Am Wochenende war es dann soweit: In Polen ist eine weitere umstrittene Justizreform der nationalkonservativen Regierung in Kraft getreten. Das Gesetz sieht unter anderem vor, dass Justizminister Ziobro künftig Gerichtsvorsitzende ohne Grund entlassen und ohne Rücksprache mit Juristen durch neue Kandidaten austauschen kann.

In puncto „Unabhängigkeit der Richter“: Dadurch könne er die Posten mit eigenen Kandidaten besetzen, bemängelten Rechtsexperten und Regierungsgegner. Trotz großer Proteste der Bevölkerung und eindringlicher Warnungen der EU-Kommission hatte Präsident Duda das von der regierenden Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) forcierte Gesetz Ende Juli unterschrieben. Die EU-Kommission leitete daraufhin ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen ein, das im letzten Schritt sogar zur Verhängung von Strafgeldern führen könnte.

„Die neuen Vorschriften geben dem Justizminister die Möglichkeit, Einfluss auf einzelne Richter zu nehmen, insbesondere durch vage Kriterien für die Amtszeitverlängerung, die den Grundsatz der Unabsetzbarkeit von Richtern untergraben“, so die Begründung aus Brüssel für die Maßnahme.

Weiterhin kritisiert die Kommission, dass die Justizreform von Oktober 2017 an verschiedene Pensionsalter für Männer (65 Jahre) und Frauen (60 Jahre) vorsieht. Die Regelung verstößt gegen die EU-Richtlinie zur Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeitsfragen, sowie gegen den im EU-Vertrag verankerten Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen.

Aus Besorgnis wegen der Veränderungen des polnischen Justizsystems hatte die EU-Kommission bereits 2016 ein allgemeines Verfahren zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit in dem Land eingeleitet. Diese Untersuchung führte bislang noch zu keinem für Brüssel befriedigenden Ergebnis. Die EU-Kommission drohte deswegen zuletzt die Einleitung eines weiteren Verfahrens an, das im letzten Schritt sogar dazu führen könnte, dass Polen bei Abstimmungen im EU-Ministerrat sein Stimmrecht verliert. Die Frist für Warschau läuft gegen Ende des Monats aus.

„Mit der Einführung der Justizreform beginnt in Polen das Ende unabhängiger Richter und Gerichte. Richter in Polen werden nun sehr genau beobachten müssen, welche Positionen der Justizminister vertritt“, sagte die Präsidentin des Obersten Gerichts in Warschau (Rzeczpospolita). Mithin gerät in Polen die Unabhängigkeit der ganzen Justiz in Gefahr. Die Zeitung Rzeczpospolita berichtet, dass die Richter in Polen zwar eine Justizreform gefordert hätten, allerdings erhofften sie sich von ihr eine Erleichterung ihrer Arbeit, um schneller Urteile aussprechen zu können. Diese Veränderung werde es nun nicht geben. Stattdessen werden die Gerichte nun der Politik untergeordnet.

Das drohende Ende der Gewaltenteilung sorgt unterdessen für Verunsicherung in der Wirtschaft. Langfristig könnte die Justizreform auf Grund wachsender Rechtsunsicherheit ausländische Investoren abschrecken (Handelsblatt). „Die Justizreform wird zu mehr Rechtsunsicherheit in Polen führen. Die Gefahr zu politisch motivierten Gerichtsurteilen wird zunehmen. Das wird auch Folgen für die Investitionsbereitschaft ausländischer Unternehmen haben“, warnen Wirtschaftsexperten. Niemand investiert gerne auf unsicherem Terrain.

Noch läuft die polnische Wirtschaft. Die Raiffeisen Bank International prognostiziert Polen für 2017 ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von 3,8 Prozent. Damit wird das Land in Osteuropa beim Wachstum nur noch von Slowenien mit 4,6 Prozent übertroffen. Erst Ende vergangenen Jahres hat Daimler entschieden, in Polen sein erstes Werk zu errichten. Der Stuttgarter Autobauer will eigenen Angaben zufolge rund eine halbe Milliarde Euro in die Motorproduktion vor Ort in Jawor, in der Nähe von Breslau, investieren. Der Standort Polen lockt unter anderem deutsche Unternehmen. Grund sind die niedrigen Löhne, der gute Ausbildungsstand, die verbesserte Infrastruktur und das gesunde Konsumklima. Ein Investor muss also zukünftig zwischen niedrigen Löhnen und einer mangelnden Rechtsstaatlichkeit abwägen.

Es ist schwer vorauszusagen, welche Ziele die derzeitige Regierung mit ihrer Politik verfolgt. Klar ist eines: Will Polen in der Europäischen Gemeinschaft bleiben, so muss es auch deren Werte, unter anderen Demokratie, Gleichheit der Geschlechter und vor allem die Unabhängigkeit der Justiz anerkennen. Derzeit gibt es keine Anzeichen, dass die polnische Regierung gewillt ist, diese anzuerkennen; sie geht im Gegenteil Richtung Nationalismus.

Rauswerfen aus der EU kann man Polen nicht. Das wissen wir seit der Griechenlandkrise. Aber man kann Sanktionen verhängen und den Hahn für Fördergelder abdrehen. Gelder aus dem Gemeinschaftstopf zu kassieren und national zu wirtschaften – das geht nicht.

Sollte Staatspräsident Duda die verabschiedeten Gesetze unterschreiben, also kein Veto einlegen, werden zukünftig Politiker entscheiden, wer Richter in Polens ordentlicher Gerichtsbarkeit bis hin zum Obersten Gericht wird. Das bedeutet: Polen wird – Vorbild Türkei – zu einem autoritären Staat.

Die PiS-Politiker machen keinen Hehl daraus, wie sie die neuen Gesetze nutzen wollen. Jarosław Kaczyńskis Maske ist vor der Verabschiedung im Parlament gefallen. Er schrie der Opposition zu, sie seien „Kanaillen“ mit betrügerischen Gesichtern, welche seinen bei der Flugzeugkatastrophe 2010 bei Smolensk verstorbenen Bruder und damaligen Staatspräsidenten Lech Kaczyński „ermordet haben“. Propagandageschwätz, wie man es aus der Zeit von 1918 bis 1945 sehr gut kennt.

Seit Jahren versucht Kaczyński mit einer Obsession zu beweisen, dass es kein Unglück gewesen sei, sondern ein Attentat auf seinen Bruder – entgegen aller bekannter Fakten. Nun soll offensichtlich die der Regierung unterstellte Staatsanwaltschaft gemeinsam mit den in naher Zukunft neu eingesetzten Richtern seine These beweisen. Hexenjagd!

Die Reform findet unter dem Vorwand statt, die „kommunistischen Richter“ aus den Ämtern abzuziehen – obwohl das Durchschnittsalter bei den Richtern knapp unter 38 Jahre beträgt und viele sich gar nicht richtig an die Zeiten vor der Wende erinnern können. Die neue Gerichtsordnung ist nicht nur der Regierung dienlich. Sie kann auch den durchschnittlichen Bürger treffen. Wie steht es mit der richterlichen Unabhängigkeit? Wie mit den Grundrechten der Bürger? Mit der „Säuberung“ macht man den Bock zum Gärtner: „alte Zöpfe“ sollen abgeschnitten werden, man steuert aber genau dahin, von wo man mit der Aktion weg will: Aus totalitären Abhängigkeiten.

Die jungen Leute wollen anscheinend nichts davon wissen, was gerade passiert. Ob sie wissen, dass sie ihren Eltern, die friedlich gegen die autoritäre kommunistische Staatsmacht gekämpft haben, die Freiheit zu verdanken haben? Und dass man ihnen auch diese Freiheit jederzeit rauben kann, wenn sie die Demokratie nicht pflegen und verteidigen?

Unter den jungen Polen ist Gleichgültigkeit nicht selten. Seit Jahren ist die Wahlbeteiligung am niedrigsten in der Altersgruppe 18–30 Jahre. Und: Je jünger man ist, desto seltener geht man zur Wahl.

Wenn die jungen Polen jemanden wählen, sind es die Rechten. Die regierende Partei Recht und Gerechtigkeit hat mit 20,8 Prozent in der Altersgruppe 18-29 Jahre gewonnen. Als zweitbeliebteste wählten die jungen Polen die Bewegung Kukiz’15 (19,9 Prozent), die der Rocksänger Paweł Kukiz gegründet hatte. Ihre Reihen sind mit Nationalisten gefüllt, die sich gegen die Aufnahme von Flüchtlingen wehren und von der Islamisierung Europas reden. Drittbeliebteste Partei war KORWiN (16,8 Prozent), deren Anführer Janusz Korwin-Mikke für Nazirufe im Europäischen Parlament bestraft und für seine frauenfeindlichen Aussagen bekannt wurde.

Mehr als die Hälfte der jungen Polen, die zur Wahl gehen, wählen radikal. Soziologen sprechen oft von einer Generation, die in der Europäischen Union, der Polen 2004 beigetreten ist, aufgewachsen ist und keine andere politische Realität kennt. Schon gar nicht die kommunistische Herrschaft in Polen. Die EU erscheint für sie meist als eine komplizierte, unverständliche Bürokratiemaschine, die überflüssig ist. Das stärkt den Glauben, unter anderem die Flüchtlingspolitik aus Brüssel gefährde die kulturelle Identität Polens.

Verbunden ist das Ganze mit der Rebellion bei den Jungen, bei denen jetzt patriotische und nationalistische Kleidung angesagt ist; zum Beispiel mit Slogans wie „Tod den Verrätern des Vaterlandes“. Eine Rhetorik, die in den neunziger Jahren nach dem Kommunismus nicht kannte.

Bislang kamen zu den Antiregierungsprotesten vor allem Polen im Alter von weit über 40 Jahren, die sich noch an den Kommunismus erinnern. Damals wie heute benutzte die Regierung nationalistische Rhetorik, um die Kritik des Westens an der Freiheitseindämmung abzuwehren.

Zu der letzten Demonstration wurden wenige junge Leute erwartet. Schnell wurde man eines Besseren belehrt: Es kamen Tausende Zwanzigjährige, mit National- oder auch mit EU-Fahnen und mit Transparenten, die gegen die Regierung der PiS gerichtet waren. Einige erzählten, sie bereuten, dass es in der Schule so wenig Unterricht über die Solidarność-Bewegung gab, dass sie in einem freien Europa und modernen Polen leben wollten und genug von der staatlichen Propaganda im öffentlich-rechtlichen Fernsehen hätten.

Es war eine der größten Demonstrationen in Warschau seit der Wende, ein Wendepunkt auf dem Weg Polens zum autoritären Staat. Deutlich wurde das, als die jungen Polen begannen, die polnische Nationalhymne zu singen, welche mit den Worten anfängt: Noch ist Polen nicht verloren.