Vor einem Vierteljahrhundert begann die Zuwanderung russischsprachiger Juden nach Deutschland.

„Vor allem mögen wir es nicht, wenn man uns Flüchtlinge nennt. Wir selbst bezeichnen uns als Neuankömmlinge oder als Einwanderer“. Mit diesen Worten beginnt Hannah Arendt 1943 ihren Essay „Wir Flüchtlinge“. Sie analysiert darin die rechtliche Position geflüchteter Menschen, die Situation von Menschen also, die auf nichts als ihr bloßes Leben zurückgeworfen sind, die sich, aller grundlegenden Rechte entkleidet, auf ihr nacktes Menschsein berufen müssen und so von der Willkür und Wohltätigkeit anderer abhängen.

Arendt spricht über die Juden, die sich vor dem Naziregime in die USA retten konnten. Ihre Worte berühren aber einen allgemeinen Aspekt der Situation von Flüchtlingen und vielen Migranten – die Reduktion eines komplexen Lebens mit all seinen Erfahrungen und Hoffnungen auf einen (migrations-)politischen Status. Solange mit Bürger- und Menschenrechten zwei Kategorien von Rechten unterschieden werden, so Arendt, würden Flüchtlinge, egal wie sehr sie sich um Assimilation bemühen, immer Gefahr laufen, erneut für vogelfrei erklärt zu werden.

Arendt erfasst auch die mit dem Flüchtlingsstatus verbundene soziale Abwertung. Sie beschreibt die schmerzhafte Entwertung des bisherigen Lebens in einer Situation, in der man doch alle Ressourcen braucht, um ein neues Leben aufzubauen, weil man das alte hinter sich lassen musste. Mit der Bezeichnung Flüchtling gehen Stigmatisierung, Rechtlosigkeit und der Status der Bedürftigkeit einher. Der hilfesuchende Flüchtling wird schnell, so Arendt, zum ungeliebten Schnorrer. Er bleibt stets der Parvenü.

In Deutschland der Beginn einer anderen Geschichte: der Migration russischsprachiger Juden und ihrer zum Teil nichtjüdischen Partner. Vor über 25 Jahren, im Schatten der deutschen Wiedervereinigung und des Zusammenbruchs der Sowjetunion, wurde mit der Kontingentflüchtlingsregelung eine gesetzliche Regulierung der für alle Beteiligten unerwarteten Migration sowjetischer Juden ausgerechnet nach Deutschland gefunden.

Heute blicken wir auf ein Vierteljahrhundert russischsprachiger jüdischer Migration zurück und sehen neue und wiederbelebte Formen jüdischen Lebens in einer Bundesrepublik, die sich nur widerwillig an ihr neues Selbstverständnis als Einwanderungsgesellschaft gewöhnt. Das scheint der Moment, um an Arendts Überlegungen anzuknüpfen und über die Bezeichnungen nachzudenken, die wir für Flüchtlinge und Migranten finden.

Im Gegensatz zu der von Hannah Arendt erfahrenen Flucht handelt es sich bei den rund 220.000 sogenannten Kontingentflüchtlingen weniger um Flüchtlinge als um Menschen, die aus politischen, aber vor allem wirtschaftlichen Gründen auswanderten. 1990 war allen Beteiligten klar, so Wolfgang Schäuble, damaliger Innenminister, in einem Interview, dass es sich bei ihnen nicht um Asylbewerber im eigentlichen Sinn handelte, sondern „einfach um Menschen, die nach Deutschland kommen wollten, weil sie nicht mehr in der Sowjetunion leben wollten“.

Während die Arbeitsmigranten, die seit den 1960er-Jahren mit ihren Händen und Köpfen das westdeutsche Wirtschaftswunder mitgestalteten, als „Gastarbeiter“, also tatsächlich als Gäste bezeichnet wurden, waren die russischen Juden ein Geschenk an Deutschland. Nun ist die Position eines Geschenkes wahrlich angenehmer als die eines Gastes. Ein Geschenk will und muss man behalten.

Die russischen Juden erfuhren in den 1990er-Jahren wesentlich bessere Aufnahmebedingungen als einige Jahrzehnte vor ihnen die türkischen und südeuropäischen Arbeitsmigranten oder heute geflüchtete Menschen aus Bürgerkriegen wie in Syrien. Sie erhielten zügig einen gesicherten Aufenthaltsstatus, Sprachkurse und eine Arbeitserlaubnis.
So markiert die Migration russischsprachiger Juden eine historische Zäsur. Deutschland wurde wieder Einwanderungsland für Juden, und in den letzten 25 Jahren etablierten sich unerwartete, schöne und oft konfliktreiche Formen jüdischen Lebens inner- und außerhalb der Gemeinden. Die russisch-jüdische Migration trug zu einer Pluralisierung jüdischer Selbstverständnisse in Deutschland und Europa bei, deren langfristige Entwicklungen wir noch nicht abschätzen können.

Die Menschen, die als Kontingentflüchtlinge kamen, fügten sich auch sozial und ökonomisch nicht in die für Flüchtlinge und Einwanderer vorgesehenen Rollen. Sie waren nicht dankbar genug, suchten, gut ausgebildet und selbstbewusst, nach sozialer Anerkennung. Die jüngeren Migranten, vor allem die zweite Generation, sind inzwischen beruflich äußerst erfolgreich, ein Großteil studierte, hat mittlerweile gut bezahlte Jobs.