Einerseits leiden wir unter grölenden Zeitgenossen à la Pegida. Sie reden sich ein, das Abendland vor dem Untergang zu retten. Andererseits behaupten manche, auch „Wissenschaftler“: Abendland sei Kampfbegriff der Islamfeinde. Beides ist geistiger Müll.
Unter der Geografie des Abendlands (Okzident) wird allgemein West-, Süd- und Zentraleuropa verstanden. Unsere Vorfahren – sie kamen vor ca. 45.000 Jahren – stammen aus Afrika; also nichts Christliches! Die abendländische Ideologie war schon früh herrisch und selbstherrlich. Während der Perserkriege, im fünften vorchristlichen Jahrhundert, nahm man es im antiken Athen so wahr: hier Demokratie, dort orientalische Despotie. Ist das heute anders?
Begonnen hat es mit den Perserkriegen. Das Morgenland stieß ins Abendland. Rund hundert Jahre später, im vierten vorchristlichen Jahrhundert, folgte der Gegenstoß: Vom Okzident kommend, überrollte Alexander der Große den Orient.
Bis heute lösten machtpolitische Zyklen und Wellen vom Abendland ins Morgenland und umgekehrt einander ab. Rom folgte Hellas. Auch Roms Reich zerfiel. Vom 8. bis zum 15. Jahrhundert drang der Orient als Islam nach Südwesteuropa (Iberien). Die Osmanen beherrschten Südosteuropa seit dem 14. Jahrhundert.
1529 sowie 1683 standen die Türken vor Wien. Sie wurden zurückgedrängt und verloren bis zum 20. Jahrhundert fast alle europäischen Territorien vornehmlich an die Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich. Ihre Reiche zerfielen, wie andere zuvor. Nach 1945, also durch die Entkolonialisierung und im Kalten Krieg, dominierten zwei andere quasi abendländische Mächte das Morgenland: die USA und die Sowjetunion.
Conclusio: Bis 1492 gehörte der Islam zu Südwest-Europa. Zu Südosteuropa gehört er seit dem 14. Jahrhundert.
Die christliche Gegenoffensive: Sie begann als „Reconquista“ Iberiens Mitte des 8. Jahrhunderts. Die Rolandsage um Karl den Großen ist ein frühes Zeugnis jener Epoche. „Muslime raus!“ war die Botschaft. Das mittelalterliche Gegenstück zum neuzeitlichen „Juden raus!“ folgte im kirchlich-christlichen, weniger christlich-barmherzig-milden und kaum jesuanischen Zeitalter der Kreuzzüge von 1096 an.
Christentum und Kirche sind nicht immer gleichzusetzen. So wenig wie Aufklärung und Toleranz. Der große Aufklärer Voltaire schwelgte gänzlich in antijüdischer und -muslimischer Polemik.
Schock für die „patriotischen Europäer“: Das Christentum stammt aus dem Morgenland. Und: Bis ins 4. Jahrhundert war das Abendland nicht nur heidnisch, sondern auch jüdisch. Lange bevor die Germanen Christen wurden, gab es in Europa Juden. Jahrhunderte vor den Kirchen standen in Germanien, Gallien und Britannien Synagogen.
Die heidnischen Abendländer wurden zudem nicht freiwillig zu Christen. Missionare wie Kilian und Bonifatius wurden von den Vorfahren des deutschen Michels ermordetet, und Karl der Große taufte um 800 die Sachsen auf seine Art: blutig! Und heute? Wo ist das Abendland noch wirklich christlich? Überspitzt könnte man Deutschland – besonders im Osten – „Heidenrepublik“ nennen. Ähnliche Säkularisierungsbewegungen gibt es in Italien und Spanien.
Die jüngere Demografie des Abendlandes zeigt Ähnliches: Nach der Unabhängigkeit Indiens und Pakistans im Jahr 1947 strömten zahlreiche Muslime ins einst wenig geliebte britische Mutterland.
Ähnlich verlief der allmähliche bevölkerungspolitische Wandel Frankreichs. 1956 wurden Marokko und Tunesien souverän, 1960 folgten 18 Staaten Afrikas, 1962 Algerien.
In die Niederlande kamen Muslime zuerst aus Indonesien, das 1949 seine Unabhängigkeit erkämpft hatte.
Deutschlands demografischer Fundamentalwandel begann anders. Von 1961 an, nach der Errichtung von Mauer und Stacheldraht, fehlten Arbeitskräfte aus der DDR. Vorwiegend Türken und Italiener wurden als Gastarbeiter „importiert“ , was nicht nur die erste Generation frustrierte.
Die Entchristlichung des Abendlands ist eine Tatsache. Obwohl selbst verursacht, beklagen die Abendländer den Untergang des Abendlands durch dessen „Islamisierung“.
Die Kirchen haben versagt. Wer nicht weiß, weswegen Christen Weihnachten, Ostern und Pfingsten feiern, ist unfähig, mit Angehörigen anderer Religionen einen Dialog zu führen.
Wenn uns das dennoch gelänge, könnte sich vielleicht irgendwann ein „europäischer Islam“ entwickeln.