In und um Nordkorea rumort es … Die Mittelstreckenrakete, die der nordkoreanische Diktator Kim Jong-Un neulich über die japanische Insel Hokkaido in den Pazifik schießen ließ, transportierte eine klare Botschaft: Nordkoreas Raketen – mutmaßlich eine Hwasong 12 – könnten die US-Pazifikinsel Guam erreichen, wenn Pyongyang es denn wollte. Mit anderen Worten: Kim verfolgt das Ziel, die USA abzuschrecken, ohne Präsident Donald Trumps rote Linie zu übertreten.

Der jüngst Raketenstart wurde von allen Nachbarn Nordkoreas scharf verurteilt, auch von China. Südkoreas Außenministerin Kang Kyung-Wha sprach mit ihren Kollegen in Washington und Tokio über mögliche Gegenmaßnahmen. Der UN-Sicherheitsrat forderte von Pjöngjang, sein „empörendes Verhalten“ sofort einzustellen.

Die Bedrohungslage hat sich indes kaum geändert. Nordkorea hat bisher nicht gezeigt, dass es den kontrollierten Wiedereintritt einer Rakete in die Atmosphäre bewältigen kann. Auch bezweifeln die meisten Experten, dass das Land in der Lage ist, einen Atomsprengkopf so zu verkleinern, dass er auf eine Hwasong 12 montiert werden kann.

Zudem ist unwahrscheinlich, dass Pjöngjang seine Raketen selbst entwickelt. Die Hwasong-12 tauchte quasi aus dem Nichts auf und wurde ohne Tests aus Gefechtsstellungen abgeschossen. Das legt den Verdacht nahe, dass die Rakete und andere Marschflugkörper heimlich eingekauft und höchstens in Nordkorea zusammengebaut wurde.

Das Regime in Pjöngjang weiß, dass es einen Krieg nicht überleben würde – womöglich nicht einmal die ersten paar Stunden. Kims eigenen Aussagen zufolge will Nordkorea die USA mit seinem Atomwaffenprogramm von jedem Versuch des Regime-Sturzes abschrecken.

Kang Sang-Jung, Politologe in Japan, ist überzeugt, dass das jämmerliche Ende des irakischen Diktators Saddam Hussein für die Kims ein traumatisches Erlebnis gewesen sei. Wohl nicht zufällig hieß es in nach dem Raketenstart in nordkoreanischen Medien: „Wir sind nicht Libyen, wir sind nicht der Irak“, die ganze Welt könne sehen, dass Atomwaffen ein wichtiger Pfeiler der Verteidigung Nordkoreas seien. Auch Trump plant wohl keinen Militärschlag, sonst würde er die Evakuierung der fast 200.000 US-Bürger zumindest vorbereiten, die in Südkorea leben. Und doch steigt mit jeder Provokation ein bisschen die Gefahr eines Krieges, den keiner will.

Worauf Kim letzten Endes baut, ist die Tatsache, dass die Amerikaner noch nie eine Nation angegriffen haben, die im Besitz von Atomwaffen ist. Kim läuft die Zeit davon. Innenpolitisch steht es nicht zum Besten. Das wissen wir spätestens seit Anfang des Jahres (n-tv.de). Was wäre, wenn zu dem außenpolitischen Schlamassel noch ein Volksaufstand hinzukäme? Erfahrungsgemäß geht ein in Armut und Unterdrückung gehaltenes Volk auf lang oder kurz auf die Barrikaden. Das lehrt uns die Geschichte. Die nordkoreanische Regierung verfügt offensichtlich über keine tauglichen Marschflugkörper. Man wird weiter testen und läuft damit augenscheinlich die Gefahr einer militärischen Auseinandersetzung. Testet Kim hingegen nicht weiter – was unwahrscheinlich ist – wird sein Volk die Chance des Umsturzes gekommen sehen, nimmt man den außenpolitischen Druck auf Nordkorea mit dazu.

Während der letzte Raketenabschuss wohl keine Eskalation darstellt, hat Pjöngjang die Lautstärke seiner Verbalattacken am Vorabend des Abschusses noch einmal hochgedreht. So verkündete ein Sprecher des Koreanischen Asien-Pazifik Friedens-Komitees: „Lasst uns das amerikanische Festland in Asche und Dunkelheit verwandeln“. Man weiß: Solche Töne lässt jemand wie Trump nicht gerne unbeantwortet.

Experten fürchten, dass Nordostasien in einen Krieg hineinschlittern könnte, wenn es nicht gelingen sollte, Nord- und Südkorea, die USA und China an den Verhandlungstisch zurückzubringen. Eines aber stimmt vorsichtig optimistisch: Trump lässt sich, anders als die Neokonservativen um George W. Bush, nicht von der Ideologie leiten, dass Demokratie exportiert und Nationen einfach so gegründet werden können.

An der Sicherheitskonferenz in Montreux soll es zu einem informellen Austausch zwischen einem ehemaligen Top-US-Diplomaten und einem hochrangigen Vertreter des nordkoreanischen Außenministeriums gekommen sein.

Die Konferenz fand vom 11. bis 13. September Montreux statt. Unter den 25 Teilnehmern waren Experten von Denkfabriken und Universitäten aus China, Südkorea, Nordkorea, der EU, Japan und der Mongolei.

Der Nordkorea-Konflikt lässt sich nur diplomatisch lösen. Vielleicht wurde hier der erste Schritt gemacht. Geht er schief, hat niemand „sein Gesicht verloren“. Einen Versuch war es wert.

Die Bundestagswahl rückt näher, das Volk wird zu den Urnen gerufen. Wir haben die Macht, sind aufgefordert zu entscheiden, wer uns die nächsten vier Jahre im Parlament vertreten wird. Im Internet geistert immer wieder der Begriff „Basisdemokratie“ herum. Was ist das eigentlich?

Basisdemokratie ist begrifflich eine Form der direkten Demokratie. Sie kommt in den meisten basisdemokratischen Konzepten im Gegensatz zur repräsentativen Demokratie ohne Repräsentanten aus, da alle relevanten Entscheidungen von den Betroffenen selbst durch „unmittelbare Beteiligung“ getroffen werden, entweder durch Abstimmung oder direkte Aktion (Wikipedia).

Ohne Frage ist das Internet das beherrschende Medium unserer vernetzten Welt. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für Demokratie und Staatlichkeit? Viele preisen das Internet als basisdemokratisches Medium. Jedermann kann Informationen ebenso schnell, wie unkompliziert, beschaffen und überprüfen. Über Facebook und Co. können User Meinungen kundtun, Gleichgesinnte finden, Kampagnen und Demonstrationen organisieren. Das Internet hat fraglos Einfluss auf die gesellschaftliche Meinungsbildung und den demokratischen Prozess. Das ist per se nicht schlecht.

Das Medium Internet greift auch in unsere verfassungsmäßige Demokratie ein. Die Digitalisierung dieser, unserer Demokratie braucht freiheitliche und rechtsstaatliche Regeln. Der Gesetzgeber muss dabei die Interessen von Einzelnen und ihre Rechte schützen und in einen Ausgleich bringen mit den Interessen der Allgemeinheit. Das gelingt beim Telemediengesetz und im Urheber-Wissensgesellschaftsgesetz deutlich schlechter als im Netzwerkdurchsetzungsgesetz. Für eine kohärente Regelung des digitalen Rechtsstaats braucht es mehr: vor allem das Verständnis, dass die Wertentscheidungen unseres Rechts auch in der digitalen Rechtssphäre ihre Geltung behalten. Die vornehmste Aufgabe des Gesetzgebers ist es, diese Grundwerte auch dort zur Entfaltung zu bringen.

Wenn in eineinhalb Wochen abgestimmt wird, dann geht es nicht nur um die Frage, wer nächste Bundeskanzlerin oder -kanzler wird. Die Demokratie an sich steht auf dem Spiel. Die Bürgerinnen und Bürger bestimmen die Politik der kommenden vier Jahre, sie legitimieren das staatliche Gefüge des Landes. Schon der Verdacht, jemand könne Einfluss auf das Wahlergebnis nehmen, muss ausgeschlossen werden. Wahlen in Deutschland ließen sich nicht hacken, versicherte der Bundeswahlleiter noch im Januar. Man habe die Bundestagswahl technisch so abgesichert, „dass sie gegen alle Manipulationsversuche geschützt ist“. Was ist aber, wenn das deutsche Wahlsystem doch Fehler hat?

Selten zuvor standen westliche Demokratien so unter Druck wie derzeit – nicht nur von innen. Auch die Bundesregierung fürchtet Manipulationsversuche. Immerhin ist der russische Geheimdienst bereits in den Bundestag eingebrochen, steht unter Verdacht, die Wahlen in den Vereinigten Staaten nicht unwesentlich beeinflusst zu haben. Man sei darauf eingestellt, dass Gruppen aus anderen Ländern wie Russland versuchen könnten, sich einzumischen, sagte Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) bei der Vorstellung des letzten Verfassungsschutzberichts.

Eine manipulierte Wahl – für die Demokratie ein Desaster! Wie kann es sein, dass ein basisdemokratisches Medium wie das Internet zum Beispiel über die Verbreitung von Fake News das Institut unserer verfassungsmäßigen Demokratie gefährdet?! Die Bundestagswahl ist im föderalen Deutschland dezentral organisiert. Die Ergebnisse werden vom Wahlbezirk zum Wahlkreis, dann an den Landeswahlleiter und von dort schließlich an den Bundeswahlleiter übermittelt. Die Verantwortung liegt bei Ländern und Kommunen. Sie haben Wahlsoftware angeschafft, mit der sie die Ergebnisse verwalten. Aber kein Programm ist so verbreitet wie PC-Wahl.

Mit Google finden sich Teile der Wahlsoftware, die nie hätten öffentlich werden sollen. Das Programm PC-Wahl, das es mittlerweile seit 30 Jahren gibt, wird nicht an Privatpersonen verkauft, sondern nur an Kommunen. Die restriktive Vergabe soll das Programm vor Angriffen schützen.

Ein Politiker in Rheinland-Pfalz klagte 2009 dagegen. Er wollte den Quellcode von PC-Wahl sehen, um verstehen zu können, wie das Programm Ergebnisse berechnet. Jeder Wähler, jede Wählerin sollte nachvollziehen können, wie Mehrheitsverhältnisse zustandekommen. Doch trotz Transparenzgebot hat nie eine offizielle Stelle den Quellcode von PC-Wahl gesehen, geschweige denn zertifiziert. Das Verwaltungsgericht Neustadt entschied, der Landeswahlleiter habe das ordnungsgemäße Funktionieren der Software geprüft, was genüge. Tatsächlich haben Wahlleiter bislang nur überprüft, ob die Software die Stimmen korrekt addiert. Niemand interessierte, ob das Programm an sich angreifbar ist.

Die digitale Welt ist neben die reale getreten. Wir bewegen uns in einem Universum, das wir zwar geschaffen haben, aber nicht in Gänze verstehen. Man muss sich heute ernstlich fragen, ob die Mehrheitsverhältnisse noch der Anzahl der Kreuze auf den Stimmzetteln entsprechen.

 

 

Deutschland ist nach einem Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Unterhauses des polnischen Parlaments immer noch verpflichtet, Kriegsreparationen an Polen für die Verbrechen im Zweiten Weltkrieg zu leisten. Die Rede ist von mindestens 840 Milliarden Euro. Es sei rechtens, dass die Republik Polen einen Anspruch auf Entschädigungen von der Bundesrepublik Deutschland erhebe, heißt es in dem 40-seitigen Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Parlaments. Die einseitige Erklärung der polnischen Regierung vom 23. August 1953 über den Verzicht auf weitere Kriegsreparationen habe nur für die DDR gegolten.

Zudem habe der damalige Beschluss des Ministerrates gegen die polnische Verfassung verstoßen, weil nicht der Ministerrat, sondern der Staatsrat für die Ratifizierung und Kündigung von völkerrechtlichen Verträgen zuständig gewesen sei. Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verjährten laut dem Völkerrecht nicht. Das Gleiche gelte für Entschädigungen für solche Verbrechen.

Polens Regierungschefin Beata Szydlo hatte Polens Anspruch auf Kriegsreparationen bekräftigt. Bevor Warschau offiziell eine Entschädigung fordere, solle zunächst das Sejm-Gutachten abgewartet werden, sagte sie.

Nach dem Krieg seien die von Deutschland verursachten materiellen Schäden am polnischen Staats- und Privateigentum auf 48,8 Milliarden Dollar geschätzt worden. Mehr als sechs Millionen polnische Staatsbürger seien umgekommen. Weitere rund zehn Millionen seien Opfer von deutschen Verbrechen und Terror geworden. Gemessen an der Bevölkerungszahl und dem Gesamtvermögen hat Polen im Zweiten Weltkrieg dem Gutachten zufolge die meisten Toten und die höchsten materiellen Verluste von allen europäischen Staaten zu beklagen.

Der Zeitpunkt des Vorstoßes ist bewusst gewählt, gedachte Polen doch neulich des Warschauer Aufstands von 1944, dessen Beginn sich am ersten August zum 73. Mal jährte.

Die Siegermächte entschieden sich nach dem Zweiten Weltkrieg für einen pragmatischen Umgang mit den Kriegsschäden. So sammelten sie Reparationsforderungen zahlreicher Länder, klagten diese aber nicht vollständig ein. Sie bezweckten damit, eine ähnliche Entwicklung wie nach dem Ersten Weltkrieg zu verhindern, als fast grenzenlose Entschädigungsansprüche der Sieger Deutschland erniedrigten und in den Ruin trieben. Dies trug maßgeblich zum Aufstieg Hitlers bei.

Die wichtigsten Dokumente, die nach Kriegsende Entschädigungen regelten, waren das Potsdamer Abkommen von 1945 und das Londoner Schuldenabkommen von 1953. Ersteres hielt fest, dass die Sowjetunion ihre Reparationsansprüche durch „Entnahmen aus der von der UdSSR besetzten Zone in Deutschland und durch angemessene deutsche Auslandsguthaben“ befriedigen und daraus auch Polen entschädigen solle.

Die Sowjets demontierten einen großen Teil der Industriebetriebe und der Schieneninfrastruktur in Ostdeutschland. Außerdem schlugen die Siegermächte die deutschen Ostgebiete Polen zu, das allerdings sein eigenes östliches Staatsgebiet an die Sowjetunion abtreten musste. Vor diesem Hintergrund gelang es dem deutschen Unterhändler, die Forderungen der Gläubigerländer 1953 im Rahmen des Londoner Schuldenabkommens auf 14 Milliarden Mark herunterzuhandeln. Die Sowjetunion beendete im gleichen Jahr den Abtransport der Infrastruktur der DDR. Die polnische – allerdings durch die Sowjets eingesetzte – Regierung verzichtete auf weitere Reparationsforderungen.

Geregelt waren die Entschädigungsforderungen damit nicht. Vielmehr wurde die Frage der Reparationen vertagt bis zum Abschluss eines definitiven Friedensvertrags. In der Folgezeit gab es eine Reihe von Regelungen an seiner statt. So erkannte Deutschland 1970 im Rahmen des Warschauer Vertrags die neue Ostgrenze zu Polen an. Am Rande der Verhandlungen über den deutsch-polnischen Freundschaftsvertrag vom 17. Juni 1991 beschlossen die beiden Länder zudem zusätzliche Zahlungen Deutschlands an seinen Nachbarn und ehemalige Zwangsarbeiter über 2,5 Milliarden Mark.

Das entscheidende Abkommen war allerdings der „Zwei-plus-Vier-Vertrag“, der im März 1991 in Kraft trat. Dieser wurde explizit anstatt eines Friedensvertrags abgeschlossen und regelte ausstehende Reparationsansprüche. Da nur die Großmächte sowie die Vertreter der beiden Deutschland am Tisch saßen, argumentieren polnische, wie auch griechische, Politiker mehrfach, sie hätten keine Stimme gehabt. Dies ist allerdings nicht ganz korrekt, konnte Polen doch seine Forderungen bei den Vorbereitungen zu den Verhandlungen durchaus einbringen.

Es ist aber zu bedenken, dass Polen in dieser Zeit als unabhängiger Staat erst begrenzt handlungsfähig war, befand es sich doch mitten im Prozess der Loslösung von der Sowjetunion. Aus der sowjetischen Besetzung speist sich das weitere Argument der nationalkonservativen Politiker, heute wieder Reparationen zu fordern: Polen habe unter sowjetischem Einfluss keine andere Wahl gehabt habe, als den Schuldenverzicht 1953 zu akzeptieren.

Die WELT fragt: „War das Zeus, der vom Himmel gestiegen ist? Oder der Wiedergänger André Malraux’, des französischen Schriftstellers und Kulturministers, der anlässlich der Einweihung der Beleuchtung der Akropolis 1959 die Ehre hatte, eine große Rede zu halten?“.

Sicher ist eines: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat es nicht mit den kleinen Gesten.

Bei seinem Besuch in Athen hat er zu einer Neugründung Europas aufgerufen. Dazu müsse die EU „demokratischer und souveräner“ werden, sagte Macron bei einer Rede vor der Akropolis.

Andernfalls werde der Staatenverbund auseinanderbrechen, warnte er. Der Prozess dazu müsse bald eingeleitet werden: Sechs Monate lang sollten die europäischen Völker über die Zukunft Europas beraten und reden.

Danach müsse offen politisch entschieden werden. Der Neugründungsprozess solle nach Macrons Ansicht in Athen, der Wiege der Demokratie, beginnen. Das klingt zunächst gut, mutig – und hat einen historischen Anknüpfungspunkt. Es ist Macron gelungen, sich bei seiner Rede vor der Akropolis wirksam in Szene zu setzen.

Nicht hinter verschlossenen Türen! Der Prozess dazu müsse bald eingeleitet werden: Sechs Monate lang sollten die europäischen Völker über die Zukunft Europas beraten und reden, sagte er. Danach müsse offen politisch entschieden werden, „nicht hinter verschlossenen Türen“. Der Neugründungsprozess sollte in Athen, der Wiege der Demokratie, beginnen, fügte er hinzu.

An die Jugend Europas gewandt sagte er: „Die Eule von Athen schaut leicht nach hinten. Tun Sie es nicht – schauen Sie nach vorne.“

Bürokraten und Technokraten hätten den Sinn Europas verdreht. Jungen Griechen wurde vor wenigen Jahren versprochen, die Sparmaßnahmen würden bald ihr Leben verbessern. „Was erleben sie heute? Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit“, sagte Macron. Ein solches Europa wolle niemand haben.

Der Nationalökonom und Finanzwissenschaftler Hans Werner Sinn hingegen erklärte Anfang letzten Monats, Macron lege es auf ein Europa der zwei Geschwindigkeiten an. Dies teile den Kontinent quer durch Mitteleuropa und mache Deutschland zum „Anhängsel und Zahlmeister einer neuen lateinischen Münzunion“, so Sinn.

So wolle Emmanuel Macron seinem Land Entbehrungen ersparen, wobei er den Schulterschluss mit Deutschland suche, so der Ökonom weiter. Das sei offenbar einfacher, als die darniederliegende Industrie aus eigener Anstrengung wieder fit zu machen.

Macron wolle außerdem für die Zukunft ein eigenes Parlament für die Euro-Zone mit eigenem Budget und mit einer eigenen Steuerhoheit – und der Möglichkeit, in gemeinsamer Verantwortung Schulden zu machen. Hinzu komme eine gemeinsame Einlagenversicherung für die Banken und eine Europäische Arbeitslosenversicherung, um damit „einen direkten Geldfluss vom Norden in den Süden zu organisieren“.

Nach Meinung des Kanzlerkandidaten Martin Schulz hat Macron „gute und sehr konkrete Vorschläge“ für die Reform der Europäischen Union unterbreitet, die „zum Teil auf Überlegungen aus dem EU-Parlament“ beruhten.

Für Macrons Idee eines eigenen Budgets für die Eurozone sei Schulz bereits als Präsident des Europäischen Parlaments eingetreten, hob der SPD-Politiker hervor. Damals habe Kanzlerin Merkel das „brüsk abgelehnt“. Nach der Wahl Macrons sei es „schön, dass bei ihr jetzt zumindest eine Bereitschaft zum Nachdenken festzustellen ist“.

Macron wollte diese Rede allen Sicherheitsbedenken zum Trotz auf dem Hügel der Pnyx halten, dort wo die Griechen den Staat und die Demokratie erfunden haben. Er wollte sie mit Beginn der Dämmerung halten, wenn die Hügel rings um Athen in ein rosafarbenes Licht getaucht sind, wenn die Zikaden noch zirpen, während jener blauen Stunde also, da alles möglich scheint, sogar die Neuerfindung einer so alten und inzwischen vielfach verratenen Idee wie Europa.

Viel Symbolik und Mystik, modern ausgedrückt: Show! Was bleibt sind Fragen: Wie will man das praktisch umsetzen? Wer soll das bezahlen? Wir als Zahlmeister? Drückt Macron sich nicht vor Reformen in Frankreich? Wenn diese beantwortet sind, reformieren wir „die alte Dame“ Europa!

„Wunschkonzert Europa“ … Darf man nationale Interessen gegen Pflichten innerhalb der europäischen Gemeinsamkeit durchsetzen und im Gegenzug Hilfen aus europäischen Fonds in Anspruch nehmen? Hat man nicht einen Teil staatlicher Souveränität an die Gemeinschaft abgegeben?! Eine Aufbereitung der altbekannten „Rosinentheorie“!

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat Ungarn und die Slowakei zur Aufnahme von Flüchtlingen verpflichtet. Die Regierungen in Budapest und Bratislava hatten Klage beim EuGH eingereicht mit der Begründung, dass der von der EU beschlossene Umverteilungsmechanismus im Widerspruch zur Gipfel-Erklärung der europäischen Staats- und Regierungschefs vom Juni 2015 stehe. Das wiesen die Richter nun zurück. Eine entsprechende von der EU beschlossene verbindliche Aufnahmequote sei rechtens. „Der Mechanismus unterstützt Griechenland und Italien dabei, mit den Auswirkungen der Flüchtlingskrise umzugehen“, hieß es in der Urteilsbegründung.

Die EU-Innenminister hatten im September 2015 beschlossen, zur Entlastung Italiens und Griechenlands bis zu 120.000 Flüchtlinge in anderen EU-Ländern anhand eines festen Verteilungsschlüssels unterzubringen. Die Entscheidung war gegen den Willen der beiden Länder sowie Rumäniens und Tschechiens gefallen.

Nach Ansicht dieser Länder untergräbt die Verpflichtung ihre staatliche Souveränität und gefährdet in Zeiten von Anschlägen die Sicherheit der Bürger. Dementsprechend nahmen Ungarn und die Slowakei auch so gut wie keine Flüchtlinge auf.

Den Beschwerden aus den Ländern waren nur geringe Chancen eingeräumt worden, nachdem der Generalanwalt am EuGH zuletzt eine Umverteilung innerhalb der EU empfohlen hatte. Er bezeichnete den Verteilungsmechanismus in seinem Schlussantrag vor dem EuGH in Luxemburg als „wirksam und verhältnismäßig“ und betonte den Beitrag, den die Umverteilung zur Bewältigung der Krise leiste.

Der rechts-konservative Ministerpräsident Ungarns, Viktor Orbán, war wegen seiner Haltung in der Flüchtlingsfrage bereits mehrmals mit anderen EU-Staaten sowie der EU-Kommission aneinandergeraten. Zuletzt präsentierte Orbán der Brüsseler Behörde eine Rechnung über 400 Millionen Euro für den ungarischen Grenzzaun, der Flüchtlinge abhalten sollte. Die EU solle die Hälfte der Kosten für den Bau und den bisherigen Betrieb der Sperranlagen an Ungarns Südgrenze übernehmen. Die EU-Kommission lehnte ab.

Kanzlerkandidat Martin Schulz hatte vor dem Urteil gesagt, dass er von Ungarn und der Slowakei erwarte, dass sie das EuGH-Urteil zur Verteilung von Flüchtlingen akzeptieren. Sollte der EU-Beschluss von 2015 über die Verteilung von Geflüchteten auf alle EU-Mitgliedstaaten rechtmäßig sein, dann hoffe er, dass die Verteilung auch stattfände, so der frühere Präsident des Europaparlamentes. Er sehe nicht, dass etwa Deutschland als größter Nettozahler den EU-Haushalt fülle, während die Staaten, die Geld aus dem Haushalt erhielten, entgegneten, „Flüchtlinge könnt Ihr für Euch behalten!“.

Eine Krisen-Sonderregelung im Vertrag von Lissabon erlaubte der EU gegen den Widerstand von vier Staaten, wenigstens ein Minimalangebot durchzusetzen. Das höchste europäische Gericht unterstrich in seinem Urteil jetzt aber, dass es sich um eine absolute Ausnahme vom Prinzip gehandelt habe, gerechtfertigt nur durch die damals herrschende Flüchtlingskrise.

Wie bitte soll sich Europa weiterentwickeln, wenn sich einzelne, nationalkonservativ eingestellte Regierungen offen über europäisches Recht hinwegsetzen wollen, wenn sie Rechtsstaatlichkeit mit ihrer Gewaltenteilung und Pressefreiheit infrage stellen?

Sanktionen sind kaum möglich, weil auch die einstimmig in der EU beschlossen werden müssen.

Die Flüchtlingspolitik ist in diesem latenten Meinungsstreit über die Zukunft des europäischen Einigungswerks nur ein Aspekt unter vielen. Das eigentliche Problem ist die unterschiedliche Ausrichtung:

Hier, im Westen, der Wunsch nach stärkerer Integration, dort, im neuen „Ostblock“, das Interesse an wirtschaftlicher Förderung ohne intensive politische Verschmelzung.

Mit dem Prinzip der Einstimmigkeit kommt die EU nicht vom Fleck.

Deshalb verteidigen paradoxerweise jene es am heftigsten, die Einmütigkeit am wenigsten wollen.

So manche(r) Neuwähler(in) wird sich jetzt fragen: „Wen oder was soll ich eigentlich wählen?“ oder „Soll ich überhaupt wählen gehen?!“. Für so manchen Zuschauer ist nach dem „TV-Duell“ nicht so recht klar, wohin der Weg der beiden Parteien bzw. Kandidaten führt. Fehlten doch klare Trennlinien.

Flashback: Manchmal wendet sich Frau Merkel bei ihren Antworten zuerst an Herrn Schulz und sagt: „Wir haben oft gedacht…-“ Spätestens da dürfte sich mancher Zuschauer fragen, ob Merkel wirklich gegen Schulz antritt oder ob die große Koalition gerade gemeinsam um ihre Fortsetzung wirbt. Schnell wird klar, dass sich im Berliner Adlershof zwei langjährige europäische (Außen-)Politiker treffen, die sich und ihre Positionen aus unzähligen Verhandlungsrunden in- und auswendig kennen und einander sehr schätzen. In weiten Teilen ist das Duell dann auch eher ein öffentlicher Koalitionsgipfel unter Regierungspartnern als ein heftiger Schlagabtausch.

Das zeigt sich vor allem in der ersten Stunde, in der es fast ausschließlich um die Außenpolitik geht und in der sich Merkel und Schulz in etlichen Punkten höchstens in der Rhetorik, nicht aber fundamental in ihren Positionen unterscheiden, die die Union und die SPD in vier Regierungsjahren gemeinsam vertreten haben.

Sehen wir uns die Flüchtlingspolitik an: Zwar greift Schulz die Kanzlerin heftig für ihre Entscheidung im Spätsommer 2015 an, die in Ungarn festsitzenden Flüchtlinge nach Deutschland einreisen zu lassen, ohne sich vorher mit den anderen EU-Staaten beraten zu haben. 2015 aber fand eben jener Martin Schulz noch, Merkel hätte „sicher mehr mit Franzosen und Polen kommunizieren können“, aber die humanitäre Ausnahmesituation habe eben ein schnelles Handeln erfordert. „Es gibt im Leben einer Bundeskanzlerin Momente, da müssen Sie entscheiden“, sagt Merkel im Gegenzug – und so richtig kann Schulz dem nicht widersprechen. Zumal er Merkels Entscheidung grundsätzlich weiter richtig findet. Selbst das Bekenntnis der Kanzlerin, die Bundesregierung habe sich in der Krise zu wenig um Flüchtlingslager in der Türkei und Jordanien gekümmert, ändert nichts an de Gemeinsamkeiten. Das ist alles nicht so recht neu.

Bei anderen außenpolitischen Themen muss man Differenzen mit der Lupe suchen. Schulz wie Merkel finden, ein „verfassungskonformer Islam“ (Merkel) habe Platz in Deutschland, Islamisten und gewaltbereite Gefährder hingegen nicht; beide wollen straffällig gewordene Flüchtlinge schnell abschieben und stärker als bisher gegen Hassprediger und fanatische Imame vorgehen. Spannend wird es höchstens beim Thema Türkei, bei dem Schulz eine deutlich klarere Sprache als Merkel spricht: Als Kanzler will er dem europäischen Rat empfehlen, die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sofort zu beenden, weil Ankara längst „alle roten Linien überschritten“ habe. Dass die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei abgebrochen werden sollten, da sind sich beide in der Sache einig. Das EU-Flüchtlingsabkommen wollen weder Merkel noch Schulz aufkündigen.

Dann weiter mit internationalen Themen wie Nordkorea und Donald Trump in den USA. Auch beim Umgang mit Donald Trump, für Schulz ein unberechenbaren Twitterer, müsse man im Gespräch bleiben, erklärt Merkel. Denn der sei nun einmal Partner im Kampf gegen den IS im Irak oder auch in Afghanistan. Beim Thema Nordkorea gehe es sogar um „Krieg oder Frieden“.

Jetzt ging es innenpolitisch weiter mit Diesel-Skandal, Rente, sozialer Gerechtigkeit und Innerer Sicherheit. Schulz bleibt angriffslustig: Keine Rente mit 70? Das sei genauso wie beim letzten Duell, als Merkel eine Pkw-Maut ablehnte, die dann doch kam. Denn es gebe Stimmen in der Union, die eine noch spätere Rente in Deutschland forderten. Merkel entgegnet, sie spreche Schulz auch nicht alles zu, was in einer der vielen Unterorganisationen der Partei besprochen werde. Die Kanzlerin wirkt etwas dünnhäutig, man sieht ihr an, dass sie verärgert ist. Schulz stichelt: Und überhaupt sei die Maut nur mit den Stimmen der Linken beschlossen worden.

Was nach Klein-Klein klingt, offenbart beider Strategien: Die Kanzlerin will erklären – selbst wenn es darum geht, aus Fehlern zu lernen. Schulz vereinfacht gern und schleift populistische Sphären wie schon zu Beginn seiner Kandidatur Anfang des Jahres, die damals einen Hype ausgelöst hatten, der dann aber implodierte.

Fazit: Den großen Showdown – wie manche ihn vorausgesehen hatten – gab es nicht. Die Maxime auf beiden Seiten: Nur keine Fehler machen! Merkel war ganz Kanzlerin, bisweilen fast präsidial. Schulz verbuchte den einen oder anderen Punkt für sich, doch den großen Umschwung dürfte das Duell für ihn nicht gebracht haben.

Insgesamt waren die Unterschiede zwischen den jeweiligen Positionen kaum erkennbar.

Prognose: Die beiden sehen wir wieder – in einer großen Koalition!

 

Was heute „Trumpismus“ genannt wird, ist nicht vom Himmel gefallen. Extremformen von Freier-Markt-Denke und reaktionärer Gesellschaftsvision waren schon immer Teile des amerikanischen Konservatismus. Der Schwenk hin zu einer Dominanz des Nativismus – der internationalen Abschottung und dem mythischen Ideal von Amerika als Ort unkomplizierter Lebensformen – vollzog sich nicht über Nacht, sondern über rund 50 Jahre.

Er begann mit einem Bestseller. Gewissen eines Konservativen heißt das Buch von Barry Goldwater, einem 1998 verstorbenen Senator aus Arizona. Der Konservative gilt im Erscheinungsjahr 1960 als aussterbende Spezies. „In unserer Sorge, die Welt zu ‚verbessern‘ und ‚Fortschritt‘ zu sichern, haben wir unsere Schulen zu Labors für soziale und wirtschaftliche Veränderungen gemacht“, heißt es dort. Es ist eine fundamentale Kritik am Wesen des „New Deal“, dem in den 1930ern verabschiedeten Paket des demokratischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt, in dem der Staat mit Konjunkturprogrammen die Wirtschaft stützt und Sozialprogramme einführt. Auch Republikaner, die sich zu diesem Zeitpunkt gar einen liberalen Ostküsten-Flügel leisten, tragen diese Politik mit. Zu groß ist die Angst, dass der ökonomische Ruin der Massen den Totalitarismus heraufbeschwört.

„Freiheit“ heißt Goldwaters radikaler Gegen-Slogan. Das Buch verkauft sich 3,5 Millionen Mal und liegt später unter anderem auf den Nachttischen von Ronald Reagan, George W. Bush und Ted Cruz. Freiheit, das ist für Goldwater Selbstverwirklichung durch freies Geschäft, freien Markt und einen möglichst kleinen Staatsapparat. Die „Young Americans For Freedom“ beginnen, die neue Form des Konservatismus an Unis wie ein Evangelium zu verkünden – es ist die andere Geschichte der Sechziger, weit weg vom Freiheitsbegriff der Hippies und späteren Baby Boomer.

Goldwater selbst wird 1964 Präsidentschaftskandidat der Republikaner, er wütet gegen Kommunisten, die Unmoral der Unterhaltungskultur, den übermächtigen Staat und den Bürgerrechtskampf der Afroamerikaner. Er verliert haushoch gegen Amtsinhaber Lyndon B. Johnson, seine Nominierung bedeutet das Ende des liberalen Flügels der Partei.

Goldwaters Niederlage bei der Präsidentschaftswahl ist nicht das Ende seiner Denkschule.

Brillante Ökonomen der Chicagoer Schule wie Milton Friedman und James Buchanan liefern den theoretischen Unterbau für Goldwaters Thesen: Märkte als Lösung für alle gesellschaftlichen Probleme, von Infrastruktur über die Bildung bis hin zur Gesundheit. Die Krisen der Siebziger scheinen die Grenzen der staatlichen Wirtschaftssteuerung aufzuzeigen und nach einer Alternative zu rufen. Selbst die Wahl Ronald Reagans 1980 ist kein endgültiger Sieg der konservativen Ideologie, auch wenn er erstmals Teile des Programms durch Steuersenkungen und Deregulierung durchsetzen kann.

Nachdem 1992 Bill Clinton maßgebliche Ideen der Konservativen übernimmt, erscheinen die Republikaner mit ihren eigenen Waffen besiegt. Außenseiter-Kandidaten wie der erzkonservative Pat Buchanan predigen eine Rückkehr zur reinen Lehre, die nur noch die Ablehnung des Staates mit dem Mainstream gemein hat. Konservative soziale Werte, Gegnerschaft zur Einwanderung sind seit Nixon vor allem Lockmittel für Wähler, der Fokus liegt vielmehr auf wirtschaftlicher Liberalisierung und der Rolle als Weltmacht. Außenpolitische Isolation ist eigentlich keine Option für konservative Präsidentschaftskandidaten.

Die Ära George W. Bushs dürfte als letzte der „alten“ Republikaner, vor allem aber als das Ende der Neokonservativen gelten, die eine imperialistische Außenpolitik verfolgen. Sein Irak-Debakel ebnet der Trump-Ära den Weg.

Der Plan, der auch in verschiedenen Bundesstaaten mit der Verschärfung von Wahlgesetzen für Afroamerikaner verbunden ist, geht auf: die Republikaner zementieren ihre Mehrheit im Repräsentantenhaus bis mindestens 2020, wenn die Bezirke neu berechnet werden. Doch der Nebeneffekt, dass nun in Vorwahlen Kandidaten um ein äußerst konservatives Publikum buhlen, sorgt für einen Rechtsruck und die Rückkehr des ganz rechten Konservatismus auf breiter Front – zunächst durch die Tea Party, später durch die „Trumpisten“.

Während Goldwater den Demokraten noch vorwarf, „zu lasch“ gegen den Kommunismus vorzugehen, werden Progressive heute direkt als verkappte Sozialisten beschimpft.

Ein flächendeckender Sieg des neoreaktionären Konservatismus gilt als so unwahrscheinlich wie sein Verschwinden nach der Trump-Ära.

 

Das mutet wie ein harmloses Computerspiel an: Ein Automobil bewegt sich auf einen Fußgängerüberweg zu. Darauf eine Gruppe von Passanten. Das Kfz kann aufgrund eines plötzlichen Bremsversagens nicht mehr anhalten. Jetzt soll der Mensch am Bildschirm entscheiden, ob das Auto die Passanten auf dem Zebrastreifen überfahren soll – mit dem Ergebnis, dass alle diese Passanten zu Tode kommen – oder ausweichen und mit einem schweren Hindernis kollidieren soll, was wiederum den Tod aller Insassen zur Folge hätte. Wen soll´s treffen?!

Kaum ist eine Entscheidung per Klick auf das entsprechende Szenario getroffen, erscheint eine Abwandlung derselben Frage. Diesmal kommen per Mausklick entweder ein Jogger mit Hund oder eine Mutter mit Kind ums Leben. Ändert sich das Urteil, wenn die Frau die Fahrbahn überquert, während die Fußgängerampel auf Rot steht? – Klick. Was, wenn sie auch noch dick ist? – Klick. Und wie sieht es aus, wenn statt des Lebens des Joggers das dreier Pflegepersonen auf dem Spiel steht?

Der makabre Fragenkatalog ist kein Spiel, sondern ein Forschungsinstrument. Wissenschaftler am Massachusetts Institute of Technology wollen herausfinden, wie autonome Fahrzeuge programmiert sein sollten, damit sie, wenn es zu einem tragischen Unfall kommt, die größtmögliche gesellschaftliche Anerkennung genießen. Es könnte zu Situationen kommen, in denen das Fahrzeug autonom über Leib und Leben entscheiden müsste. Um dies angemessen zu programmieren, muss man erst genauer verstehen, wie und nach welchen Kriterien Menschen solche Entscheidungen fällen. Und so spucken die Algorithmen der „Moral-App“ immer neue Szenarien aus; endlose Varianten des gleichen Dilemmas …

Die meisten Menschen befürworten autonome Fahrzeuge, die größtenteils utilitaristisch handeln, den Schaden für die Gesamtheit der Betroffenen minimieren. Entsprechend wird ein Kind eher geschont als alte Menschen, Einzelne geopfert anstelle einer Personengruppe – auch wenn das bedeutet, dass gelegentlich die Fahrzeuginsassen den Kürzeren ziehen. Nutzen möchten die Befragten aber oft nur ein Kfz, dass der Unversehrtheit der Insassen eine größere Bedeutung zumisst als der der übrigen Verkehrsteilnehmer.

Autonome Fahrzeuge werden nie lernen, zu entscheiden wie ein Mensch. Maschinen können allenfalls lernen, aus zahlreichen von Menschen getroffenen Entscheidungen eine Regel abzuleiten. Nur ist, was alle tun, nicht notwendigerweise moralisch richtig. Die Vorstellung von einer solchen „empirischen Ethik“ ist abstrus, denn sobald aus der Präferenz vieler eine allgemeine Regel nach dem Schema „Kinder vor Alten“ oder „Gruppen vor Einzelpersonen“ abgeleitet wird, geschieht eine Diskriminierung. Auch verfängt das Argument nicht, dass ein autonomes Auto nur dann gesellschaftliche Akzeptanz finden kann, wenn dessen „Entscheidungen“ sich decken mit dem, was die breitere Bevölkerung für das kleinere Übel hält. Wir haben entschieden, dass ein Leben nicht gegen ein anderes aufgerechnet werden darf. Das ist einer der Basisgrundsätze unserer Verfassung.

Weiter muss man sich vor dem Schluss hüten, dass die Antworten der Probanden im Simulator deren Reaktion in der Realität abbilden; mit großer Wahrscheinlichkeit tun sie das nicht. Das zeigen einschlägige Erfahrungen mit Piloten, die mit einem Kleinflugzeug in Not geraten: Beim Training im Simulator folgen die Piloten den Instruktionen und landen auf einem Acker, wo sie keine Unbeteiligten in Gefahr bringen. Im Angesicht der realen Bedrohung jedoch überwiegt der Drang, die eigene Haut zu retten – das zeigte vor Kurzem die Notlandung einer Cessna an einem belebten Strand bei Lissabon. Den Probanden der Ethik-Experimente zum autonomen Fahren fehlt dasselbe entscheidende Kriterium: Sie sitzen nicht drin!

Schließlich bewegt sich die Diskussion um autonome Fahrzeuge in Dilemma-Situationen in gedanklicher Schieflage: Einerseits unterstellt sie eine bis in utopische Sphären fortgeschrittene maschinelle Intelligenz, die offenbar problemlos Fußgänger nicht nur als solche erkennt, sondern diese auch noch nach diversen Merkmalen unterscheiden und außerdem die konkreten Folgen der Kollision für alle Beteiligten abschätzen kann. Diese Welt vollständiger künstlicher Intelligenz (von der wir noch weit entfernt sind) paart sich im Gedankenexperiment mit einer Ignoranz gegenüber Veränderungen, die autonome Fahrzeuge für den Straßenverkehr in seiner Gesamtheit mit sich bringen werden.

Mysteriöse Regeln, nach denen irgendwann algorithmisch entschieden wird, wer überfahren werden darf, werden schwerlich bei der Lösung dieser Problematik helfen. Vielmehr tut eine Diskussion um die Risiken not, die wir im Straßenverkehr einzugehen bereit sind. Einige davon ließen sich mit autonomen Fahrzeugen vermindern, indem Sicherungsmechanismen eingebaut würden, wie sie im Flugverkehr selbstverständlich sind.

Für Automobile ist das bis dato nicht gefordert. Vergessen wir eines nicht:

Der gegenwärtig größte Risikofaktor im Verkehr ist der Mensch!