Deutschland ist nach einem Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Unterhauses des polnischen Parlaments immer noch verpflichtet, Kriegsreparationen an Polen für die Verbrechen im Zweiten Weltkrieg zu leisten. Die Rede ist von mindestens 840 Milliarden Euro. Es sei rechtens, dass die Republik Polen einen Anspruch auf Entschädigungen von der Bundesrepublik Deutschland erhebe, heißt es in dem 40-seitigen Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Parlaments. Die einseitige Erklärung der polnischen Regierung vom 23. August 1953 über den Verzicht auf weitere Kriegsreparationen habe nur für die DDR gegolten.

Zudem habe der damalige Beschluss des Ministerrates gegen die polnische Verfassung verstoßen, weil nicht der Ministerrat, sondern der Staatsrat für die Ratifizierung und Kündigung von völkerrechtlichen Verträgen zuständig gewesen sei. Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verjährten laut dem Völkerrecht nicht. Das Gleiche gelte für Entschädigungen für solche Verbrechen.

Polens Regierungschefin Beata Szydlo hatte Polens Anspruch auf Kriegsreparationen bekräftigt. Bevor Warschau offiziell eine Entschädigung fordere, solle zunächst das Sejm-Gutachten abgewartet werden, sagte sie.

Nach dem Krieg seien die von Deutschland verursachten materiellen Schäden am polnischen Staats- und Privateigentum auf 48,8 Milliarden Dollar geschätzt worden. Mehr als sechs Millionen polnische Staatsbürger seien umgekommen. Weitere rund zehn Millionen seien Opfer von deutschen Verbrechen und Terror geworden. Gemessen an der Bevölkerungszahl und dem Gesamtvermögen hat Polen im Zweiten Weltkrieg dem Gutachten zufolge die meisten Toten und die höchsten materiellen Verluste von allen europäischen Staaten zu beklagen.

Der Zeitpunkt des Vorstoßes ist bewusst gewählt, gedachte Polen doch neulich des Warschauer Aufstands von 1944, dessen Beginn sich am ersten August zum 73. Mal jährte.

Die Siegermächte entschieden sich nach dem Zweiten Weltkrieg für einen pragmatischen Umgang mit den Kriegsschäden. So sammelten sie Reparationsforderungen zahlreicher Länder, klagten diese aber nicht vollständig ein. Sie bezweckten damit, eine ähnliche Entwicklung wie nach dem Ersten Weltkrieg zu verhindern, als fast grenzenlose Entschädigungsansprüche der Sieger Deutschland erniedrigten und in den Ruin trieben. Dies trug maßgeblich zum Aufstieg Hitlers bei.

Die wichtigsten Dokumente, die nach Kriegsende Entschädigungen regelten, waren das Potsdamer Abkommen von 1945 und das Londoner Schuldenabkommen von 1953. Ersteres hielt fest, dass die Sowjetunion ihre Reparationsansprüche durch „Entnahmen aus der von der UdSSR besetzten Zone in Deutschland und durch angemessene deutsche Auslandsguthaben“ befriedigen und daraus auch Polen entschädigen solle.

Die Sowjets demontierten einen großen Teil der Industriebetriebe und der Schieneninfrastruktur in Ostdeutschland. Außerdem schlugen die Siegermächte die deutschen Ostgebiete Polen zu, das allerdings sein eigenes östliches Staatsgebiet an die Sowjetunion abtreten musste. Vor diesem Hintergrund gelang es dem deutschen Unterhändler, die Forderungen der Gläubigerländer 1953 im Rahmen des Londoner Schuldenabkommens auf 14 Milliarden Mark herunterzuhandeln. Die Sowjetunion beendete im gleichen Jahr den Abtransport der Infrastruktur der DDR. Die polnische – allerdings durch die Sowjets eingesetzte – Regierung verzichtete auf weitere Reparationsforderungen.

Geregelt waren die Entschädigungsforderungen damit nicht. Vielmehr wurde die Frage der Reparationen vertagt bis zum Abschluss eines definitiven Friedensvertrags. In der Folgezeit gab es eine Reihe von Regelungen an seiner statt. So erkannte Deutschland 1970 im Rahmen des Warschauer Vertrags die neue Ostgrenze zu Polen an. Am Rande der Verhandlungen über den deutsch-polnischen Freundschaftsvertrag vom 17. Juni 1991 beschlossen die beiden Länder zudem zusätzliche Zahlungen Deutschlands an seinen Nachbarn und ehemalige Zwangsarbeiter über 2,5 Milliarden Mark.

Das entscheidende Abkommen war allerdings der „Zwei-plus-Vier-Vertrag“, der im März 1991 in Kraft trat. Dieser wurde explizit anstatt eines Friedensvertrags abgeschlossen und regelte ausstehende Reparationsansprüche. Da nur die Großmächte sowie die Vertreter der beiden Deutschland am Tisch saßen, argumentieren polnische, wie auch griechische, Politiker mehrfach, sie hätten keine Stimme gehabt. Dies ist allerdings nicht ganz korrekt, konnte Polen doch seine Forderungen bei den Vorbereitungen zu den Verhandlungen durchaus einbringen.

Es ist aber zu bedenken, dass Polen in dieser Zeit als unabhängiger Staat erst begrenzt handlungsfähig war, befand es sich doch mitten im Prozess der Loslösung von der Sowjetunion. Aus der sowjetischen Besetzung speist sich das weitere Argument der nationalkonservativen Politiker, heute wieder Reparationen zu fordern: Polen habe unter sowjetischem Einfluss keine andere Wahl gehabt habe, als den Schuldenverzicht 1953 zu akzeptieren.

Am Wochenende war es dann soweit: In Polen ist eine weitere umstrittene Justizreform der nationalkonservativen Regierung in Kraft getreten. Das Gesetz sieht unter anderem vor, dass Justizminister Ziobro künftig Gerichtsvorsitzende ohne Grund entlassen und ohne Rücksprache mit Juristen durch neue Kandidaten austauschen kann.

In puncto „Unabhängigkeit der Richter“: Dadurch könne er die Posten mit eigenen Kandidaten besetzen, bemängelten Rechtsexperten und Regierungsgegner. Trotz großer Proteste der Bevölkerung und eindringlicher Warnungen der EU-Kommission hatte Präsident Duda das von der regierenden Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) forcierte Gesetz Ende Juli unterschrieben. Die EU-Kommission leitete daraufhin ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen ein, das im letzten Schritt sogar zur Verhängung von Strafgeldern führen könnte.

„Die neuen Vorschriften geben dem Justizminister die Möglichkeit, Einfluss auf einzelne Richter zu nehmen, insbesondere durch vage Kriterien für die Amtszeitverlängerung, die den Grundsatz der Unabsetzbarkeit von Richtern untergraben“, so die Begründung aus Brüssel für die Maßnahme.

Weiterhin kritisiert die Kommission, dass die Justizreform von Oktober 2017 an verschiedene Pensionsalter für Männer (65 Jahre) und Frauen (60 Jahre) vorsieht. Die Regelung verstößt gegen die EU-Richtlinie zur Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeitsfragen, sowie gegen den im EU-Vertrag verankerten Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen.

Aus Besorgnis wegen der Veränderungen des polnischen Justizsystems hatte die EU-Kommission bereits 2016 ein allgemeines Verfahren zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit in dem Land eingeleitet. Diese Untersuchung führte bislang noch zu keinem für Brüssel befriedigenden Ergebnis. Die EU-Kommission drohte deswegen zuletzt die Einleitung eines weiteren Verfahrens an, das im letzten Schritt sogar dazu führen könnte, dass Polen bei Abstimmungen im EU-Ministerrat sein Stimmrecht verliert. Die Frist für Warschau läuft gegen Ende des Monats aus.

„Mit der Einführung der Justizreform beginnt in Polen das Ende unabhängiger Richter und Gerichte. Richter in Polen werden nun sehr genau beobachten müssen, welche Positionen der Justizminister vertritt“, sagte die Präsidentin des Obersten Gerichts in Warschau (Rzeczpospolita). Mithin gerät in Polen die Unabhängigkeit der ganzen Justiz in Gefahr. Die Zeitung Rzeczpospolita berichtet, dass die Richter in Polen zwar eine Justizreform gefordert hätten, allerdings erhofften sie sich von ihr eine Erleichterung ihrer Arbeit, um schneller Urteile aussprechen zu können. Diese Veränderung werde es nun nicht geben. Stattdessen werden die Gerichte nun der Politik untergeordnet.

Das drohende Ende der Gewaltenteilung sorgt unterdessen für Verunsicherung in der Wirtschaft. Langfristig könnte die Justizreform auf Grund wachsender Rechtsunsicherheit ausländische Investoren abschrecken (Handelsblatt). „Die Justizreform wird zu mehr Rechtsunsicherheit in Polen führen. Die Gefahr zu politisch motivierten Gerichtsurteilen wird zunehmen. Das wird auch Folgen für die Investitionsbereitschaft ausländischer Unternehmen haben“, warnen Wirtschaftsexperten. Niemand investiert gerne auf unsicherem Terrain.

Noch läuft die polnische Wirtschaft. Die Raiffeisen Bank International prognostiziert Polen für 2017 ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von 3,8 Prozent. Damit wird das Land in Osteuropa beim Wachstum nur noch von Slowenien mit 4,6 Prozent übertroffen. Erst Ende vergangenen Jahres hat Daimler entschieden, in Polen sein erstes Werk zu errichten. Der Stuttgarter Autobauer will eigenen Angaben zufolge rund eine halbe Milliarde Euro in die Motorproduktion vor Ort in Jawor, in der Nähe von Breslau, investieren. Der Standort Polen lockt unter anderem deutsche Unternehmen. Grund sind die niedrigen Löhne, der gute Ausbildungsstand, die verbesserte Infrastruktur und das gesunde Konsumklima. Ein Investor muss also zukünftig zwischen niedrigen Löhnen und einer mangelnden Rechtsstaatlichkeit abwägen.

Es ist schwer vorauszusagen, welche Ziele die derzeitige Regierung mit ihrer Politik verfolgt. Klar ist eines: Will Polen in der Europäischen Gemeinschaft bleiben, so muss es auch deren Werte, unter anderen Demokratie, Gleichheit der Geschlechter und vor allem die Unabhängigkeit der Justiz anerkennen. Derzeit gibt es keine Anzeichen, dass die polnische Regierung gewillt ist, diese anzuerkennen; sie geht im Gegenteil Richtung Nationalismus.

Rauswerfen aus der EU kann man Polen nicht. Das wissen wir seit der Griechenlandkrise. Aber man kann Sanktionen verhängen und den Hahn für Fördergelder abdrehen. Gelder aus dem Gemeinschaftstopf zu kassieren und national zu wirtschaften – das geht nicht.

In der polnischen Hauptstadt Warschau sind am Samstag Tausende bei einem „Marsch für die Freiheit“ auf die Straße gegangen. Die Regierungsgegner demonstrieren nicht nur gegen die Missachtung der Urteile des Verfassungsgerichts und Gesetzesinitiativen zur Aufhebung der Unabhängigkeit der Justiz, sondern auch gegen eine Schulreform, die in Polen zum September das bisher auf die Grundschule folgende dreijährige Gymnasium abschaffen soll. Verabschiedet worden war die Reform Ende 2016 hastig und gegen den Widerstand von Fachleuten und Betroffenen. Ende April hatten im Parlament Gegner der Schulreform 950.000 Unterschriften für eine Volksabstimmung über die Reform eingereicht; 450.000 Unterschriften mehr, als dafür nötig sind. Die Regierung will jedoch den Antrag auf Volksabstimmung offenbar missachten: Ministerpräsidentin Beata Szydło sagt, die Initiative komme „zu spät“.

Stattdessen will nun Polens Präsident Andrzej Duda, der ebenfalls zur Regierungspartei Pis gehört, das Volk über ein anderes Thema abstimmen lassen: Er sprach sich für ein Referendum über die geltende Verfassung aus. Im Jahr 2018 – zum 100. Jahrestag der Wiedererlangung der polnischen Unabhängigkeit – sollten sich die Polen dazu äußern, ob sie mit der Verfassung zufrieden sind und „welche grundlegenden Schritte sie in der Zukunft wollen: welche Rolle der Präsident spielen soll, welche Rolle der Senat und der Sejm, welche Bürgerrechte und welche Freiheiten betont werden sollen“.

Dudas Initiative trägt die Handschrift von Pis-Parteichef Jarosław Kaczyński, der grauen Eminenz in Polen. Kaczyński entwarf schon 2005 und 2010 Verfassungsänderungen, die Polen stärker in Richtung einer autoritären Regierungsform rücken und Kontrollinstanzen schwächen sollten. Daran arbeiten Rechtsexperten der Pis auch aktuell: Anfang April erhielten Juristen in Briefumschlägen mit Pis-Briefkopf Schreiben parteinaher Kollegen. Darin wurden sie aufgefordert zu beantworten, ob etwa der für die Wahrung der Unabhängigkeit von Fernsehen und Radio zuständige Rundfunkrat „unbedingt nötig“ sei, und ob man nicht auf den Bürgerrechtskommissar verzichten könne. Dieses Amt hat in Polen Verfassungsrang: Sein Inhaber (der frühere Bürgerrechtler Adam Bodnar) kann bis hinauf zum Verfassungsgericht gegen sämtliche Gesetze und Initiativen der Regierung klagen – und tut dies. Pläne zur Entmachtung des Bürgerrechtskommissars finden sich bereits in früheren Entwürfen Kaczyńskis.

Dass ausgerechnet Präsident Duda eine Verfassungsreform vorschlägt, entbehrt nicht der Ironie: Schließlich hat der Präsident in seiner knapp zweijährigen Amtszeit polnischen Experten zufolge selbst die Verfassung gebrochen, etwa als er sich weigerte, drei rechtmäßig gewählte Verfassungsrichter zu vereidigen.

Der ehemalige Minister Hall nannte Dudas Initiative für ein Verfassungsreferendum ein Manöver, das die „Sanktionierung autoritären Regierens“ zum Ziel habe. Seit Monaten trommeln Pis-nahe Medien gegen verbliebene unabhängige Institutionen. Der für ein Verfassungsreferendum angekündigte Zeitpunkt 2018 dürfte auch mit anstehenden Wahlen zu tun haben: Viele Regionen und Städte sind unter Kontrolle der Opposition, die Pis spielt bereits Gesetzesänderungen zur Schwächung oder Ausschaltung aktueller Amtsinhaber durch. In den Regionen wird 2018 gewählt, ein Jahr darauf folgt die Parlamentswahl. Umfragen zufolge ist die Pis mittlerweile in der Wählergunst von 37 auf unter 30 Prozent gesunken – und die Bürgerplattform, die jetzt zur Massendemonstration in Warschau aufruft, liegt derzeit erstmals seit der Wahl 2015 wieder auf Platz eins.

Was die versuchten Verfassungsänderungen angeht, ist die Situation vergleichbar mit der in der Türkei. Dort geht es Ministerpräsident Erdogan ebenfalls um den Ausbau seiner Macht und um die Ausschaltung politischer Gegner, unter anderem der Gülen-Bewegung.

Die EU-Kommission hat die polnische Regierung bereits mehrfach verwarnt, sie sieht in einigen der Reformen eine Bedrohung der Rechtsstaatlichkeit. Allein die Schwächung der Justiz – welche quasi eine Abschaffung derer darstellt – verstößt vehement gegen demokratische Grundsätze. Das System der Gewaltentrennung schließt auch die gegenseitige Kontrolle von Legislative, Exekutive und Judikative mit ein. Von der Justiz will sich die regierende Pis aber offensichtlich nicht kontrollieren lassen. Der Boden der Demokratie ist hiermit verlassen, solche Bestrebungen haben keinen Platz im freien Europa.

Nach Angaben der Warschauer Stadtverwaltung beteiligten sich rund 70.000 Menschen an der Kundgebung, die Polizei sprach von 9.000 Teilnehmern. Egal wie viele: manche werden sich an die eigene Nase fassen müssen. Wahrscheinlich haben viele der Demonstranten die Pis aus Protest gewählt, ohne an irgendwelche Konsequenzen zu denken. Letztere sind jetzt da: die Talfahrt von Rechtsstaat und Demokratie. Am Ende hat das doch keiner gewollt …

Darum überlege man vor jedem Kreuz auf dem Wahlzettel gut, wohin das Angekreuzte führen kann. Wir haben alle die Wahl. Noch!

Europa der Vaterländer“, die Idee des „Europe des patries“ bezieht sich auf eine enge Form der zwischenstaatlichen Kooperation europäischer Staaten, die jedoch die nationale Souveränität weitestgehend unangetastet lässt und auf supranationale Einigungsschritte verzichtet. Sie wird historisch mit dem französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle (1890 – 1970) in Verbindung gebracht, der die Formulierung zu einem Kernpunkt seiner Europapolitik in den 1960er-Jahren machte. Die Briten – wir denken hierbei an den „Brexit“ – wollte er von Anfang an nicht in dieser Gemeinschaft haben.

Es gibt eine Anekdote hierzu: Als Winston Churchill ihn einmal einlud, in seinem Sonderzug nach Dover zum Jahrestag der Evakuierung der britischen Streitkräfte aus Dünkirchen im Jahre 1940 als Gast mitzufahren, lehnte de Gaulle dies schroff ab mit der Begründung, Frankreichs Staatschef verdiene seinen eigenen Sonderzug. Das mag so gewesen sein …

Einer der meistgesagten Sätze deutscher Politiker nach der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten lautete in etwa so: Wir müssen uns jetzt in Europa auf unsere Interessen konzentrieren, Europa muss mehr Verantwortung für sich selbst übernehmen.

Was ist seither geschehen? Was hat die Kanzlerin unternommen? Gab es eine europäische Krisensitzung? Was haben die deutschen Außenpolitiker, Oppositionsführer, Fraktionschefs usw. über den oben zitierten Satzes hinaus groß zustande gebracht?

Europa ist an der Situation, in der es sich befindet, nicht gewachsen. Und auch die Öffentlichkeit scheint sich mehr mit fernliegenden Konflikten zu beschäftigen, als die naheliegenden dramatischen Entwicklungen um uns herum zur Kenntnis zu nehmen. Derzeit weiß man alles über die irren Dekrete des US-Präsidenten oder die Verhaftungen in der Türkei. Man weiß genau, dass die Kanzlerin eigentlich nicht in die Türkei fahren darf. Oder man meint genau zu wissen, was sie Erdogan entgegenschleudern muss, wenn sie es denn täte.

Aber wo eigentlich mischen wir uns mit solcher Leidenschaft in die Konflikte ein, die sich in den Ländern vor unserer sprichwörtlichen Haustür abspielen? Nehmen wir Rumänien. Dort demonstrieren seit Tagen Zehntausende gegen eine Entscheidung der Regierung zur Korruption. Was genau wollen die Menschen? Sind sie für mehr Demokratie? Oder für mehr Ordnung, vielleicht sogar für eine autoritäre Regierung?

Was haben wir getan, als in Polen wochenlang das Parlament besetzt wurde und Massendemonstrationen gegen die Einschränkung der Pressefreiheit stattfanden? Haben wir da von der Kanzlerin verlangt, hinzufahren und Ministerpräsident Kaczynski öffentlich mal so richtig die Meinung zu geigen? Und wer weiß schon, dass die EU ein Verfahren zur Überprüfung der Rechtstaatlichkeit eröffnet hat, über das die polnische Regierung müde lächelt? Warum wird in Deutschland gegen Trump oder Erdogan demonstriert, nicht aber gegen Orban oder Kaczynski?

Wir zeigen ein bedauerliches Desinteresse an den Vorgängen in Europa, vor allem in Osteuropa. Das war schon immer so, aber weniger schlimm, so lange es aufwärts ging, Europa immer größer und immer liberaler wurde. Doch diese Zeiten sind lange vorbei. Unser Selbstgefühl hinkt da bedrohlich nach.

Europa bröckelt, ökonomisch wie politisch. Vor unser aller Augen. Das ist gerade jetzt fatal, wo sich die Kräfteverhältnisse in der Welt dramatisch verschieben. Gerade jetzt sollten wir uns um die Kaczynskis und die Orbans kümmern, statt sie gedanklich vor die Tür zu setzen. Wenn Außenminister Gabriel ein Europa der zwei Geschwindigkeiten fordert, so ist das ein Eingeständnis des Scheiterns der europäischen Idee. Es ist ein Argument, geboren aus Ratlosigkeit und Schwäche. Und es steckt ein grundlegender Denkfehler darin: Es geht nicht um unterschiedliche Geschwindigkeiten, wir reden nicht über langsam und schnell. Was derzeit stattfindet, ist eine Schubumkehr in rasendem Tempo.

Wenn sich Europa nicht einig ist, hat es in der Welt keine Stimme mehr. Trump und Erdogan machen Angst, aber wirklich bedroht sind wir von einem zerfallenden Europa.

Was – wenn man einig ist – kümmert einen dann das Gewäsch irgendwelcher Selbstdarsteller, Profilneurotiker und anderer Möchtegerns? Aber wir sind nicht einig. Europa ist befallen von der Krankheit des Nationalismus. Wenn es so weiter geht, gilt „jeder gegen jeden“. Nichts ist dann leichter, als die Geschicke Europas über den Kopf der Europäer weg zu steuern. „Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte …“. Das war schon immer so!

 

Was ist los in Polen?

Eine umstrittene Gesetzesänderung für den Weg zum Verfassungsgericht ist angestoßen worden. Das von den Politikern der regierenden Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) kontrollierte Unterhaus Sejm stimmte am Dienstagabend nach heftigen Debatten mehrheitlich für die Neuordnung des Gerichts. 235 Sejm-Abgeordnete stimmten für das Gesetz, dagegen waren 181.

Die Opposition hält das Gesetz für verfassungswidrig und für einen Versuch, das Gericht in seiner Arbeitsfähigkeit zu beschneiden und zu „zerstören“. Die Regierung dagegen behauptet, die Änderung verbessere die Organisation des Gerichts. Der frühere Minister Andrzej Halicki von der liberalen Bürgerplattform (PO) sagte: „Heute ist mit bloßem Auge zu erkennen, dass wir es mit einem schleichenden Staatsstreich zu tun haben.“

Die Partei kündigte noch am Abend an, Verfassungsklage zu erheben.

Das Gesetz sieht vor, dass künftig alle Entscheidungen des Verfassungsgerichts in Anwesenheit von wenigstens 13 der 15 Richter mit Zweidrittel-Mehrheit gefällt werden müssen. In Fällen, in denen unter den Richtern keine Zweidrittel-Mehrheit zustande kommt, soll es kein Urteil geben. Bisher entschied das Gericht mit einfacher Mehrheit der an einem Fall beteiligten Richter, die in der Regel in Fünfer-Gruppen arbeiteten; nur in gesetzlich festgelegten Ausnahmefällen musste das gesamte Kollegium entscheiden.

Bisher wurden die meisten Entscheidungen mit fünf anwesenden Richtern getroffen, nur bei sehr wichtigen Fällen war die Anwesenheit von mindestens neun Richtern notwendig. Es genügte die einfache Mehrheit. Nach Ansicht von Politikern der liberalkonservativen Bürgerplattform (PO), die bis zur Parlamentswahl am 25. Oktober die Regierung stellte, und der neuen liberalen Partei Nowoczesna („Moderne“) soll das Gericht mit den neuen Regeln arbeitsunfähig gemacht werden: Wenn es künftig keine Arbeitsteilung unter den Verfassungsrichtern mehr geben dürfe, könne es bei der derzeitigen Zahl von Verfahren bis zu fünf Jahren dauern, bis ein Fall verhandelt werde. Von Rechtsweggarantie und rechtlichem Gehör kann in so einem Fall allein aufgrund des Zeitablaufs nicht mehr die Rede sein.

Vorgesehen ist auch, dass das Verfassungsgericht die anhängigen Fälle in Zukunft chronologisch abarbeiten muss. Dies könnte zur Folge haben, dass über Beschwerden gegen neue, von der Regierung auf den Weg gebrachte Gesetze erst mit langer Verzögerung entschieden werden kann.

Schon zuvor hatte die PiS ein Gesetz durchs Parlament gebracht, nach dem die Ernennung von fünf Richtern durch den alten Sejm annulliert wurde. Die Vorgängerregierung, angeführt von der liberalen „Bürgerplattform“, hatte drei Richter, deren Stellen vakant waren, neu besetzt, aber auch zwei Richter, deren Position erst in diesem Monat frei werden. Damit hatte das frühere Parlament, so urteilte das höchste Gericht, seine Befugnisse überschritten. Staatspräsident Duda verweigerte die Vereidigung der rechtmäßig bestellten drei Richter und vereidigte stattdessen gleich fünf von der PiS ernannte – was Anfang Dezember wiederum vom Verfassungsgericht für teilweise ungültig erklärt wurde.

Während der fast elf Stunden langen Parlamentssitzung am Dienstagabend kam es zu teils heftigem Streit. Für Empörung sorgte die PiS-Vertreterin Pawlowicz, die einem Kollegen der liberalen Bürgerplattform vor laufenden Kameras sagte: „So schmeckt das Leben in der Opposition – miam, miam, miam.“ Am Ende kam nur ein Änderungsantrag der Opposition durch: Demnach darf das Tribunal seinen Sitz in der Hauptstadt Warschau behalten.

Europa ist eine Wertegemeinschaft. Recht, Freiheit und Demokratie sind tragende Säulen. Wer diese missachtet, hat in dieser Gemeinschaft nichts zu suchen. Im Rahmen der Flüchtlingswelle hat sich gerade bewiesen, dass einige der osteuropäischen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft zwar gerne jener angehören, solange dies wirtschaftliche und finanzielle Vorteile beinhaltet. Kommt die Übernahme von Pflichten zur Sprache, besinnt man sich schnell wieder auf die nationale Ebene. Polen hat mit den obigen Vorkommnissen jetzt einen gefährlichen Weg darüber hinaus beschritten: denjenigen in eine Diktatur. Es fängt schleichend an mit Beschneidung der Rechte von Minderheiten – zunächst im Parlament – und der Entmachtung der Gerichte.

Auch der Vorsitzende des EU-Rates, Jean Asselborn, sieht Polen auf einem gefährlichen Weg. Europa dürfe dabei nicht wegsehen, sonst sei die Wertegemeinschaft in Gefahr.

Ich denke, er hat recht …