Reichsaußenminister Walther Rathenau wird von der Organisation Consul ermordet. Das britische Völkerbundsmandat für Palästina beginnt. Mit dem Marsch auf Rom der Schwarzhemden von Benito Mussolini beginnt die faschistische Herrschaft in Italien. Howard Carter entdeckt das Grab von Tutanchamun …
Hundert Jahre her ist das. Heute: 2022. Wie geht es uns? Hatten die Menschen damals unsere Sorgen? Schlimm heutzutage: Klimawandel, ja, sagen wir zum Teil schon Klimakatastrophe. Diese in Vergessenheit geraten aufgrund des dritten Jahres mit Corona. Egal, ob wir Corona überstanden haben, das wird sich im Herbst zeigen. Die
Affenpocken sind schon unterwegs …
Ja, und last but not least: Putins „Blitzkrieg“ in der Ukraine, der jetzt fast schon drei Monate währt mit all dem Leid und der Zerstörung. Was ist schlimmer: die heutige Situation oder die vor 100 Jahren? Kann man das überhaupt vergleichen? Vergleichen ja, gleich ist die Situation natürlich nicht. Im Jahr 2122 wird es wieder anders sein, wenn es uns Menschen dann noch gibt.

Einige Ausschnitte für April 1922
Beginn der Konferenz in Genua
Größtes Kino Deutschlands wird in Köln eröffnet
Rapallo-Vertrag zwischen Russland und Deutschland Mai 1922
Vertrag über den Korridor Polen und Deutschland wird geschlossen
Der Deutsche Evangelische Kirchenbund wird geschlossen
Wassily Kandinsky wird Lehrer am Weimarer Bauhaus

1922 begann mit einer Papstwahl. Nach dem Tod von Benedikt XV. wurde der Erzbischof von Mailand, Kardinal Ratti, zum neuen Kirchenoberhaupt gewählt. Unter dem Namen Pius XI. trat er sein Amt an. Die Kommunistische Partei der Sowjetunion wählte ebenfalls: Josef Stalin wurde ihr Generalsekretär. Kurze Zeit später kam es zwischen Russland und Deutschland zur Unterzeichnung des besagten Vertrages von Rapallo. Trotz aller Machtbefugnisse, die Adolf Hitler in der NSDAP zugestanden worden waren, hatte er in diesem Jahr den Bogen überspannt. Seiner aufrührerischen Äußerungen wegen musste er eine vierwöchige Haftstrafe antreten. Von großer Tragweite war die offizielle Gründung der Sowjetunion. Der Text des Deutschlandliedes, das Reichspräsident Friedrich Ebert zur
Nationalhymne des Deutschen Reiches erklärte, hatte bereits einen bitteren Beigeschmack: „Deutschland, Deutschland über alles…“.

1922, eine Interimszeit. Weimar, Demokratie, neue Hoffnungen. Und dennoch, wie oben gesehen: der Samen für die zukünftige Katastrophe begann bereits zu keimen. Naivität, Dummheit? Die Deutschen kamen aus dem Kaiserreich, die die Ahnung hatten in der Politik – bzw. hätten haben können – waren preußische Junker und Lobbyisten. Wer kurzfristig nicht mehr zeitgemäße Pfründe sichern möchte, zahlt mittel- bis langfristig mit einer Katastrophe. Gerade im Ukrainekrieg brauchen wir heute Fingerspitzengefühl.

Hast Du gerade auch das Gefühl, überfordert zu sein? Die Coronakrise begleitet uns seit zwei Jahren und nun findet auch noch ein Krieg mitten in Europa statt. Mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine hat sich die Stimmung im Land deutlich verändert. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges gab es auf dem europäischen Kontinent keine Kriege in diesem Ausmaß mehr und das hat auch Auswirkungen auf die Befürchtungen der Bevölkerung. In anderen Weltregionen gibt es auch schon seit Längerem Krisen und Konflikte. Nach über zwei Monaten Krieg wiederholen sich die Bilder der Flüchtenden, der verkohlten Fassaden in Städten, deren Namen viele bisher gar nicht kannten. Das kann noch Monate so gehen. Gespendet hat man schon, demonstriert auch. Diskussionen kreisen stets um dieselben Themen. Nato nein, Hilfe ja, Putin furchtbar, Russlands Kultur bedeutend, die Bevölkerung leider irregeleitet. Was soll man schon machen? Einkaufen, Kochen, Umschalten von Nachrichten auf Spiel- oder Naturfilm. Daher kann man nur hoffen, dass nichts aus Versehen geschieht, das kann in einem Krieg jederzeit vorkommen. Was die Atomwaffen betrifft: Wir haben in einer Art Apokalypse-Blindheit gelebt und das Vorhandensein dieser Waffen verdrängt. Wir haben so gelebt, als ob da nichts passieren könnte. Man kann wirklich nur hoffen, dass Drohungen in diese Richtung Bluff sind und dass nichts geplant wird. Dass das Ziel „nur“ ist, den Westen abzuschrecken. Sicherlich können wir uns mit taktischen Überlegungen beruhigen, dass Putin nicht das Land verseuchen würde, dass er einnehmen will. Ob das so kommt, wissen wir nicht. Die Angst ist real …
Demonstrieren gehen, mit Geld helfen oder indem man Wohnraum zur Verfügung stellt. Große Demonstrationen beeindrucken. Es gibt uns allen das Gefühl, nicht allein zu sein – und wer weiß, vielleicht gibt es auch in Russland Menschen, die es mitbekommen. Man soll Menschen unterstützen, soweit einem das möglich ist. Es geht nicht darum, sich bis zum Burnout völlig aufzuopfern. Aber indem wir jetzt andere unterstützen, helfen wir auch uns selbst. Im Hinterkopf aber bleibt dieses Gefühl der Ohnmacht, nicht genug getan zu haben oder tun zu können. Emotionen wie Hass erwachsen aus Angst: Wie kann Putin es wagen, die Welt zu tyrannisieren?! Wie oft ertappe ich mich dabei, diese Endlosschleife immer und immer wieder anzuschauen ob des Entsetzens, was gerade bei unseren Nachbarn passiert. Dabei soll ein bewusster Umgang mit Medien helfen können, einen Weg aus der Angst zu finden. Wenn man sich regelmäßig und seriös über aktuelle Geschehnisse informiert, könne das das Gefühl von Überwältigung und Überforderung reduzieren. Die Dosis spiele hier eine wichtige Rolle: exzessiver Medienkonsum hält uns in einer Daueranspannung (Dr. Jörg Angenendt, uniklinik-freiburg.de, 18.03.2022). Zusätzlich sei es wichtig, auch den positiven Nachrichten bewusst Aufmerksamkeit zu schenken. Das kann die Angst mildern, weg ist sie nicht. Wir beschwören die Normalität. Menschen suchen Ablenkung, stürzen sich in Arbeit oder in ihre Hobbys, um nicht ständig an den Krieg denken zu müssen. Die Angst bleibt im Hintergrund virulent, solange der Krieg andauert.

Blickt man auf die aktuellen Debatten über das postfaktische Zeitalter, könnte man den Eindruck gewinnen, dass die politische Lüge ein komplett neues Phänomen sei. Tatsächlich aber sind Lügen in der Politik ein Dauerbrenner, man denke etwa an Watergate (1970er Jahre), die Barschel-Affäre (1980er), den Lewinsky-Skandal (1990er) oder an die Begründungen für den Irak-Krieg (2000er). Das veranschaulicht auch eine Umfrage von 1998: Bereits damals unterstützten 57 Prozent der Befragten in Deutschland die Aussage Die Politiker scheuen sich nicht, Tatsachen zu verdrehen oder zu beschönigen, um dadurch die Wahlen zu gewinnen“ (Stefan Marschall für „Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de“). Politische Kommunikation ist in erster Linie strategische Kommunikation. Es geht im
politischen System nicht um das Finden von Wahrheit, sondern um die Machtfrage (Niklas Luhmann).

Geheimhaltung und Täuschung – was die Diplomaten Diskretion oder auch die arcana imperii, die Staatsgeheimnisse, nennen –, gezielte Irreführungen und blanke Lügen als legitime Mittel zur Erreichung politischer Zwecke kennen wir seit den Anfängen der überlieferten Geschichte. Wahrhaftigkeit zählte niemals zu den politischen Tugenden, und die Lüge galt immer als ein erlaubtes Mittel in der Politik. Wer über diesen Sachverhalt nachdenkt, kann sich nur wundern, wie wenig Aufmerksamkeit man ihm im Laufe unseres philosophischen und politischen Denkens gewidmet hat (humanistische-union.de): einerseits im Hinblick auf das Wesen des Handelns und andererseits im Hinblick auf unsere Fähigkeit, in Gedanken und Worten Tatsachen abzuleugnen. Diese unsere aktive, aggressive Fähigkeit zu lügen unterscheidet sich auffallend von unserer passiven Anfälligkeit für Irrtümer, Illusionen, Gedächtnisfehler und all dem, was man dem Versagen unseres Denkens anlasten kann. Die eigentlichen Lügen sind dabei nur ein Teil des Problems; das größere ist das Verwischen der Wahrheit hinter „Bullshit“ (Harry G. Frankfurt, On Bullshit, Princeton 2005) bereits Ende der 1980er Jahre analysierte. Wer lügt, muss die Wahrheit kennen, die Tatsachen als Referenzsystem im Auge behalten. Damit behält die Wahrheit letztendlich ihre Gültigkeit. Dem „Bullshitter“ hingegen, und das hält Frankfurt für wesentlich, ist die Wahrheit gleichgültig; er nimmt es mit ihr und den Fakten einfach nicht genau. Ihn interessiert nicht, wie es in „Wirklichkeit“ ist. Ihn interessiert nur, mit seinen Behauptungen durchzukommen. Er biegt sich alles so hin, wie er es braucht, um zu kaschieren, was er im Schilde führt. Er verwischt die Tatsachen als Referenz und untergräbt damit die politische Kultur einer Demokratie, die auf die Unterscheidung von wahr und falsch angewiesen ist. Es gibt wohl keinen Fall, bei dem die Politik als Vollstrecker absoluter Wahrheiten auftritt, seien sie religiöser, wissenschaftlicher oder weltanschaulicher Provenienz. Das bedeutet keineswegs, dass der Unterschied von Wahrheit und Lüge im Bereich des Politischen irrelevant wäre. In der politischen Auseinandersetzung geht es um begründete Meinungen. Sie beruhen auf der unterschiedlichen Bewertung von tatsächlichen Ereignissen und Sachverhalten, also von „Tatsachenwahrheiten“. Den Unterschied zwischen Tatsachen und Meinungen zu verwischen ist „nicht weniger schockierend als die Resistenz der Menschen gegen die Wahrheit überhaupt“, soweit sie ihnen nicht in den Kram passt (Hannah Arendt, Wahrheit und Politik).Innerhalb des Bereichs menschlicher Angelegenheiten (hegt) jeder Anspruch auf absolute Wahrheit, die von den Meinungen der Menschen unabhängig zu sein vorgibt, die Axt an die Wurzeln aller Politik und der Legitimität aller Staatsformen“ (a.a.O.). Zum Nachdenken … Schönen Nachmittag!

Mit dem Begriff Zivilisation meint man die Entwicklung des Zusammenlebens von Menschen, die zu einem möglichst friedlichen und aggressionsfreien Miteinander führen soll. Eine Grundlage dafür ist die Achtung der Grund- und Menschenrechte. Ausdruck der Zivilisation ist die Ausbildung bestimmter Verhaltensweisen in einer Gesellschaft (z.B. Schamgefühl oder Peinlichkeitsschwellen oder aber auch das Gewissen). Ein zivilisierter Umgang miteinander bedeutet, dass man anderen mit Achtung und Würde gegenübertritt und dabei nicht beleidigend oder verletzend
handelt (politik-lexikon.at). Wissenschaft und Technik haben im Laufe der Zeit viele Neuerungen hervorgebracht,
die das Leben der Menschen verändert haben. Die medizinische Versorgung ist besser geworden, die Nahrung ist reichhaltiger, die Menschen leben länger. Wir wohnen geschützt in Häusern und können in Schulen und Universitäten eine Menge lernen, um wiederum wissenschaftliche und technische Neuerungen hervorzubringen. Wir
leben in einer geordneten Gesellschaft, wo jede Bürgerin und jeder Bürger Rechte und Pflichten hat. Und auch für den Umgang der Menschen miteinander gibt es bestimmte Regeln, die dazu beitragen sollen, in dieser Welt zurecht zu kommen.

Die sowjetische Form der Zivilisation war Anfang der 1990er Jahre abgestürzt. Die Nachkriegszeit schien vorbei und die neue Vorkriegszeit nicht in Sicht. Man kennt Francis Fukuyamas Formel vom „Ende der Geschichte“. Allzu lange hat dieser Zustand nicht gedauert. Und die Realität wird immer neu geboren. Die Welt hat sich seitdem so verändert, dass wir noch keine Instrumente haben, sie zu beschreiben. Es sind unterschiedlichste Denk- und Lebensmodelle wirksam. Vielleicht ähnelt das den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung, als die noch starke heidnische Antike dem ihr unbegreiflichen Christentum gegenüberstand. Es gibt weltweit viele Menschen, die in einer Welt leben, die von der Gegenwart durch einen Abgrund getrennt ist. In manchen Ländern sind solche Menschen gerade an der Macht. So auch in Russland unter Putin. Er mag natürlich denken, er würde das russische Imperium wiederaufbauen. Diese anachronistische Idee ist auch unter westlichen Experten populär. Man versucht zum Beispiel, die aktuelle Krise aus Russlands Entscheidung für die orthodoxe Kirche im 9. und 10. Jahrhundert zu erklären, und vergisst dabei, dass das die Kiewer Rus war, der ziemlich legendenbehaftete Ursprung der russischen und der ukrainischen Geschichte.

Die Menschen in der ehemaligen Sowjetunion hatten große Neugier auf die Welt draußen. Viele Russen haben das Land ab 1991 leichten Herzens verlassen, weil das Leben unverhofft frei und offen erschien. Heute weiß man, wir alle haben damals die Tatsache unterschätzt, dass Russland durch die seinerzeit siebzigjährige kommunistische Diktatur eines Teils seiner natürlichen Entwicklung beraubt worden war (Olga Martynova, nzz.ch, 26.04.2022). Das Land wachte 1991 nach der Lethargie auf und wähnte sich im 19. Jahrhundert. Der Ukrainekrieg bewegt sich in vielen Facetten und seiner Grausamkeit außerhalb jeglicher zivilisatorischer Regeln. Aufpassen muss man jedoch, dass man nicht in Russophobie verfällt. Russland hat eine Kultur, Regeln und eine Geschichte.Das Land war abgekoppelt vom Zug der Zeit. Das heißt nicht, dass man die verschütteten Pfeiler der dortigen Zivilisation nicht mehr ausgraben kann. Es gibt Schuldige für die begangenen Kriegsverbrechen; jene sind individuell zu
bestrafen.