Wenige Stunden, nachdem Regierungs- und Militärvertreter den Abschuss einer ukrainischen Passagiermaschine mit 176 Personen an Bord eingeräumt hatten, versammelten sich Tausende vor mindestens drei Universitäten in Teheran, um der Opfer zu gedenken. An den Gittern vor den Universitäten hängten sie Bilder der Getöteten auf und zündeten Kerzen für sie an. Viele der 82 iranischen Todesopfer waren Absolventen von Teheraner Universitäten, die in Kanada ihre Studien fortsetzen wollten. Die 63 Kanadier stammten ebenfalls aus Iran.
Tagelang hatte Teheran mit Nachdruck behauptet, die Boeing 737-800 sei am Mittwochmorgen aufgrund eines technischen Defekts und eines Pilotenfehlers abgestürzt.Erst am Morgen des Samstag räumte die Regierung den Abschuss der Maschine mittels einer Flugabwehrrakete ein. Dabei machte sie ein „Versehen“ und „menschliches Versagen“ für die Katastrophe verantwortlich.
Die iranischen Revolutionsgarden übernehmen die Verantwortung für den Abschuss. Ein Soldat habe die Maschine für ein „feindliches Flugzeug“ gehalten und eine Rakete abgefeuert. Der Generalstab kündigte an, „der Verantwortliche“ für den Abschuss werde vor die Militärjustiz gestellt.
Wie die Nachrichtenagentur Fars berichtete, wurden die Demonstrationen und wütenden Proteste in Teheran am Samstag schließlich von der Polizei aufgelöst. Die Studenten hätten „schädliche“ und „radikale“ Sprechchöre gerufen, schrieb Fars, die den Konservativen in Iran nahe steht. Medienberichten zufolge war das Internet in mehreren iranischen Provinzen vor geplanten Gedenkveranstaltungen nach den Protesten abgeschaltet worden (faz.net).
US-Präsident Donald Trump hat Iran vor einer erneuten Niederschlagung von Protesten gewarnt. „Die Regierung Irans muss es Menschenrechtsorganisationen erlauben, zu beobachten und über die Fakten vor Ort bei den anhaltenden Protesten des iranischen Volkes zu berichten“, schrieb Trump am Samstag über Twitter. Der amerikanische Präsident sicherte den Demonstranten in Iran seine Unterstützung zu.
Alles sah nach dem Amtsantritt des iranischen Präsidenten Ruhani im Jahr 2013 ganz anders aus. Er versprach eine Versöhnung mit dem Westen und setzte zwei Jahre später dieses Versprechen mit dem Wiener Atomabkommen auch um. Politisch und wirtschaftlich war der Gottesstaat auf dem Weg, sich international wieder zu integrieren. Auch innenpolitisch sollte sich vieles ändern, besonders nach dem guten Abschneiden der Reformer bei der Parlamentswahl 2016. Sogar politische Gefangene sollten frei kommen und mehr Meinungs- und Pressefreiheit zugelassen werden.
„Aber dann kam dieser Trump“, sagt der ehemalige iranische Botschafter in Berlin, Ali Madshedi, heute im Rückblick (t-online.de). Erst veranlasste der Republikaner den einseitigen Ausstieg Amerikas aus dem Atomdeal, dann drakonische Sanktionen. Das ölreiche Land geriet plötzlich in eine schwere politische und wirtschaftliche Krise, die Währung war in kürzester Zeit nur noch die Hälfte wert. Der moderate Kurs des Präsidenten wurde schnell von Kritikern verspottet – und auch von eigenen Anhängern.
Der Abschuss einer Passagiermaschine, die überwiegend Iraner an Bord hatte und Menschen mit iranischen Wurzeln, ist ein innen- wie außenpolitisch ein Desaster für die Islamische Republik. Gerade hatte die Tötung des Revolutionsgarden-Generals Qassim Soleimani der Staatsführung um Chamenei erlaubt, die Reihen zu schließen. Millionen säumten bei den Trauerzügen die Straßen, und längst nicht alle, die sich über diesen Angriff empörten, waren glühende Anhänger des Regimes. Die Revolutionsgarden demonstrierten Stärke, feuerten 22 ballistische Rakete auf Militärstützpunkte im Irak gefeuert, die von den Amerikanern genutzt werden. Wehrhaftigkeit und die bedingungslose Bereitschaft, die Besten für den Schutz der Islamischen Revolution zu opfern, das ist der Mythos der Revolutionsgarden, der neues Feuer erhielt durch den Tod Soleimanis.
Am 21. Februar wählen die Iraner ein neues Parlament. Bislang konnten sich die Ultrakonservativen Hoffnungen machen, die Mehrheit in der Madschlis zu stellen. Das Regime hoffte nach dem Tod Soleimanis auf eine hohe Wahlbeteiligung, die es jenseits der Ergebnisse als Ausweis der Legitimität des politischen Systems wertet. Nun aber ruft der Abschuss den Iranern die Inkompetenz und das Missmanagement ins Gedächtnis, die viele dem Regime auch bei der Steuerung der maroden Wirtschaft anlasten. Der Abschuss erschüttert jene Reste an Vertrauen in das System, die sie vielleicht noch hatten.