieren wir „die alte Dame“ Europa!

„Wunschkonzert Europa“ … Darf man nationale Interessen gegen Pflichten innerhalb der europäischen Gemeinsamkeit durchsetzen und im Gegenzug Hilfen aus europäischen Fonds in Anspruch nehmen? Hat man nicht einen Teil staatlicher Souveränität an die Gemeinschaft abgegeben?! Eine Aufbereitung der altbekannten „Rosinentheorie“!

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat Ungarn und die Slowakei zur Aufnahme von Flüchtlingen verpflichtet. Die Regierungen in Budapest und Bratislava hatten Klage beim EuGH eingereicht mit der Begründung, dass der von der EU beschlossene Umverteilungsmechanismus im Widerspruch zur Gipfel-Erklärung der europäischen Staats- und Regierungschefs vom Juni 2015 stehe. Das wiesen die Richter nun zurück. Eine entsprechende von der EU beschlossene verbindliche Aufnahmequote sei rechtens. „Der Mechanismus unterstützt Griechenland und Italien dabei, mit den Auswirkungen der Flüchtlingskrise umzugehen“, hieß es in der Urteilsbegründung.

Die EU-Innenminister hatten im September 2015 beschlossen, zur Entlastung Italiens und Griechenlands bis zu 120.000 Flüchtlinge in anderen EU-Ländern anhand eines festen Verteilungsschlüssels unterzubringen. Die Entscheidung war gegen den Willen der beiden Länder sowie Rumäniens und Tschechiens gefallen.

Nach Ansicht dieser Länder untergräbt die Verpflichtung ihre staatliche Souveränität und gefährdet in Zeiten von Anschlägen die Sicherheit der Bürger. Dementsprechend nahmen Ungarn und die Slowakei auch so gut wie keine Flüchtlinge auf.

Den Beschwerden aus den Ländern waren nur geringe Chancen eingeräumt worden, nachdem der Generalanwalt am EuGH zuletzt eine Umverteilung innerhalb der EU empfohlen hatte. Er bezeichnete den Verteilungsmechanismus in seinem Schlussantrag vor dem EuGH in Luxemburg als „wirksam und verhältnismäßig“ und betonte den Beitrag, den die Umverteilung zur Bewältigung der Krise leiste.

Der rechts-konservative Ministerpräsident Ungarns, Viktor Orbán, war wegen seiner Haltung in der Flüchtlingsfrage bereits mehrmals mit anderen EU-Staaten sowie der EU-Kommission aneinandergeraten. Zuletzt präsentierte Orbán der Brüsseler Behörde eine Rechnung über 400 Millionen Euro für den ungarischen Grenzzaun, der Flüchtlinge abhalten sollte. Die EU solle die Hälfte der Kosten für den Bau und den bisherigen Betrieb der Sperranlagen an Ungarns Südgrenze übernehmen. Die EU-Kommission lehnte ab.

Kanzlerkandidat Martin Schulz hatte vor dem Urteil gesagt, dass er von Ungarn und der Slowakei erwarte, dass sie das EuGH-Urteil zur Verteilung von Flüchtlingen akzeptieren. Sollte der EU-Beschluss von 2015 über die Verteilung von Geflüchteten auf alle EU-Mitgliedstaaten rechtmäßig sein, dann hoffe er, dass die Verteilung auch stattfände, so der frühere Präsident des Europaparlamentes. Er sehe nicht, dass etwa Deutschland als größter Nettozahler den EU-Haushalt fülle, während die Staaten, die Geld aus dem Haushalt erhielten, entgegneten, „Flüchtlinge könnt Ihr für Euch behalten!“.

Eine Krisen-Sonderregelung im Vertrag von Lissabon erlaubte der EU gegen den Widerstand von vier Staaten, wenigstens ein Minimalangebot durchzusetzen. Das höchste europäische Gericht unterstrich in seinem Urteil jetzt aber, dass es sich um eine absolute Ausnahme vom Prinzip gehandelt habe, gerechtfertigt nur durch die damals herrschende Flüchtlingskrise.

Wie bitte soll sich Europa weiterentwickeln, wenn sich einzelne, nationalkonservativ eingestellte Regierungen offen über europäisches Recht hinwegsetzen wollen, wenn sie Rechtsstaatlichkeit mit ihrer Gewaltenteilung und Pressefreiheit infrage stellen?

Sanktionen sind kaum möglich, weil auch die einstimmig in der EU beschlossen werden müssen.

Die Flüchtlingspolitik ist in diesem latenten Meinungsstreit über die Zukunft des europäischen Einigungswerks nur ein Aspekt unter vielen. Das eigentliche Problem ist die unterschiedliche Ausrichtung:

Hier, im Westen, der Wunsch nach stärkerer Integration, dort, im neuen „Ostblock“, das Interesse an wirtschaftlicher Förderung ohne intensive politische Verschmelzung.

Mit dem Prinzip der Einstimmigkeit kommt die EU nicht vom Fleck.

Deshalb verteidigen paradoxerweise jene es am heftigsten, die Einmütigkeit am wenigsten wollen.

So manche(r) Neuwähler(in) wird sich jetzt fragen: „Wen oder was soll ich eigentlich wählen?“ oder „Soll ich überhaupt wählen gehen?!“. Für so manchen Zuschauer ist nach dem „TV-Duell“ nicht so recht klar, wohin der Weg der beiden Parteien bzw. Kandidaten führt. Fehlten doch klare Trennlinien.

Flashback: Manchmal wendet sich Frau Merkel bei ihren Antworten zuerst an Herrn Schulz und sagt: „Wir haben oft gedacht…-“ Spätestens da dürfte sich mancher Zuschauer fragen, ob Merkel wirklich gegen Schulz antritt oder ob die große Koalition gerade gemeinsam um ihre Fortsetzung wirbt. Schnell wird klar, dass sich im Berliner Adlershof zwei langjährige europäische (Außen-)Politiker treffen, die sich und ihre Positionen aus unzähligen Verhandlungsrunden in- und auswendig kennen und einander sehr schätzen. In weiten Teilen ist das Duell dann auch eher ein öffentlicher Koalitionsgipfel unter Regierungspartnern als ein heftiger Schlagabtausch.

Das zeigt sich vor allem in der ersten Stunde, in der es fast ausschließlich um die Außenpolitik geht und in der sich Merkel und Schulz in etlichen Punkten höchstens in der Rhetorik, nicht aber fundamental in ihren Positionen unterscheiden, die die Union und die SPD in vier Regierungsjahren gemeinsam vertreten haben.

Sehen wir uns die Flüchtlingspolitik an: Zwar greift Schulz die Kanzlerin heftig für ihre Entscheidung im Spätsommer 2015 an, die in Ungarn festsitzenden Flüchtlinge nach Deutschland einreisen zu lassen, ohne sich vorher mit den anderen EU-Staaten beraten zu haben. 2015 aber fand eben jener Martin Schulz noch, Merkel hätte „sicher mehr mit Franzosen und Polen kommunizieren können“, aber die humanitäre Ausnahmesituation habe eben ein schnelles Handeln erfordert. „Es gibt im Leben einer Bundeskanzlerin Momente, da müssen Sie entscheiden“, sagt Merkel im Gegenzug – und so richtig kann Schulz dem nicht widersprechen. Zumal er Merkels Entscheidung grundsätzlich weiter richtig findet. Selbst das Bekenntnis der Kanzlerin, die Bundesregierung habe sich in der Krise zu wenig um Flüchtlingslager in der Türkei und Jordanien gekümmert, ändert nichts an de Gemeinsamkeiten. Das ist alles nicht so recht neu.

Bei anderen außenpolitischen Themen muss man Differenzen mit der Lupe suchen. Schulz wie Merkel finden, ein „verfassungskonformer Islam“ (Merkel) habe Platz in Deutschland, Islamisten und gewaltbereite Gefährder hingegen nicht; beide wollen straffällig gewordene Flüchtlinge schnell abschieben und stärker als bisher gegen Hassprediger und fanatische Imame vorgehen. Spannend wird es höchstens beim Thema Türkei, bei dem Schulz eine deutlich klarere Sprache als Merkel spricht: Als Kanzler will er dem europäischen Rat empfehlen, die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sofort zu beenden, weil Ankara längst „alle roten Linien überschritten“ habe. Dass die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei abgebrochen werden sollten, da sind sich beide in der Sache einig. Das EU-Flüchtlingsabkommen wollen weder Merkel noch Schulz aufkündigen.

Dann weiter mit internationalen Themen wie Nordkorea und Donald Trump in den USA. Auch beim Umgang mit Donald Trump, für Schulz ein unberechenbaren Twitterer, müsse man im Gespräch bleiben, erklärt Merkel. Denn der sei nun einmal Partner im Kampf gegen den IS im Irak oder auch in Afghanistan. Beim Thema Nordkorea gehe es sogar um „Krieg oder Frieden“.

Jetzt ging es innenpolitisch weiter mit Diesel-Skandal, Rente, sozialer Gerechtigkeit und Innerer Sicherheit. Schulz bleibt angriffslustig: Keine Rente mit 70? Das sei genauso wie beim letzten Duell, als Merkel eine Pkw-Maut ablehnte, die dann doch kam. Denn es gebe Stimmen in der Union, die eine noch spätere Rente in Deutschland forderten. Merkel entgegnet, sie spreche Schulz auch nicht alles zu, was in einer der vielen Unterorganisationen der Partei besprochen werde. Die Kanzlerin wirkt etwas dünnhäutig, man sieht ihr an, dass sie verärgert ist. Schulz stichelt: Und überhaupt sei die Maut nur mit den Stimmen der Linken beschlossen worden.

Was nach Klein-Klein klingt, offenbart beider Strategien: Die Kanzlerin will erklären – selbst wenn es darum geht, aus Fehlern zu lernen. Schulz vereinfacht gern und schleift populistische Sphären wie schon zu Beginn seiner Kandidatur Anfang des Jahres, die damals einen Hype ausgelöst hatten, der dann aber implodierte.

Fazit: Den großen Showdown – wie manche ihn vorausgesehen hatten – gab es nicht. Die Maxime auf beiden Seiten: Nur keine Fehler machen! Merkel war ganz Kanzlerin, bisweilen fast präsidial. Schulz verbuchte den einen oder anderen Punkt für sich, doch den großen Umschwung dürfte das Duell für ihn nicht gebracht haben.

Insgesamt waren die Unterschiede zwischen den jeweiligen Positionen kaum erkennbar.

Prognose: Die beiden sehen wir wieder – in einer großen Koalition!

 

Was heute „Trumpismus“ genannt wird, ist nicht vom Himmel gefallen. Extremformen von Freier-Markt-Denke und reaktionärer Gesellschaftsvision waren schon immer Teile des amerikanischen Konservatismus. Der Schwenk hin zu einer Dominanz des Nativismus – der internationalen Abschottung und dem mythischen Ideal von Amerika als Ort unkomplizierter Lebensformen – vollzog sich nicht über Nacht, sondern über rund 50 Jahre.

Er begann mit einem Bestseller. Gewissen eines Konservativen heißt das Buch von Barry Goldwater, einem 1998 verstorbenen Senator aus Arizona. Der Konservative gilt im Erscheinungsjahr 1960 als aussterbende Spezies. „In unserer Sorge, die Welt zu ‚verbessern‘ und ‚Fortschritt‘ zu sichern, haben wir unsere Schulen zu Labors für soziale und wirtschaftliche Veränderungen gemacht“, heißt es dort. Es ist eine fundamentale Kritik am Wesen des „New Deal“, dem in den 1930ern verabschiedeten Paket des demokratischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt, in dem der Staat mit Konjunkturprogrammen die Wirtschaft stützt und Sozialprogramme einführt. Auch Republikaner, die sich zu diesem Zeitpunkt gar einen liberalen Ostküsten-Flügel leisten, tragen diese Politik mit. Zu groß ist die Angst, dass der ökonomische Ruin der Massen den Totalitarismus heraufbeschwört.

„Freiheit“ heißt Goldwaters radikaler Gegen-Slogan. Das Buch verkauft sich 3,5 Millionen Mal und liegt später unter anderem auf den Nachttischen von Ronald Reagan, George W. Bush und Ted Cruz. Freiheit, das ist für Goldwater Selbstverwirklichung durch freies Geschäft, freien Markt und einen möglichst kleinen Staatsapparat. Die „Young Americans For Freedom“ beginnen, die neue Form des Konservatismus an Unis wie ein Evangelium zu verkünden – es ist die andere Geschichte der Sechziger, weit weg vom Freiheitsbegriff der Hippies und späteren Baby Boomer.

Goldwater selbst wird 1964 Präsidentschaftskandidat der Republikaner, er wütet gegen Kommunisten, die Unmoral der Unterhaltungskultur, den übermächtigen Staat und den Bürgerrechtskampf der Afroamerikaner. Er verliert haushoch gegen Amtsinhaber Lyndon B. Johnson, seine Nominierung bedeutet das Ende des liberalen Flügels der Partei.

Goldwaters Niederlage bei der Präsidentschaftswahl ist nicht das Ende seiner Denkschule.

Brillante Ökonomen der Chicagoer Schule wie Milton Friedman und James Buchanan liefern den theoretischen Unterbau für Goldwaters Thesen: Märkte als Lösung für alle gesellschaftlichen Probleme, von Infrastruktur über die Bildung bis hin zur Gesundheit. Die Krisen der Siebziger scheinen die Grenzen der staatlichen Wirtschaftssteuerung aufzuzeigen und nach einer Alternative zu rufen. Selbst die Wahl Ronald Reagans 1980 ist kein endgültiger Sieg der konservativen Ideologie, auch wenn er erstmals Teile des Programms durch Steuersenkungen und Deregulierung durchsetzen kann.

Nachdem 1992 Bill Clinton maßgebliche Ideen der Konservativen übernimmt, erscheinen die Republikaner mit ihren eigenen Waffen besiegt. Außenseiter-Kandidaten wie der erzkonservative Pat Buchanan predigen eine Rückkehr zur reinen Lehre, die nur noch die Ablehnung des Staates mit dem Mainstream gemein hat. Konservative soziale Werte, Gegnerschaft zur Einwanderung sind seit Nixon vor allem Lockmittel für Wähler, der Fokus liegt vielmehr auf wirtschaftlicher Liberalisierung und der Rolle als Weltmacht. Außenpolitische Isolation ist eigentlich keine Option für konservative Präsidentschaftskandidaten.

Die Ära George W. Bushs dürfte als letzte der „alten“ Republikaner, vor allem aber als das Ende der Neokonservativen gelten, die eine imperialistische Außenpolitik verfolgen. Sein Irak-Debakel ebnet der Trump-Ära den Weg.

Der Plan, der auch in verschiedenen Bundesstaaten mit der Verschärfung von Wahlgesetzen für Afroamerikaner verbunden ist, geht auf: die Republikaner zementieren ihre Mehrheit im Repräsentantenhaus bis mindestens 2020, wenn die Bezirke neu berechnet werden. Doch der Nebeneffekt, dass nun in Vorwahlen Kandidaten um ein äußerst konservatives Publikum buhlen, sorgt für einen Rechtsruck und die Rückkehr des ganz rechten Konservatismus auf breiter Front – zunächst durch die Tea Party, später durch die „Trumpisten“.

Während Goldwater den Demokraten noch vorwarf, „zu lasch“ gegen den Kommunismus vorzugehen, werden Progressive heute direkt als verkappte Sozialisten beschimpft.

Ein flächendeckender Sieg des neoreaktionären Konservatismus gilt als so unwahrscheinlich wie sein Verschwinden nach der Trump-Ära.

 

Das mutet wie ein harmloses Computerspiel an: Ein Automobil bewegt sich auf einen Fußgängerüberweg zu. Darauf eine Gruppe von Passanten. Das Kfz kann aufgrund eines plötzlichen Bremsversagens nicht mehr anhalten. Jetzt soll der Mensch am Bildschirm entscheiden, ob das Auto die Passanten auf dem Zebrastreifen überfahren soll – mit dem Ergebnis, dass alle diese Passanten zu Tode kommen – oder ausweichen und mit einem schweren Hindernis kollidieren soll, was wiederum den Tod aller Insassen zur Folge hätte. Wen soll´s treffen?!

Kaum ist eine Entscheidung per Klick auf das entsprechende Szenario getroffen, erscheint eine Abwandlung derselben Frage. Diesmal kommen per Mausklick entweder ein Jogger mit Hund oder eine Mutter mit Kind ums Leben. Ändert sich das Urteil, wenn die Frau die Fahrbahn überquert, während die Fußgängerampel auf Rot steht? – Klick. Was, wenn sie auch noch dick ist? – Klick. Und wie sieht es aus, wenn statt des Lebens des Joggers das dreier Pflegepersonen auf dem Spiel steht?

Der makabre Fragenkatalog ist kein Spiel, sondern ein Forschungsinstrument. Wissenschaftler am Massachusetts Institute of Technology wollen herausfinden, wie autonome Fahrzeuge programmiert sein sollten, damit sie, wenn es zu einem tragischen Unfall kommt, die größtmögliche gesellschaftliche Anerkennung genießen. Es könnte zu Situationen kommen, in denen das Fahrzeug autonom über Leib und Leben entscheiden müsste. Um dies angemessen zu programmieren, muss man erst genauer verstehen, wie und nach welchen Kriterien Menschen solche Entscheidungen fällen. Und so spucken die Algorithmen der „Moral-App“ immer neue Szenarien aus; endlose Varianten des gleichen Dilemmas …

Die meisten Menschen befürworten autonome Fahrzeuge, die größtenteils utilitaristisch handeln, den Schaden für die Gesamtheit der Betroffenen minimieren. Entsprechend wird ein Kind eher geschont als alte Menschen, Einzelne geopfert anstelle einer Personengruppe – auch wenn das bedeutet, dass gelegentlich die Fahrzeuginsassen den Kürzeren ziehen. Nutzen möchten die Befragten aber oft nur ein Kfz, dass der Unversehrtheit der Insassen eine größere Bedeutung zumisst als der der übrigen Verkehrsteilnehmer.

Autonome Fahrzeuge werden nie lernen, zu entscheiden wie ein Mensch. Maschinen können allenfalls lernen, aus zahlreichen von Menschen getroffenen Entscheidungen eine Regel abzuleiten. Nur ist, was alle tun, nicht notwendigerweise moralisch richtig. Die Vorstellung von einer solchen „empirischen Ethik“ ist abstrus, denn sobald aus der Präferenz vieler eine allgemeine Regel nach dem Schema „Kinder vor Alten“ oder „Gruppen vor Einzelpersonen“ abgeleitet wird, geschieht eine Diskriminierung. Auch verfängt das Argument nicht, dass ein autonomes Auto nur dann gesellschaftliche Akzeptanz finden kann, wenn dessen „Entscheidungen“ sich decken mit dem, was die breitere Bevölkerung für das kleinere Übel hält. Wir haben entschieden, dass ein Leben nicht gegen ein anderes aufgerechnet werden darf. Das ist einer der Basisgrundsätze unserer Verfassung.

Weiter muss man sich vor dem Schluss hüten, dass die Antworten der Probanden im Simulator deren Reaktion in der Realität abbilden; mit großer Wahrscheinlichkeit tun sie das nicht. Das zeigen einschlägige Erfahrungen mit Piloten, die mit einem Kleinflugzeug in Not geraten: Beim Training im Simulator folgen die Piloten den Instruktionen und landen auf einem Acker, wo sie keine Unbeteiligten in Gefahr bringen. Im Angesicht der realen Bedrohung jedoch überwiegt der Drang, die eigene Haut zu retten – das zeigte vor Kurzem die Notlandung einer Cessna an einem belebten Strand bei Lissabon. Den Probanden der Ethik-Experimente zum autonomen Fahren fehlt dasselbe entscheidende Kriterium: Sie sitzen nicht drin!

Schließlich bewegt sich die Diskussion um autonome Fahrzeuge in Dilemma-Situationen in gedanklicher Schieflage: Einerseits unterstellt sie eine bis in utopische Sphären fortgeschrittene maschinelle Intelligenz, die offenbar problemlos Fußgänger nicht nur als solche erkennt, sondern diese auch noch nach diversen Merkmalen unterscheiden und außerdem die konkreten Folgen der Kollision für alle Beteiligten abschätzen kann. Diese Welt vollständiger künstlicher Intelligenz (von der wir noch weit entfernt sind) paart sich im Gedankenexperiment mit einer Ignoranz gegenüber Veränderungen, die autonome Fahrzeuge für den Straßenverkehr in seiner Gesamtheit mit sich bringen werden.

Mysteriöse Regeln, nach denen irgendwann algorithmisch entschieden wird, wer überfahren werden darf, werden schwerlich bei der Lösung dieser Problematik helfen. Vielmehr tut eine Diskussion um die Risiken not, die wir im Straßenverkehr einzugehen bereit sind. Einige davon ließen sich mit autonomen Fahrzeugen vermindern, indem Sicherungsmechanismen eingebaut würden, wie sie im Flugverkehr selbstverständlich sind.

Für Automobile ist das bis dato nicht gefordert. Vergessen wir eines nicht:

Der gegenwärtig größte Risikofaktor im Verkehr ist der Mensch!

 

Heute gehen die Verhandlungen zwischen Großbritannien und der EU über die Bedingungen des Austritts weiter. Schon in den vergangenen Wochen hat die britische Regierung Positionspapiere vorgelegt zu Themen wie Zöllen oder der Rolle des Europäischen Gerichtshofs. Ein gemeinsames Merkmal all dieser Vorschläge ist, dass Großbritannien hofft, auch nach dem Brexit 2019 möglichst viele Vorteile der Mitgliedschaft zu behalten.

Das Königreich will die Pflichten, die sich aus der Mitgliedschaft ergeben, wegzaubern und nur von den Segnungen profitieren. Von solch bahnbrechenden Neuerungen wird Michel Barnier, Brüssels Chefunterhändler, nichts halten. Wichtiger noch: Er will über die künftigen Beziehungen gar nicht erst sprechen, bevor es keine Fortschritte gibt in der Debatte um die Höhe der Scheidungszahlung und den Schutz der Rechte von EU-Bürgern im Königreich.

Dabei wird die Zeit knapp: In einem guten Jahr müssen die Abkommen fertig verhandelt sein, damit die Parlamente bis zum Austritt Ende März 2019 zustimmen können. Dass es eng wird, haben sich die Briten selbst zuzuschreiben. Mit der Fehlentscheidung, Neuwahlen anzusetzen, hat Premierministerin Theresa May ein Vierteljahr verschenkt. Zudem hat sie es versäumt, Wähler und Parlamentarier auf die Zumutungen vorzubereiten, die der Brexit mit sich bringen wird. Das macht eine schnelle Einigung mit Barnier jetzt schwierig. Nützlicher als nebulöse Positionspapiere wäre eine klare Ansage Mays gewesen, dass der Austritt, wie alles im Leben, einen Preis haben wird und die Regierung diesen zu zahlen bereit ist.

Das mit dem Preis ist zum Teil durchaus wörtlich zu verstehen. Die EU fordert für eingegangene Verpflichtungen aus der Vergangenheit und Pensionslasten der Brüsseler Beamten eine happige Ausgleichszahlung; die Rede ist von 60 bis 100 Milliarden Euro. London ist zu einer Überweisung bereit, aber nicht in dieser Höhe. Mays Spielraum ist begrenzt. Ist sie zu nachgiebig, werden die EU-Feinde in ihrer konservativen Fraktion rebellieren. Das ist gefährlich, schließlich ist Mays Mehrheit im Parlament relativ knapp.

Ein Beispiel aus Skandinavien könnte den Briten als Prototyp dienen: Norwegen!

Selbst wenn die dortigen landwirtschaftlichen Betriebe klein sind und die Vegetationsphase kurz: Norwegen hat eine lange landwirtschaftliche Tradition. Deren Produktivität könnte mit dem Ertrag anderer EU-Staaten nicht mithalten.

Das ganze Land soll genutzt werden, die Ressourcen den Menschen vor Ort zugutekommen. Das war sicher einer der Gründe für das „Nein!“ bei der EU-Abstimmung 1994, auch weil es mit der EU-Fischereipolitik nicht passte. Den Landwirten, zum Beispiel, gibt der Staat Geld, damit sich auch Anbau in Bergen, an Fjorden und auf kleinen Flächen lohnt.

Die Landwirtschaft und die Fischerei – Norwegen ist eine der größten Fischereinationen der Welt – werden durch das Wirtschaftsabkommen geschützt. Unter anderem ausländische Molkereiprodukte werden mit Schutzzöllen belegt – der Verbraucher soll nach einheimischem Käse greifen.

Aber das Abkommen kostet. Die Norweger zahlen pro Jahr rund 391 Millionen Euro, unter anderem um an EU-Programmen teilzunehmen, wie etwa bei Forschung und Innovation. Ein anderer Teil des Geldes geht an die Zusammenarbeit von Polizei und Justiz im Schengenraum. Doch die Norweger können es sich leisten – dem Öl sei Dank, und für die Wirtschaft scheint dieser Deal geradezu notwendig: Schließlich exportiert Norwegen etwa 80 Prozent seiner Waren in EU-Länder, und beim Import kommen mehr als die Hälfte aller Waren aus der EU. Neben ihrem finanziellen Beitrag beinhaltet das Abkommen auch, dass sich die Norweger in vielerlei Hinsicht dem EU-Recht beugen: Pro Tag übernimmt das Land durchschnittlich etwa fünf EU-Gesetze – ohne großes Mitspracherecht. Großbritannien würde das niemals akzeptieren.

Die Briten wollen kein ähnliches Abkommen über den europäischen Wirtschaftsraum wie Norwegen. Das Parlament und die Regierung verlieren an Einfluss, nämlich an die Bürokraten in Brüssel. Unter anderem ein Grund für den Brexit …

Dann wäre da noch die Zuwanderung – heißes Thema in der Abstimmung um den Brexit – sowohl mit Blick auf EU-Ausländer als auch auf Flüchtlinge. Am Binnenmarkt teilzunehmen bedeutet auch, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit gilt. Das heißt, EU-Bürger/-innen haben Zugang zum norwegischen Arbeitsmarkt.

Als Mitglied des Schengenraums hat Norwegen 2015 pro Kopf mehr Flüchtlinge aufgenommen als die Briten. Man braucht eine sehr gute Zusammenarbeit bei den Grenzkontrollen, und das geht am besten auf EU-Ebene.

Es wird Großbritannien nicht im Alleingang gelingen, Einwanderung wirkungsvoll zu kontrollieren.

 

Ein Reiterstandbild von Wilhelm dem Eroberer. Die normannische Kultfigur hat keine Arme, kein Gesicht und nur ein Bein. Es ist eine moderne Skulptur, geschaffen vom Schlossherrn, Jean-Marc de Pas.

Weniger bekannt ist, wer vor Langem der Vorbesitzer war: Pierre le Pensant de Boisguilbert (1646–1714), ein direkter Vorfahre des Bildhauers. In Frankreich ist der Mann kaum bekannt und jenseits der Grenzen erst recht nicht. Dabei war Boisguilbert einer der wichtigsten Vordenker der Ökonomie und einer der ganz frühen Wirtschaftsliberalen, lange Zeit vor Adam Smith. Karl Marx, der die Wirtschaftsgeschichte bestens kannte, bezeichnete den Franzosen zusammen mit dem Engländer Sir William Petty als Mitbegründer der klassischen politischen Ökonomie.

Frankreich hat den Ruf, schon immer auf das Modell einer staatlich organisierten Volkswirtschaft gesetzt zu haben. Der Minister Jean-Baptiste Colbert (1619–1683) des Sonnenkönigs Ludwig XIV. legte die Wurzeln für diesen Ansatz. Er modernisierte den französischen Staat, erweiterte und verschärfte die Regulierung, gründete Manufakturen und trieb so die französische Version des Merkantilismus voran, die den Export auf Kosten der Nachbarländer in den Vordergrund stellte. Die strikte Hierarchie unter der Allmacht des absolutistischen Königs ließ den Einzelnen wenige Freiräume. Mit der Französischen Revolution endete die starre Ständeordnung, doch die Philosophie des Gesellschaftsvertrages von Jean-Jacques Rousseau legte eine neue Grundlage für die starke Rolle des Staates. Von Beginn des 20. Jahrhunderts an sorgten zudem Kommunisten, Sozialisten, die Gewerkschaftsbewegung und später der Gaullismus für eine weitreichende Abkehr vom Liberalismus.

Liberale Epochen gab es immer wieder. Das 19. Jahrhundert war auch in Frankreich weitgehend eine Zeit des freien Wirtschaftens. Als Bismarck in Deutschland eine landesweite Sozialversicherung einführte, lehnten dies die Franzosen zunächst ab, weil sie an ihren zahlreichen Genossenschaften festhalten wollten. „Der deutschen Rasse die autoritäre Lösung, die auf dem Staatssozialismus fußt, der romanischen Rasse die liberale Lösung, die auf dem Teilen und der Freiheit beruht“, schrieb Emile Cheysson.

Für diese liberalen Lichtblitze gibt es Vordenker. Sie tragen Namen wie Boisguilbert, de Gournay, Turgot, Bastiat und Tocqueville. Frankreich blickt auf eine lange Tradition des wirtschaftsliberalen Denkens und Handelns. Die verbreitete Annahme, den Wirtschaftsliberalismus hätten schottische und englische Denker wie Adam Smith, David Hume und John Locke erfunden, ist unvollständig. Die französische Vorliebe für wirtschaftliche Freiheit ist auch nicht überraschend, wenn man sich an große liberale Leistungen wie die erste Hälfte der Französischen Revolution erinnert. Politische und wirtschaftliche Befreiung gingen damals Hand in Hand.

Fast hundert Jahre zuvor hatte Boisguilbert wichtige Vorarbeiten für die Idee der freien Preisbildung, der Senkung von Handelsschranken und der allgemeinen staatlichen Zurückhaltung geleistet. Von seinem Anwesen aus, sowie in der Region um Rouen, hat er sie teilweise umzusetzen versucht. Seine Plädoyers bei verschiedenen Finanzministern des Sonnenkönigs blieben zwar erfolglos, doch Boisguilberts Veröffentlichungen erzielten Wirkung. Adam Smith ließ sich später davon wahrscheinlich inspirieren. Auf einer fast zweijährigen Reise durch Frankreich erhielt Smith entscheidende Anregungen, etwa in freimütigen Debatten der Pariser Salons.

Im 19. Jahrhundert wirkten in Frankreich wichtige liberale Ökonomen wie Jean-Baptiste Say (Saysches Theorem) oder Frédéric Bastiat. De Gournay prägte den Ausruf: „Laissez-faire, laissez-passer“. Die französische Zeitschrift „Journal des Économistes“ wurde eine Bibel für liberale Ökonomen. Alexis de Tocqueville schrieb nicht nur über die Demokratie in Amerika, sondern kämpfte auch für individuelle Freiheit, politische Gleichheitsrechte und Dezentralisierung.

Mit der Zeit, vor allem im 20. Jahrhundert, ging diese Tradition jedoch verloren. Die Antiliberalen gewannen vor allem in der Periode zwischen 1936 und 1946 die Oberhand, als zuerst die linke Volksfront-Regierung per Wahl an die Macht gelangte und dann 1940 die Besetzung durch die Deutschen erfolgte. Die Kommunisten eroberten durch ihren Kampf in der Résistance die Herzen vieler Franzosen. Von 1946 an setzten sich Denkschemata durch, besonders bei den Intellektuellen, die im besten Fall die liberale Vergangenheit Frankreichs ignorierten, wenn nicht sogar lächerlich machten.

Heute sind diese historischen Spuren im Sand verlaufen. Eine neue Generation von Denkern ist herangewachsen, inspiriert unter anderem von der Start-up-Bewegung.

Die Abkehr vom Liberalismus ist nicht zuletzt daraus entstanden, dass die Intellektuellen den französischen Philosophen Michel Foucault falsch verstanden haben. Dennoch ist der Wandel in Frankreich nicht zu leugnen. Intellektuelle tauchten früher in den Debatten fast gar nicht auf, heute füllen sie bei öffentlichen Auftritten ganze Hallen und zieren bei Magazinen die Titelseiten.

So bekommt der Liberalismus in Frankreich wieder eine Chance.

 

Lieber Pierre,

das ist ein interessantes Thema, das du aufgreifst und ich habe mir dazu einige Gedanken gemacht bzw. versucht, mich in die Psyche eines Suizid-Attentäters einzufühlen. Zuerst einmal der grundlegende Fakt, dass es terroristische Akte schon seit Menschengedenken gibt und die Menschheit heute mit Sicherheit kein bisschen menschlicher geworden ist. Moderne Gesellschaftsmodelle, in denen Ethik, Gewissen, Wahrheit, Toleranz und Rücksichtnahme Usus sein sollten, versagen und nahezu täglich entsetzen uns Nachrichten über Selbstmordattentate und terroristische Gewalttaten. Nichts Neues, wenn man zurückschaut, denn immer hat es eines zur Grundlage: Der Gesellschaft und Menschheit unverhofft brutal ins Gesicht zu schlagen und zwar mit absoluter Aufmerksamkeitsgarantie der gesamten Weltöffentlichkeit. Und da haben wir einen entscheidenden Punkt: Aufmerksamkeit und eine Art Katapult in die märtyrerhafte Unsterblichkeit. „DAS kann die Welt nicht übersehen! MICH wird die Welt nie vergessen! Sie schauen ALLE hin!“, könnten die Gedanken der Täter sein.

Einen Suizid-Attentäter als reinen Irren oder psychisch Kranken zu verurteilen, wäre zu einfach, denn es spielen mehrere Faktoren eine Rolle und erst das Zusammenspiel verschiedener Basiselemente lassen einen Menschen zum Selbstmord-Terroristen werden, der eine immense Lust am Töten einer möglichst großen Gruppe von Leuten hat. Es scheint, das – unter gewissen Bedingungen – in fast jedem Menschen die Fähigkeit schlummert, solch grauenvolle Dinge zu tun, denn von jung bis alt und ohne eingrenzbaren gesellschaftlichen Stand, gibt es ihn nicht… D E N speziellen Täter, der sich durch a) und b) auszeichnet. Die Grundlage ist auch nicht rein religiös zu sehen, wenngleich Gottheiten und religiöse Ideologien den Schlachtruf begleiten.

Du hast schon Recht, lieber Pierre, es ist eine innere Frustration, Wut, ein aufgebautes Feindbild, die Perspektivenlosigkeit, eine Haltlosigkeit in ethischen, familiären und gesellschaftlichen Angeln und ebenso eine hasserfüllte Haltung gegenüber dem Feindbild Westen. Daran sind wir allerdings nicht ganz unschuldig, wenn wir ehrlich sind. Schlechte Bedingungen, Krieg, Arbeitslosigkeit, Gewalt in den Heimatländern und viele andere Gründe spielen ebenso eine große Rolle. Frei nach dem Motto „Hier bin ich ein Nichts, hier spürt mich niemand, ich bin Mensch zweiter Klasse, unser Leben ist eh verkackt… usw. lassen einen jungen Mann Amok laufen, denn am Ende ihrer schrecklichen Taten haben sie die Garantie, dass sich JEDER erinnern wird und JEDER hinschaut und – wenn nun auch die religiöse Einstellung eine Rolle spielt – ist es der direkte Weg ins Paradies. Ein Leben jenseits dieses beschissenen Lebens in ihren Augen.

Die Bereitschaft junger Menschen, sich einer Terror-Organisation anzuschließen hat u.a. auch damit zu tun, dass sie schwer traumatisiert sind, aufgewachsen in Ländern, in denen sie politischer Gewalt ausgesetzt sind (vielleicht Jahrzehnte), zahlreiche Demütigungen und Verluste erlitten haben und keinen Sinn in ihrem Leben sehen. Sie haben keine gute Vorbildfunktion, an der sie sich orientieren können und manchmal ist der Hass sogar so stark, dass der eigene Vater oder ein Familienmitglied, welches sich in unsere Werte integriert und anpasst, der Feind ist, gegen den sich die Aggression richtet. „Mein Vater ordnet sich unter… er ist eine Puppe des Westens. Pfui, verachtenswert!“, wäre einer der möglichen Gedanken. Auch hier ist für diese jungen Menschen keine Vorbildfunktion, sie sehen den Vater als labilen Waschlappen, der seine eigene Kultur und die Werte seines Volkes beschmutzt. Ja, sie sind bereit, sich selbst zu opfern und besitzen keine Identität. Ihre Orientierung ist haltlos, ziellos, sinnlos. Der Ausweg ist, sich einer Gruppe anzuschließen, in der man was ist und einen besonderen Wert bekommt. Interessanterweise würden sich die Drahtzieher niemals selbst in die Luft sprengen oder an die Front gehen, sie bleiben im Hintergrund und suchen ihre willenlosen Opfer im Internet oder rekrutieren sie mit anderen Versprechungen. Wer „ausgewählt“ wird, gehört dazu und man kümmert sich… mit dem Ziel, der verhassten West-Welt einen Dolch ins Herz zu stechen. Tragische Wiederholung der Geschichte der Menschheit, die noch niemals Frieden gefunden hat und auch niemals wird. Suizid-Terroristen sind verlorene Zombies, denen man nie einen Sinn im Leben gegeben hat, die nie das Gefühl hatten, gebraucht zu werden, geehrt zu werden und geliebt zu werden. Junge Menschen, die ihre Erlösung und Aufgabe darin sehen, weiterhin Hass und Angst zu säen… so wie sie selbst es gewohnt sind. Kinder und Jugendliche sind das Produkt ihrer Gesellschaft und Werte. Wir dürfen dabei natürlich weder die Vorbilder vergessen, die in den Augen der Radikalen versagt haben noch diejenigen, die ihren eigenen Hass und ihre Wut in die Wiege des Kindes gelegt und weitervererbt haben. Beides ist richtig und beides ist eine der Grundlagen, warum junge Menschen (und es sind in der Regel junge Männer) zu Suizid-Terroristen werden. Sie haben niemals gelernt, wer ihr Gegenüber wirklich ist und was Mensch-Sein bedeutet. Schlimm nur, dass sie ihre Religion allzu oft für brutale Terrorakte missbrauchen und vergewaltigen, die sicher nicht schuld ist – sondern immer n u r der Mensch selbst! Doch wir sind im Herzen immer noch Krieger und gar nicht so weit entfernt vom Neandertaler, wie wir immer glauben, stimmt´s lieber Pierre?

Eine Annahme, dass diese schrecklichen Dinge weniger werden könnten, ist eine Utopie und es gibt Gesellschaften und Kulturen, die sich nicht verbinden lassen. Zivilisation ist einfach nur ein moderner, geschaffener und idealisierter  Begriff der westlichen Welt. Doch schaut man auch hier hinter die Fassade der aufgeblasenen Wohlstands-Menschen, lege ich nicht meine Hand dafür ins Feuer, das – unter bestimmten, schlechten, gefährlichen, extremen Situationen – der Hass ebenso ausgelebt würde. Nur haben wir die besseren Karten, was die Aufzucht unserer Jungen anbelangt und dürfen danke sagen, dass wir noch! in relativem Frieden und in Freiheit leben können. Fraglich, wie lange – in einer Welt, in der 1% der Bevölkerung reich sind, die anderen arm und ärmer… und wenn dem bestehenden Materialismus nicht Grenzen gesetzt werden, bleibt umso mehr Unzufriedenheit, Frustration und Hass.

Schaffe eine gesunde Grundlage für die Entwicklung der zukünftigen Generationen und es könnte entspannter werden. Aber ich träume wieder mal…

 

in diesem Sinne,

eine herzliche Umarmung

Petra

 

© Petra M. Jansen

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