Vor einem Vierteljahrhundert begann die Zuwanderung russischsprachiger Juden nach Deutschland.

„Vor allem mögen wir es nicht, wenn man uns Flüchtlinge nennt. Wir selbst bezeichnen uns als Neuankömmlinge oder als Einwanderer“. Mit diesen Worten beginnt Hannah Arendt 1943 ihren Essay „Wir Flüchtlinge“. Sie analysiert darin die rechtliche Position geflüchteter Menschen, die Situation von Menschen also, die auf nichts als ihr bloßes Leben zurückgeworfen sind, die sich, aller grundlegenden Rechte entkleidet, auf ihr nacktes Menschsein berufen müssen und so von der Willkür und Wohltätigkeit anderer abhängen.

Arendt spricht über die Juden, die sich vor dem Naziregime in die USA retten konnten. Ihre Worte berühren aber einen allgemeinen Aspekt der Situation von Flüchtlingen und vielen Migranten – die Reduktion eines komplexen Lebens mit all seinen Erfahrungen und Hoffnungen auf einen (migrations-)politischen Status. Solange mit Bürger- und Menschenrechten zwei Kategorien von Rechten unterschieden werden, so Arendt, würden Flüchtlinge, egal wie sehr sie sich um Assimilation bemühen, immer Gefahr laufen, erneut für vogelfrei erklärt zu werden.

Arendt erfasst auch die mit dem Flüchtlingsstatus verbundene soziale Abwertung. Sie beschreibt die schmerzhafte Entwertung des bisherigen Lebens in einer Situation, in der man doch alle Ressourcen braucht, um ein neues Leben aufzubauen, weil man das alte hinter sich lassen musste. Mit der Bezeichnung Flüchtling gehen Stigmatisierung, Rechtlosigkeit und der Status der Bedürftigkeit einher. Der hilfesuchende Flüchtling wird schnell, so Arendt, zum ungeliebten Schnorrer. Er bleibt stets der Parvenü.

In Deutschland der Beginn einer anderen Geschichte: der Migration russischsprachiger Juden und ihrer zum Teil nichtjüdischen Partner. Vor über 25 Jahren, im Schatten der deutschen Wiedervereinigung und des Zusammenbruchs der Sowjetunion, wurde mit der Kontingentflüchtlingsregelung eine gesetzliche Regulierung der für alle Beteiligten unerwarteten Migration sowjetischer Juden ausgerechnet nach Deutschland gefunden.

Heute blicken wir auf ein Vierteljahrhundert russischsprachiger jüdischer Migration zurück und sehen neue und wiederbelebte Formen jüdischen Lebens in einer Bundesrepublik, die sich nur widerwillig an ihr neues Selbstverständnis als Einwanderungsgesellschaft gewöhnt. Das scheint der Moment, um an Arendts Überlegungen anzuknüpfen und über die Bezeichnungen nachzudenken, die wir für Flüchtlinge und Migranten finden.

Im Gegensatz zu der von Hannah Arendt erfahrenen Flucht handelt es sich bei den rund 220.000 sogenannten Kontingentflüchtlingen weniger um Flüchtlinge als um Menschen, die aus politischen, aber vor allem wirtschaftlichen Gründen auswanderten. 1990 war allen Beteiligten klar, so Wolfgang Schäuble, damaliger Innenminister, in einem Interview, dass es sich bei ihnen nicht um Asylbewerber im eigentlichen Sinn handelte, sondern „einfach um Menschen, die nach Deutschland kommen wollten, weil sie nicht mehr in der Sowjetunion leben wollten“.

Während die Arbeitsmigranten, die seit den 1960er-Jahren mit ihren Händen und Köpfen das westdeutsche Wirtschaftswunder mitgestalteten, als „Gastarbeiter“, also tatsächlich als Gäste bezeichnet wurden, waren die russischen Juden ein Geschenk an Deutschland. Nun ist die Position eines Geschenkes wahrlich angenehmer als die eines Gastes. Ein Geschenk will und muss man behalten.

Die russischen Juden erfuhren in den 1990er-Jahren wesentlich bessere Aufnahmebedingungen als einige Jahrzehnte vor ihnen die türkischen und südeuropäischen Arbeitsmigranten oder heute geflüchtete Menschen aus Bürgerkriegen wie in Syrien. Sie erhielten zügig einen gesicherten Aufenthaltsstatus, Sprachkurse und eine Arbeitserlaubnis.
So markiert die Migration russischsprachiger Juden eine historische Zäsur. Deutschland wurde wieder Einwanderungsland für Juden, und in den letzten 25 Jahren etablierten sich unerwartete, schöne und oft konfliktreiche Formen jüdischen Lebens inner- und außerhalb der Gemeinden. Die russisch-jüdische Migration trug zu einer Pluralisierung jüdischer Selbstverständnisse in Deutschland und Europa bei, deren langfristige Entwicklungen wir noch nicht abschätzen können.

Die Menschen, die als Kontingentflüchtlinge kamen, fügten sich auch sozial und ökonomisch nicht in die für Flüchtlinge und Einwanderer vorgesehenen Rollen. Sie waren nicht dankbar genug, suchten, gut ausgebildet und selbstbewusst, nach sozialer Anerkennung. Die jüngeren Migranten, vor allem die zweite Generation, sind inzwischen beruflich äußerst erfolgreich, ein Großteil studierte, hat mittlerweile gut bezahlte Jobs.

Zuweilen werden in Feuilletons und Kommentaren der Printmedien Neoliberalismus und Religion in einem Atemzug genannt. Unter religionswissenschaftlichen Gesichtspunkten sind ökonomische Phänomene und sie begleitende Theorien bisher kaum betrachtet worden.

In der kleinen, unvollendet gebliebenen Arbeit Kapitalismus als Religion von 1921 hat Walter Benjamin den modernen Kapitalismus als eine Gesellschaft der gläubigen Aufopferung charakterisiert. Als eine „religiöse Bewegung“, die bis zur „endlichen völligen Verschuldung Gottes“ führt. Die religiöse Struktur des Kapitalismus nicht nur als eine durch den Pietismus begünstigte, ihm quasi entwachsene Gesellschaftsform zu verstehen, wie Max Weber, sondern als „essentiell religiöse Erscheinung“, das traute sich Benjamin noch nicht, weil er befürchtete, in eine „maßlose Universalpolemik“ zu verfallen.

Benjamins Denkansatz bleibt ein wenig im Metaphorischen stecken. Er bezieht den Begriff Religion auf die Ganzheit einer Gesellschaftsformation, also generell auf Leben und Verhaltensweisen der Menschen einer Epoche. Selbst wenn Kapitalismus als Religion gelebt wird, ist er zunächst einmal existenzielle Basis des Lebens. Mit dem Begriff Neoliberalismus verbindet man eine bestimmte Form des Kapitalismus.

Der Neoliberalismus aktiviert Theorien, die ihren Ursprung im bürgerlichen Wirtschaftsliberalismus des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts haben. Insofern ist der Vorwurf heutiger Protagonisten, ihre Gegner, die eine prozyklische Politik à la Keynes fordern, griffen veraltete Konzepte auf, demagogisch. Keynes veröffentlichte seine General Theory of Employment 1936, während der heutige Mainstream sich die Maxime des Klassikers der liberalen Ökonomie, Adam Smith (1723 – 1790), „Laissez faire, laissez aller!“ – „Lasst machen, lasst gehen!“ –, zu zeigen macht. Und zwar unter Verzicht auf seine wahrhaft liberale Theory of Moral Sentiments. Die Smith’sche Formel wird gemieden, aber die Illusion vom „freien Spiel der Kräfte“, in das der Staat nicht, etwa durch einen Mindestlohn, eingreifen darf, wird übernommen. Das haben zuletzt die fünf Wirtschaftsweisen mit ihrem Jahresgutachten 2014/15 überdeutlich offenbart. Der Titel ihrer übergebenen Expertise: „Mehr Vertrauen in Marktprozesse“!

Smith’ Annahme von der Selbstregulation des Marktes, der alle gesellschaftlichen Probleme löse, wenn man das Kapital gewähren lasse, ist ideologisch motiviert und daher für religiöse Implikationen anfällig. Wir haben es mit der Herauslösung eines Begriffs der Praxis ins Übersinnliche zu tun. Schon Alexander Rüstow (1885 – 1963), einer der Geburtshelfer des Ordoliberalismus, hatte Smith’ „unsichtbare Hand“ mit einer „quasi-religiösen Befangenheit“ in der Tradition des Spinozismus erklärt, wonach alles auf der Erde gottgelenkt sei, demzufolge jede menschliche „Regulierung“ schädlich.

Der Markt des Adam Smith setzt voraus, dass alle Kapitaleigner zum Wohlergehen der Gemeinschaft investieren und für Beschäftigung sorgen; ein utopischer Markt!

Eine in sich geschlossene Lehre tritt mit dem Anspruch der „Kontingenzbewältigung und der Sinndeutung der menschlichen Existenz im Diesseits“ auf, so der Historiker Hans-Ulrich Wehler. Die Gralshüter wähnen sich im alleinigen Besitz der Wahrheit. Gerhard Schröder und Angela Merkel: „Es gibt keine Alternative.“ Nach rund acht Jahren grandiosen Marktversagens schwören die Denkfabriken der Neoliberalen unbeirrt weiter auf die Segnungen des freien, will sagen: des entfesselten Marktes. Vor der Krise ist nach der Krise. Als hätte es sie nicht gegeben. Die Lehre ist sakrosankt!

Trotzdem wurde und wird die Theorie der „vollkommenen Märkte“ von der Mainstream-Ökonomie als Garant für Wachstum und soziale Sicherheit betrachtet. „Diese Hoffnung gründet sich eher auf Glauben – besonders bei denjenigen, die davon profitieren – als auf Wissenschaft“ (Joseph E. Stiglitz, Nobelpreisträger).

Nun scheint der Gegenstand der Ökonomie, oberflächlich betrachtet, jede Transzendenz auszuschließen. Der Schein trügt.

Zur Messlatte des Religiösen gehört ein Glaubenssystem, das auf Mythen beruht, die systematisiert und durch Bekenntnisformeln und Dogmen zu einem Weltbild geführt werden (Charles Glock und Rodney Stark Dimensionen des Religiösen). Kanonische Floskeln werden gebetsmühlenartig wiederholt. Um nur einige zu nennen: Wenn es den Unternehmen gut geht, geht es der Gesellschaft gut. Lohnkosten müssen sinken, um Arbeitsplätze zu schaffen. Arbeitszeit ist zu verlängern, damit Umsatz und Kaufkraft gesteigert werden. Diese Dogmen sind nicht nur in sich widersprüchlich (zum Beispiel: wie soll bei gesenkten Löhnen und Sozialleistungen die erhöhte Warenmenge gekauft werden?), die einzelnen Kernsätze halten auch keiner faktischen Prüfung stand.

 

Nicht wenige glauben, dass sich der Kapitalismus im Zuge der rasanten Entwicklung der elektronischen Produktivkräfte von selbst abschaffen werde. Das Ziel einer solidarischen und gerechten Gesellschaft, an deren Aufbau sich alle Wohlmeinenden beteiligen können, scheint im Zuge immer kostengünstigerer Möglichkeiten digitaler Vervielfältigung und Verbreitung von Erzeugnissen durch das Internet in greifbare Nähe zu rücken – ganz ohne Arbeitskämpfe, politische Auseinandersetzungen oder gar eine Revolution.

Das Zauberwort heißt „Share Economy“. Da viele Güter nicht mehr erworben werden müssten, sondern geteilt werden könnten, würde die Profitrate der Konzerne in einem so großen Maße sinken, dass diese ihre gesellschaftliche Machtstellung aufgeben müssten. Das jedenfalls meint der US-amerikanische Wirtschafts- und Politikberater Jeremy Rifkin. Das ökonomische Leben werde demokratischer, verkündete er im Handelsblatt (16.10.2014). Hinzu käme ein positiver ökologischer Effekt: Der Wandel vom Besitz zum Zugang führt auch dazu, dass mehr Menschen weniger Gegenstände teilen, wodurch die Anzahl von neuen Produkten, die verkauft werden, deutlich sinkt. Deshalb werden weniger Ressourcen benötigt, und die globale Erwärmung geht ebenfalls zurück. Die kapitalistische Produktionsweise, so suggeriert Rifkin, werde mit Hilfe der Share Econcomy in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts an Bedeutung verloren haben.

Durch das Teilen sollen Menschen, die sich bis dahin als passive Konsumenten empfanden, in die Lage versetzt werden, mehr Kontrolle über ihr Leben zu gewinnen. Man beginnt mit informellen Tauschbeziehungen – einem Freund das Auto leihen, die Bohrmaschine ausborgen oder ein paar Besorgungen für die Nachbarn erledigen – und nutzt sodann das Internet, um sie im großen Stil zu organisieren, und schon können wir als einzelne stärker aufeinander bauen als auf die anonymen Konzerne. Bei jedem Tauschgeschäft kann jemand ein wenig Geld verdienen und jemand anderes ein bisschen Zeit sparen.

Die unbequemen Wahrheiten der Share Economy:

Die Bewegung wendet sich gegen alle, die derzeit den Markt beherrschen, wie große Hotelketten, Schnellrestaurants und Banken.

Im Unterschied zu diesen auf klassische Weise expandierenden Unternehmen profitieren digitale Plattformen auf mehrfache Weise von ihrer Größe. Wenn sich ihr Geschäftsvolumen merklich vergrößert, ist das kaum mit höheren Kosten verbunden, denn der Preis für die Nutzung einer Computercloud steigt nur unwesentlich. Zugleich zieht die Nachfragemacht gegenüber den Anbietern von Leistungen ständig an – den Fahrern bei Uber, den Verlagen bei Facebook, den Musikfirmen bei Youtube usw.. Das schafft Raum für die Durchsetzung härterer Konditionen.

Kritiker meinen: An die Stelle der herkömmlichen Unternehmen, die Menschen noch überwiegend in geregelten Arbeitsverhältnissen beschäftigen, treten digitale Plattformen, die Konsumenten direkt mit einer ständig wachsenden Zahl von Arbeitskraftverkäufern – euphemistisch Mikrounternehmer genannt – verbinden. Dabei handelt es sich in Wirklichkeit um eine neue Form von Tagelöhnerei. Diese Plattformen werden von Firmen zur Verfügung gestellt, die an privatem Profit orientiert sind. Die radikale ökonomische Strukturveränderung, die mit dem Siegeszug digitaler Plattformen verbunden ist, mündet daher nicht in der Abschaffung des Kapitalismus, sondern in der Verlagerung seines Machtzentrums. Die Share Economy ist daher mit einer deutlichen Konzentration wirtschaftlicher Macht und einem Rückgang regulärer Beschäftigung verbunden.

Hinter dem Ideal des offenen Zugangs zu künstlerischen Erzeugnissen (Open access) stehen knallharte wirtschaftliche Bestrebungen, die bestehende Märkte und Unternehmen zerstören, um weniger wettbewerbsintensive Märkte und noch mächtigere Monopolunternehmen zu schaffen. Statt von einer demokratischen Bewegung für mehr Gleichheit wird die Share Economy dominiert von den Interessen einer kleinen Anzahl von Technologiekonzernen, die ihre expansiven Geschäftsmodelle nur deshalb so radikal durchsetzen können, weil sie sich auf einen riesigen Berg von Risikokapital stützen können.

Nehmen wir das Beispiel der Transportvermittlungsplattform Uber, in die allein Google laut FAZ (22.12.2013) im Jahr 2013 258 Millionen Euro investiert hat. Der Erfolg des Unternehmens hat, so Experten, „viel damit zu tun, dass es die Ausgaben für Versicherung, Umsatzsteuer, Inspektionen der Fahrzeuge und Barrierefreiheit vermeidet. Uber kann den Kunden einen billigen, effizienten Dienst anbieten, weil es dank des vielen Geldes, das es bekommen hat, beim Kampf um Wachstum auch Verluste in Kauf nehmen kann“.

Versucht das Unternehmen in einer neuen Stadt Fuß zu fassen, unterbreitet es Fahrern und Kunden zunächst Sonderkonditionen, um das Geschäft anzuschieben. „Sobald sich Uber etabliert hat, beansprucht es einen größeren Anteil an jedem Dollar und kürzt oft die Fahrpreise. Im Lauf der Zeit hat Uber immer mehr vom Fahrpreis einbehalten.“ Die Fahrer sind keine Angestellten. Schon bei wenigen schlechten Bewertungen durch die Fahrgäste drohen sie, ihre Existenzgrundlage zu verlieren.

 

Ideologie

Jeder, der von der eigenen Meinung einigermaßen abweicht, wird als „ideologisch” bezeichnet. Der Begriff der Ideologie wird verwendet, um jemandem vorzuwerfen, dass er oder sie eine Idee von etwas über die Realität stellt und damit die Thematik gar nicht richtig fassen könne. Dazumal forderte EU-Parlamentspräsident Martin Schulz eine „ideologische Abrüstung” in den Griechenland-Verhandlungen.

Ideologie im sozialwissenschaftlichen Verständnis ist vielmehr genau die Meinung, die gesellschaftlich so fest verankert ist, dass sie selbstverständlich geworden ist und nicht mehr selber erfasst werden kann. Es ist nicht die Abweichung, sondern das unreflektierte Zentrum. Die ideologischen Säulen unserer Gesellschaft sind daher entstanden aus vergessenen Selbstverständlichkeiten, die aber keineswegs ewige Wahrheiten sein müssen.

Das Zerfallen von Ideologien geht nicht auf eine steigende Kritikfähigkeit qua bessere Bildung zurück, sondern auf das Scheitern jener an der Realität. Der neoliberale Konsens der politischen Mitte bröckelt. Dieses Auseinanderfallen der neoliberalen Selbstverständlichkeit provoziert den Vorwurf der ideologischen Verblendung an die aufkeimenden Alternativen. Der Ideologievorwurf geht von der ideologischen Mitte an die Randbezirke politischer Praxis. Zu deutsch: große Alternativlosigkeit zerfällt und überzieht die Alternativen mit dem, woraus sie selbst besteht: Ideologie.

In den letzten Jahren haben sich einige Selbstverständlichkeiten der Gesellschaft in Luft aufgelöst: Die Rente ist nicht mehr sicher, der Kapitalismus führt nicht zu steigendem Wohlstand für alle, was gut für die Wirtschaft ist, nicht aber für die Menschen. Wir können nicht immer weiter wachsen, die Klimakatastrophe wird doch nicht gelöst, Griechenland kann durch die Sparpolitik nicht wachsen und jüngst die Erkenntnis, dass Deutschland nicht das friedvolle humanistische Land ist, sondern ein Land mit einem massiven Rassismusproblem.

Die Realität trifft die Ideologie der Mitte ins Herz. Die traditionellen Parteien der Mitte (CDU und SPD) haben schon lange ihre totale Deutungshoheit verloren, was die Erweiterungen des Parteienspektrums ermöglicht hat. Parteien wie Syriza und Podemos sind die Negation der Ideologie, nicht ihr Ausdruck. Wobei sich das Verhältnis jederzeit drehen kann.

Die Ideologie der Mitte ist daher vor allem durch den konservativen Impetus beseelt, dass die alten Konzepte immer noch die beste Lösung bieten in einer dynamischen Welt. Gerade die Dynamik in Ökonomie, Politik und Kommunikation ist mit den alten Mitteln der Reformanpassung an die Realität nicht mehr zu bewerkstelligen. So kann eine Rentenreform die menschenwürdige Rente nicht retten, eine Energiewende kann den Klimawandel nicht aufhalten, Sparen wird Griechenland nicht retten, der Mindestlohn wird die Kluft zwischen Arm und Reich nicht schließen. Trotzdem werden alle großen Probleme mit kleinen Reformen angegangen, obwohl abzusehen ist, dass diese bei weitem nicht ausreichen werden. Aber: jede große Reform beginnt mit dem ersten kleinen Schritt …

Dazu kommt, dass viele Probleme miteinander verwoben sind. Der Rassismus und die soziale Kälte haben mit der Abstiegsangst vieler Bürger zu tun, unsere Arbeitsmodelle passen nicht mehr zur vorhandenen Arbeit und die meisten Flüchtlinge kommen zu uns, weil unsere Kriege und unsere Ausbeutung viele Länder Asiens und Afrikas zerstört und verroht haben.

Reformismus, der diese Probleme nicht im Zusammenhang sieht, endet in Partikularismus. Der Sozialphilosoph Max Horkheimer hat einmal geschrieben, wer vom Kapitalismus nicht reden wolle, solle auch über den Faschismus schweigen. Damit spricht er aus, was daraus folgt, wenn man die gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge nicht mehr im Blick hat.

Universale – revolutionäre oder radikale – Lösungsansätze verschwinden so aus dem Horizont der Politik. Dieser Horizont ist noch durch die Mitte geprägt, die radikale Lösungen stets als ideologisch bezeichnet, ohne zu merken, dass sie selbst nur die ideologische Deutungshoheit der Mitte bewahrt.

Wer die Erweiterung des eigenen Horizonts, der eigenen Denkräume, rigoros verhindert, der hält das politische Feld nicht in der Mitte, sondern lässt es erodieren. Die deutsche Regierung muss verstehen, dass sie einen Interessenausgleich in Europa und auch weltweit herstellen muss, aber dafür muss sie ihre Ideologie der Mitte reflektieren. Gelingt das nicht, dann wird die Realität das politische Feld früher oder später auch in Deutschland über Nacht erodieren lassen, spätestens dann, wenn sich die ökonomische Lage auf den globalen Märkten weiterhin verschärft und der Export einbricht.

Der aufkommende Rassismus dieser Tage lässt befürchten, dass solche „Weimarer Verhältnisse“ blutig werden und die bürgerliche Mitte am Ende wieder nach rechts schwenkt, wenn sich eine Entscheidung zuspitzt.

Ideologiekritik heute wäre ein Angriff auf den common sense, um daraus Alternativen zu generieren, nicht ein solcher auf die Alternativen, um den common sense zu bewahren.

Sieht man sich die Abgrenzungen gegenüber Flüchtlingen aus dem arabisch-afrikanischen Raum an, stößt man auf naturalisierte Merkmalszuschreibungen, die die Elementarform des modernen Rassismus darstellen: Der Migrant aus dieser und jener Region wird als von Natur aus ganz andersartig imaginiert, was mit beliebigen Merkmalen bebildert wird: Mal ist es die dunklere Hautfarbe, mal sind es religiöse oder kulturelle Besonderheiten, die historisch genauso zufällig sind wie unsere eigenen – damit aber auch wandelbar, wie man spätestens in der zweiten Generation bei vielen Zuwanderern bemerken kann.

Fremdenfeindlichkeit heute beruht auf nationalen Abgrenzungen, auf dem modernen Nationalismus, der derzeit wieder eine völkische Interpretation erfährt: Will heißen: die Fremden, die als Kriegsflüchtlinge bei uns Schutz suchen, sind nicht nur fremd, sondern andersartig, d.h. gehören von Natur aus nicht zu „uns“. Die eigentlichen Fragen nach den wirklichen Integrationsbedingungen wie Wohnraum und Lebensunterhalt sind außen vor, da es völkischen Nationalisten um das Grundsätzliche geht: Die gehören einfach nicht hierher, weil sie nicht wie wir sind. Einerseits werden zufällige wie nebensächliche äußerliche und kulturelle Eigenheiten zu Grundsatzfragen aufgeblasen – als ob wegen eines Flüchtlings das Weizenbier ausginge! Andererseits wird bei wesentlichen Auffassungsunterschieden – wie bezüglich der Gleichstellung der Frauen – kein offener Dialog geführt, sondern allen Muslimen pauschal unterstellt, dass sie in diesem Punkt dieselben unpassenden Ansichten aufweisen würden. Was sich tautologisch daraus ergibt, dass sie von Natur aus Fremde, sogar besonders „fremdartige Fremde“ sind.

Es gibt unterschiedliche „Identitäten“ – zumindest in dem Sinne, dass Menschen sich als Personen über ihre Eigenschaften, Eigenheiten, Werte und Überzeugungen definieren. Problematisch wird es aber dann, wenn dabei übersehen wird, dass diese Persönlichkeitselemente nicht qua Herkunftsregion fest verwachsen in einer Person stecken, sondern selbst Resultat zufälliger Entwicklungen sind, die von Ort und Zeit der Geburt bis zu besonderen familiären Einflüssen reichen. Dass man ohne Identität nicht leben kann, heißt noch lange nicht, dass jenes Sammelsurium an Ansichten, Symbolen und Überzeugungen unabdingbar ist, das einem aus einer zufälligen biographischen Situation heraus anhaftet.

Beachtet man dies, schaut man auf die eigene wie fremde Identität nicht mehr mit der abgrenzenden Absolutheit, wie sie religiösen und nationalistischen Fanatikern eigen ist. Vor allem die Zugehörigkeit zu nationalen Kollektiven ist eine von der politischen Herrschaft, den Staaten selbst vorgenommene Etikettierung. Nichts an der permanent bemühten religiösen, nationalen, kulturellen oder sozialen Identität ist einfach gott- oder naturgegeben und deshalb kritiklos vorauszusetzen.

Bildung ist Voraussetzung von gelungener Integration. Eine rationale Diskussion zu diesem Thema befasst sich daher mit den Ursachen des geringen Bildungsniveaus und der Armut in der migrantischen Unterschicht, als auch und vor allem mit unserem Wirtschaftssystem, dessen Kritik inzwischen eines der hartnäckigsten politischen Tabus darstellt; nur noch vergleichbar mit der Tabuisierung der Sklaverei in der Antike.

Die Flüchtlinge kommen nicht deswegen, um die Qualifikationsprobleme und Arbeitskräftenachfrage der deutschen Wirtschaft zu befriedigen; sie werden als an Leib und Leben bedrohte Asylbewerber definiert und aufgenommen. Inwieweit dann Integration möglich und erwünscht ist, hängt vor allem von der herrschenden Ökonomie und deren Bedürfnissen ab. Man sollte nicht so tun, als wenn der „Normalbürger“ etwas zu sagen hätte; Flüchtlinge werden sowieso nicht gefragt. Man muss analysieren, unter welchen Bedingungen Flüchtlinge in eine kapitalistische Hochleistungsökonomie wie die deutsche integriert werden können. Nationalistische Debatten, die so tun, wie wenn „wir“ über die Flüchtlingsintegration zu befinden hätten, gehen an den wirklichen Machtverhältnissen und Rahmenbedingungen vorbei.

Man muss wissen, worum es beim anti-westlichen, religiös aufgeladenen Terror eigentlich geht: Er reflektiert die Unzufriedenheit der dem globalen Kapitalismus amerikanischer Prägung unterworfenen Bevölkerungen mit den Resultaten, die ihnen diese Unter- und Einordnung eingebracht hat: Zwar werden ihre korrupten politischen und ökonomischen Eliten für ihre geo- und rohstoffpolitischen Dienstleistungen als Vasallen der kapitalistischen Industriestaaten bestens genährt. Aber für die Masse der ansässigen Menschen springen nur wenige arbeitsintensive und oft auch noch ruinöse Arbeitsplätze heraus, wie z.B. die Auslagerung der amerikanischen Jeans-Fertigung nach Tunesien oder Ägypten.

Es hängt viel von der ökonomischen Integration ab: Wer seinen Lebensunterhalt verdienen kann, ein vernünftiges Dach über dem Kopf hat und dessen Kinder in der Schule klar kommen, hat keinen Grund, sich aus einer frustrierenden Erfahrung der Ablehnung heraus pointiert von seiner Umgebung abzugrenzen.

Dreh- und Angelpunkt sind die ökonomischen Verhältnisse: Was der moderne Kapitalismus in Deutschland vor dem Hintergrund von Euro-Krise, diversen Rationalisierungswellen und einem expandierenden Billiglohnsektor, der Masse der Zuwanderer zu bieten hat, ist eine eigene Diskussion wert, die aber niemand so führen will – da ist das aufgeblasene Geschrei über die Fremdartigkeit der Flüchtlinge schon einfacher, aber auch dümmer.

Intellektuelle, freie Denker! Wie frei sind wir eigentlich?! Schon mal überlegt? Wir hängen doch mittendrin in dem ganzen Schlamassel: Ein(e) jede(r) ist Bestandteil dieser Gesellschaft. Du bist Individuum? Aha! Seit wann? Und vor allem: wirklich? Schon mal überlegt, dass dieses Eingewobensein in das Netz der Gesellschaft uns – jedenfalls zu einem erheblichen Teil – in unserem Denken unfrei macht?! Man kann geistig über die Natur des „Gesellschaftstieres“ nicht hinaus. Nicht im Denken. Gesellschaft prägt und vollkommen frei geht anders …

„Wer denkt, … ist nicht wütend“, sagte dazumal Theodor Adorno. Er war unter anderem ein Philosoph der sogenannten „Frankfurter Schule“. Wie bei den meisten Theoretikern dieser Schule steht das Denken Adornos unter dem Einfluss von Marx, Freud und Hegel. Deren Theorien übten auf viele linke Intellektuelle in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine große Faszination aus. Mit kritischem Unterton sprach Lorenz Jäger einmal von Adornos „Achillesferse“, will heißen, dessen „fast unbegrenztem Vertrauen auf fertige Lehren, auf den Marxismus, die Psychoanalyse, die Lehren der Zweiten Wiener Schule“. Wut ist gut! Skeptiker mögen einwenden: Was ist mit der Kritik der politischen Ökonomie? Schließlich ist das Gefühl tückisch, es kann sich an alles Mögliche heften und ist ein unzuverlässiger Begleiter auf dem Weg zur Befreiung. Brauchen wir nicht noch immer die alte Ideologiekritik? Nur nicht zu viel davon, entgegnen Populisten, bloß keine langweilige Debatten! Die linkspopulistischen Intellektuellen wollen, dass man das Denken ihnen überlässt. Sie, die neoleninistische Avantgarde, bildet den Kopf; das Volk, die Herde, ist bloß eine formbare, affektgetriebene Masse.

Gegen derlei Bevormundung ist an der alten marxistischen Parole festzuhalten, dass die Befreiung der Arbeiterklasse nur das Werk der Arbeiterklasse selbst sein könne – dazu gehört aber auch, dass sich die Arbeiter von sich selbst befreien, dass sie sich als Klasse aufheben müssen. Denn auch sie sind heillos verstrickt in den kapitalistischen Gesamtzusammenhang, weil sie fleißig mittun und die Hoffnung aufs ganz Andere kaum haben. Das hieße, von einer Affektpolitik abzurücken und die „Anstrengung des Begriffs“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel) nicht zu scheuen. Aber so nah, dass sie ihm diese Fähigkeit zur Einsicht zutrauen würden, sind die intellektuellen Populisten dem Volk dann doch nicht. So lassen sie es weitermachen und unterbreiten ihm, um es von der rechten Konkurrenz wegzulocken, lieber ein paar paternalistische Angebote. So muss sich niemand ändern, alles bleibt beim Alten; Linkspopulismus ist immer dann in, wenn´s anderweitig gerade mal wieder nicht so richtig gefruchtet hat.

Schaufensterbummel! Da gucken wir und können uns für das Produkt Emanzipation oder Barbarei entscheiden. Und nur weil die Barbarei geschicktere Werbung platziert hat, entscheiden sich leere Subjekthüllen für sie. Den Massen wird nicht einmal zugetraut, eine rassistische Partei zu wählen, weil sie selbst rassistisch denken; sie sind fehlgeleitete Schafe, die den richtigen Hirten noch nicht gefunden haben. Das erniedrigt sie erstens zu äußerst stumpfen, blinden Wesen und spricht sie zweitens vorschnell frei von Verantwortung. Das war nach 1945 und 1989 nicht anders!

Grölende rechte Horden hassen jeden Gedanken an Emanzipation, sie wollen keinen Klassenkampf, keine Assoziation freier, gleicher Individuen, sondern sie wollen rassistisch sein und sind bereit, dafür Kompromisse zu machen.

Ins linkspopulistische Horn stößt der marxistische Philosoph Slavoj Žižek, der zwei Krisenreaktionen in Europa beobachtete: eine emanzipatorische Antwort der Linken und eine autoritäre, faschistoide, die der Front National (aber auch der islamistische Terrorismus) gibt. Es komme nun darauf an, den Rechten das Wasser abzugraben, indem die Linke den Frust für ihre Zwecke einspannt.

Dahinter steckt eine Einsicht Walter Benjamins aus den 1930er Jahren, dass jeder Faschismus die Reaktion auf eine vertane Chance zur Revolution ist – weil die Linke einst versagte, kommen nun die Rechten zum Zuge. Beiden liegt ein und dasselbe diffuse Unbehagen an der Gegenwart zugrunde, das sie in ihr Parteiprogramm gießen und damit um die Gunst der Unzufriedenen buhlen.

Es geht noch weiter bei Benjamin: Der faschistischen „Ästhetisierung der Politik“ müsse von emanzipatorischer Seite mit der „Politisierung der Kunst“ begegnet werden. Linkspopulisten machen es anders, sie ästhetisieren die Politik und fordern den Rechtspopulismus damit dort heraus, wo er am stärksten ist. Ein Sieg ist da kaum in Sicht.

Zu deutsch: Parteien wie die AfD fordern Deutschlandbezug von Museen und Staatsfernsehen, die intellektuelle Linke ist aufgerufen, schön dagegen anzuschreiben bzw. zu malen.

Der Grat zwischen zweckgebundener Propagandakunst, die doch mit Populismus im Bunde steht, und einem autonomen Kunstwerk, das „interesseloses Wohlgefallen“ (Immanuel Kant) erzeugt, dann aber über sich hinausweist und in die Sphäre des Politischen einbricht, ist schmal.

Was bleibt? Die Erkenntnis, dass wir doch keine freien Denker sind. „Gesellschaftstiere“ …

 

 

Körperlich ausgeübte Gewalt ist zu über 90 Prozent männlich. Es kommt aber darauf an, von welcher Gewalt man spricht. Es gibt viele Arten von Gewalt. Man kann die Gesellschaftsformen, die unsere Kultur entwickelt hat, als Versuche beschreiben, die Gewalt, die in ihnen steckt, zu beherrschen, zu kontrollieren, zu minimieren oder sogar zu verwandeln ins Gegenteil: in freundliches, produktives Miteinander.

Die Gewalterzeugung selbst gehört zu den Menschen, nicht nur im Sinne direkter Aggressionen. Unsere Art und Weise, in die Natur einzugreifen, sie umzuarbeiten, zu gestalten, sie auszubeuten, ist prinzipiell gewalttätig. Unsere Arbeitsverhältnisse, die Organisation unserer Fabriken, des Straßenverkehrs, unsere Wohnverhältnisse, sowie unsere Beziehungen sind immer auch Gewaltverhältnisse. Das vergessen wir oft im Alltag. Wir sprechen von „Gewaltenteilung“, wenn wir Gesetzgeber, unsere Exekutive, wie z.B. die Polizei und die Rechtsprechung voneinander trennen. Die politische Macht mit ihrem „Gewaltmonopol“, das wir ihr zugestehen, soll kontrolliert und begrenzt werden.

Dem gegenüber gibt es direkte Aggression.

Kein Tier kann mithalten mit dem Gewaltpotenzial des Menschen.

Gibt es Unterschiede in puncto Gewalt zwischen Männern und Frauen? Der Unterschied liegt grundsätzlich in der verschiedenen Körperlichkeit von Frauen und Männern. Der biologische Unterschied ist dabei aber nicht der entscheidende. Die Differenz basiert auf jahrtausendelangen gesellschaftlichen Konditionierungen: Arbeitsteilungen. Männerkörper und Frauenkörper werden verschieden zu- und ausgerichtet in ihren sozialen Funktionen. Frauen: im Haus, auf den Feldern und mit Kindern. Männer: im Außenbereich, im Bau der Festungsanlagen, im Bergbau, im Schiffsbau.

Krieg – zum Beispiel – ist eine Erfindung von sesshaft gewordenen männerdominierten Gesellschaften.

Männer sitzen auf Pferden, fahren auf Schiffen: Krieger! Die Amazonen (altgriechisch Ἀμαζόνες – Amazones) der altgriechischen Mythen und Sagen, mit Pfeil und Bogen und amputierter Brust kämpfende Kriegerinnen, sind eine Männerphantasie. Der Mannkörper, der kulturell historisch darauf gedrillt ist, seine emotionalen Problematiken in muskulären Aktionen nach außen zu richten, gegen Andere, ist keine Frauenphantasie, sondern eine Tatsache. Das gilt bis heute! Männer werden unter Belastung eher aggressiv (nach außen), Frauen eher depressiv (also nach innen) – das ist mehrfach belegt. Vieles davon löst sich in modernen Gesellschaften auf. In den meisten Gesellschaften der Erde aber ist die männliche Gewaltdominanz nach wie vor gesetzlich abgesichert.

Es gibt bestehende „Ungleichzeitigkeiten“, die es zu bedenken gilt. Was in der einen Gesellschaft historisch überholt ist, ist in der andern aktuell und gültig. In Ländern, in denen sich eine Politik der Gleichheit der Geschlechter langsam durchsetzt, dürfen Männer auch schwach sein. Das hängt davon ab, ob sich Menschen in der Umgebung befinden, die das zulassen. Die Gewalterfahrung mildert sich ab, wenn man sie mit anderen teilen kann; es eröffnen sich Wege gewaltfreien Verhaltens.

Stichwort Gewalterfahrung: Es ist möglich, Arten von Gewalt nach Geschlechtern zu unterteilen. Gewalt durch Frauen geschieht auf anderen Feldern als den männlichen. Frauen können ihre Kinder ablehnen oder quälen; sie können untereinander tödlich konkurrieren („Zickenkrieg“) oder sich gemein verhalten. Frauen führen die Giftmordstatistik an. Sie können anderen das Leben zur Hölle machen. Sie sind eine andere Art Gewalttäter als Männer. Sie sind nicht die Vollstrecker körperlicher Zerstörungsgewalt; diese ist fast immer männlich, überall auf der Welt. Männer schlagen Frauen; umgekehrt passiert das selten. Frauengruppen, die andere menschliche Körper in Lustzuständen zerstören und sich damit brüsten, gibt es kaum auf der Welt. Eine Ausnahme könnten Kriegerinnen des Islamischen Staates sein, wofür es aber keine aktuellen Belege gibt. Dass sich die Bereitschaft in diesem Feld zu neuen Arten von Gewalt derzeit im Wandel befindet, ist aber höchst wahrscheinlich.

Ausgeübte Gewalt gegen andere zerstört immer auch etwas in der eigenen Körperlichkeit. Bei den gewalttätigen oder folternden Männern zerstören ihre Handlungen die Möglichkeiten für das Mitempfinden dessen, was in anderen Körpern vorgeht. Ausgeübte körperliche Gewalt trennt nicht nur von den Gefühlen anderer, sie trennt auch von den eigenen Gefühlen. In diesem Punkt sind Frauen die weniger Zerstörten unserer Gesellschaften.

Psychische Gewalt ist auch physische Gewalt. Nur ihre Spuren sind verschieden. Das blaue Auge sieht jeder; die wunde Psyche nimmt man selten wahr.

Fazit: Alle Gewalt ist zerstörerisch!

 

 

Ministerialstuben in Bundesländern, noble Lounges in Brüssel und klimatisierte Büros des Bundesministeriums für Bildung und Forschung in Berlin. Von dort erging jüngst, adressiert an die Forscher der Republik, ein „Strategie“ genanntes Open-Access-Reglement. Das Papier war flankiert von den üblichen Taktiken bestellter Gutachten und konsensfähig gemacht von den durchweg parteiisch besetzten Podien auf den üblichen Urheberrechtskonferenzen und Open-Access-T-Shirt-Wochen – finanziert, natürlich, von niemandem.

Niemand hat die Absicht, Forscher grundgesetzwidrig zu einer Open-Access-Publikation zu zwingen. … ?

Die „Strategie“, wenn man sie einmal so nennen will, ist sehr einfach. Statt die Vielzahl von Publikationsformen und die in Urheberrecht und Grundgesetz Artikel 5 Absatz 3 verankerten Rechte von Lehrern und Forschern zu pflegen, mindestens aber zu achten, prätendiert das Ministerium, die Weisheit über die Zukunft des Publikationswesens mit Löffeln gegessen zu haben. Es schreibt für Publikationen, die aus BMBF-geförderten Forschungen hervorgehen, eine zwangsweise Open-Access-Veröffentlichung vor. So und nicht anders!

Die barock-absolutistische Mischung von Arroganz und Besserwisserei, mit der das Papier verfasst ist, hat Züge des Despotischen. Behauptet wird zunächst, das Ministerium folge dem einhelligen Wunsch „der Wissenschaft“, ohne dass dafür irgendwelche „belastbaren“ Daten vorlägen. Die abgehobene Führungsetage des BMBF versteht sich schon lange als Repräsentant der zugleich von ihm finanziell abhängigen und undurchdringlich mit ihm verwobenen großen Wissenschaftsorganisiationen. Wäre in unserem demokratischen Staatswesen alles in Ordnung, müssten Ministerien die Steuerungsbedürfnisse und Spezialinteressen großer Institutionen eher eingrenzen, als sich als deren Agenten am Kabinettstisch zu gerieren. Das Gegenteil ist der Fall!

Kühn behauptet man, dass sich das Reglement des BMBF keineswegs über geltendes Recht und Grundgesetz hinwegsetze. Schließlich stehe jedem frei, auf die Mittel des BMBF zu verzichten. Statuiert wird, mit einem beträchtlichen Maß an Heuchelei, es handle sich bei den BMBF-Förderangeboten um fair auszuhandelnde Verträge unter gleichberechtigten Partnern. Angesichts der nahezu vollständigen Drittmittelabhängigkeit der Forscher an Universitäten und der nivellierten Open-Access-„Strategien“ der großen Wissenschaftsförderinstitutionen ist das ein schlechter Witz. In Wahrheit tritt ein vor Struktur- und Finanzmacht strotzendes Fördermonopol einem durch und durch abhängig gemachten Wissenschaftler gegenüber und greift rücksichtslos in dessen verbürgte Grundrechte ein. Die Souveränität eines wissenschaftlichen Autors, über den Ort seiner Publikation autonom zu entscheiden, ist aber keine Marginalie. Sie folgt als Kernrecht aus der Freiheit von Forschung und Lehre und darf niemals von wissenschaftsexternen Interessen abhängig gemacht werden.

Nähme der deutsche Gesetzgeber seine Rolle im Staat wahr, dann dächten demokratische Abgeordnete nicht über Einschränkungen des Urheberrechts nach, sondern darüber, wie zu verhindern ist, dass Wissenschaftler auf eine derart anmaßende Weise von Institutionen gegängelt werden, die einmal zur Förderung individueller Forschung eingerichtet wurden, mittlerweile aber immer mehr zu Anstalten von Forschungssteuerung heruntergekommen sind.

Man meint das Zentralkomitee der SED zu hören, wenn die kühne These in den Raum gestellt wird, durch Open Access vermögen „die Wissenschaften“ „rasanter voranschreiten als je zuvor“. Und dann kommt, natürlich, auch die Einschärfung des Zwangs Open-Access-Politik: „Was allerdings gar nicht geht, ist eine Verweigerungshaltung gegenüber präsenten Entwicklungen.“

Wenn man das alles so liest, wünscht man sich doch kenntnisreiche Berater für die Ministerin ins BMBF. Jemanden, der ihr den einfachen Unterschied zwischen Patent- und Urheberrecht erläutert; der ihr geduldig darlegt, worin die vom Grundgesetz geschützte Differenz zwischen freier Forschung und Auftragsarbeiten liegt. Und, vor allem, was ein staatlich verbrämter Übergriff in verbürgte Grundrechte ist: nämlich ein Fall für den Verfassungsschutz.

Warum will im BMBF eigentlich niemand mehr zuhören? Der ohne Not veranstaltete Open-Access-Zirkus arbeitet nur den großen internationalen Oligopolverlagen zu.

Jutta Ditfurth sagte einmal, aus den deutschen Parlamenten sei noch nie etwas Gutes für die Bevölkerung gekommen. Ich kann dem nicht widersprechen. Bei den deutschen Ministerien ist es leider genauso.