Eine Arbeitsgruppe mit 75 Mitgliedern soll die Details einer Verfassungsänderung formulieren, die Putin sich wünscht.
Kommt die Verfassungsänderung so, wie Putin sie angedeutet hat, bleibt der Kremlchef oberster Befehlshaber der Streitkräfte und behält das Recht, die Regierung zu entlassen. Das macht ihn zum mächtigsten Mann im Staat. So stark wie Präsident Putin aber soll er nicht werden können.
Bisher hat der Kremlchef den Premier ernannt, das dürfen künftig die Duma-Abgeordneten. Auch das Kabinett wird dann nicht mehr vom Präsidenten bestimmt, sondern vom Premier. Die Geheimdienstchefs und hohe Vertreter in Außen- und Verteidigungspolitik soll weiterhin der Präsident benennen, aber in Absprache mit dem Föderationsrat, der oberen Kammer des Parlaments.
„Die Würde des Menschen ist abzuschaffen“ – so oder ähnlich könnte die russische Verfassung künftig anfangen. Denn die von Wladimir Putin überraschend angekündigte Verfassungsreform bedeutet vor allem nur eines: Entwürdigung der russischen Bürger (faz.net).
Die eigentliche Intention der Veränderungen ist für jeden offensichtlich: Putin soll unbegrenzt lange an der Macht bleiben, und diese soll uneingeschränkt sein. Die Vorschläge umfassen den Abschied vom Primat des Völkerrechts, eine Umverteilung der Kompetenzen zwischen dem Präsidenten, der Regierung, dem Parlament und dem bisher in der Verfassung nicht verankerten Sicherheitsrat. Alles in allem handelt es sich um ein Machtsystem nach dem Vorbild Stalins: die eigentliche Macht soll außerhalb der formellen Ämter liegen; es soll irrelevant sein, welchen Posten der fast schon gottgleiche Führer offiziell bekleidet. Hauptsache, kein anderer Posten ist zu stark.
Das eigentliche Novum von Putins Vorstoß besteht darin, dass seine Diktatur nun eine ihr mehr entsprechende, von lästigen Resten der demokratischen Prinzipien befreite Verfassung bekommt. Die unliebsamen Richter wurden bisher durch Disziplinarverfahren aus ihren Ämtern gejagt, künftig sollen sie auch laut Verfassung ablösbar sein. Das Völkerrecht und somit die Entscheidungen der internationalen Gerichte, die Russland ohnehin schon konsequent missachtet, sollen künftig auch auf dem Papier nicht mehr bindend sein.
Da Putin 2024 abtreten muss und eine Verlängerung seiner Amtszeit wohl auf deutlichen Widerstand gestoßen wäre, schwächt er das Präsidentenamt und baut gleichzeitig neue Machtzentren auf. So hält er sich weiter alle Optionen offen, auch nach einem Vierteljahrhundert an Russlands Spitze an anderer Position weiter an der Macht zu bleiben.
Diesem Ziel ordnet Putin alles unter. Auch seinen alten Vertrauten Dmitrij Medwedjew lässt er fallen, um die eigene politische Zukunft abzusichern. Zwischen 2008 und 2012 saß Medwedjew als „Sesselwärmer“ (handelsblatt.com) für Putin im Kreml. Vor acht Jahren räumte der Jüngere seinen Platz freiwillig wieder, um Putin die Rückkehr zu ermöglichen.
Noch immer vage bleibt Putin in der Frage, ob die Amtszeit von Präsidenten neu geregelt wird. Das ist wichtig, denn Putin kann nur noch bis 2024 das Land führen. Die Verfassung schreibt vor, dass der Präsident nur zweimal hintereinander amtieren darf. Der 67-Jährige wurde im Mai 2018 wiedergewählt. Darüber gebe es „in der Gesellschaft“ bereits Diskussionen, sagte Putin. „Ich halte das nicht für ausschlaggebend. Aber ich stimme dem zu“ (welt.de). Er vermied damit erneut eine klare Aussage zu seiner politischen Zukunft.
Alles, was nach Putins Rede passierte, ist daher offensichtlich eine Kettenreaktion der bestehenden politischen Macht auf die überraschenden Ideen von Putin.
Die Neue Zürcher Zeitung (nzz.ch) legt ihren Fokus auf die Risiken, die mit dem Abgang Medwedews und der Verfassungsreform in Russland verbunden sind: „Dieser Schachzug zeigt, dass die aufgrund der Proteste des vergangenen Sommers nervös gewordene Kremlführung die öffentliche Meinung nicht völlig ignorieren kann. Das gilt auch für Putin persönlich, der zwar weiterhin fest im Sattel sitzt, aber mit seiner aggressiven Außenpolitik heute weniger zu punkten vermag als während der Euphorie über die „Heimholung“ der Krim.
Noch sehen viele Bürger in Putin die Verkörperung eines starken Russlands. Doch wenn sich die nun angestoßene Verfassungsreform als Operation zur reinen Machterhaltung entlarvt, droht er vor dem Hintergrund von wirtschaftlicher Misere, wachsender Repression und internationaler Isolation zu einem ganz anderen Symbol zu werden – zum „alternden Sinnbild von Stagnation und politischer Verknöcherung“ (md.de).