70 Jahre nach der Gründung der Nato unterstrich Generalsekretär Stoltenberg erneut die Bedeutung der Militärallianz. Sie sei das einzige Forum, in dem Europa und Nordamerika zusammen diskutierten und gemeinsame Maßnahmen beschlössen, sagte Stoltenberg vor einem Arbeitstreffen der Staats- und Regierungschefs nahe London. Die Nato sei nicht „hirntot“, wie es Frankreichs Präsident Macron gesagt habe. Vielmehr sei sie aktiv und anpassungsfähig. Der britische Premierminister Johnson betonte, die Nato bringe Frieden und Sicherheit.

Das ist so ziemlich das Gegenteil dessen, was man einem rüstigen 70-Jährigen kurz vor der Jubiläumsfeier zuruft, dem Nato-Gipfel am Dienstag und Mittwoch in London. Prompt weisen andere Familienmitglieder die Kritiker zurecht: „Der Erhalt der Nato ist in unserem ureigensten Interesse – mindestens so stark wie im Kalten Krieg“, betonte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in der Haushaltsdebatte am vergangenen Mittwoch (tagesspiegel.de). „Die Nato lebt – von Kopf bis Fuß“, sekundiert Außenminister Heiko Maas (SPD).

Trotz aller internen Konflikte bleibt das Militärbündnis weltweit einzigartig. 29 Mitgliedsstaaten mit insgesamt mehr als drei Millionen Soldaten sind in ihm organisiert. Und seit ihrer Gründung 1949 hat sich die Nato stetig weiterentwickelt. Manche Baustellen sind neu, andere schon Jahrzehnte alt.

In erster Linie ist die Nato eine länderübergreifende Militär-Bürokratie. Deren Strukturen sind historisch gewachsen und bis heute spürbares Ergebnis des Zweiten Weltkrieges und des Kalten Krieges. An dutzenden Standorten verteilt über den gesamten europäischen Kontinent arbeiten zivile und soldatische Mitarbeiter an der Vernetzung der Streitkräfte.
Der Nordatlantikrat ist dabei das wichtigste politische Entscheidungsgremium der Nato. Dort sind alle Mitglieder mit Vertretern repräsentiert. In Fragen der nuklearen Abschreckung ist ihm die sogenannte Nukleare Planungsgruppe gleichberechtigt gegenübergestellt. Parallel zu diesen politischen Gremien besitzt die Nato eine militärische Kommandoinfrastruktur mit Hauptquartieren in verschiedenen europäischen Staaten und den USA. Die dort beschäftigten Soldaten werden von ihren jeweiligen Herkunftsländern für eine gewisse Zeit bereit gestellt, die Nato-Verwaltung ist also international. Die Nato beschäftigt aber auch eine große Zahl komplett eigener ziviler und militärischer Mitarbeiter. Allein im Nato-Hauptquartier in Brüssel sind rund 4.000 Mitarbeiter beschäftigt, etwa die Hälfte davon abgeordnet von den Streitkräften der Mitgliedsstaaten.

Grundsätzlich existieren zwei große Aufgabenbereiche für die Nato: Der klassische Bündnisfall nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrages umfasst ein Recht auf kollektive Verteidigung. Wird ein Mitglied angegriffen, so wurden alle angegriffen. Zwischen 1949 und 1990 koordinierte die Nato darum die militärische Verteidigung an der innerdeutschen Grenze. Bei einem Angriff des Warschauer Paktes sollten nicht ausschließlich westdeutsche Soldaten die Hauptlast tragen. Durch die dauerhafte Stationierung etwa von US-Soldaten in Deutschland sollte sichergestellt werden, dass die USA bei einer möglichen Eskalation des Kalten Krieges Europa nicht allein zurückgelassen hätten.

Die viel beschworene multipolare Welt wird realer. Nun findet sie das erste Mal auch Eingang in die Abschlusserklärung eines Nato-Gipfeltreffens. 29 Mitgliedstaaten haben sich im 70. Jahr nach der Gründung des westlichen Verteidigungsbündnisses am Dienstag darauf geeinigt, die aufstrebende Militärmacht China erstmals explizit als mögliche neue Bedrohung zu klassifizieren (dpa).

Die Nato braucht ein neues Feindbild. Wie war das damals: Als der Nordatlantikpakt am 4. April 1949 in Washington unterzeichnet wurde, verlor US-Präsident Harry Truman kein Wort darüber, gegen wen das neue Bündnis, zu dem sich die USA, Kanada, Großbritannien und neun weitere europäische Staaten zusammengeschlossen hatten, gerichtet war. Der erste Generalsekretär des Bündnisses, Lord Ismay, war weniger diplomatisch. Von ihm stammt die Kurzform: Die Nato soll die Amerikaner in Europa drin, die Sowjets draußen und die Deutschen klein halten. Doch spätestens seit der Truman-Doktrin von 1947 war klar, dass es der Nato vor allem um ein Ziel ging: den Einfluss der Sowjetunion einzudämmen.

Solange die USA als mächtigste Militärmacht der der Welt an der Nato festhalten, dürfte sich das Bündnis keine Existenzsorgen machen müssen. Dass sich Trump zuletzt immer wieder zur Nato bekannte, hat viele osteuropäische Partner beruhigt. Selbst wenn sich Frankreich aus Frust über die Politik von Alliierten ganz oder teilweise zurückziehen sollte, wäre die Nato wohl nicht bedroht. Der Hauptzweck der Allianz besteht darin, mögliche Gegner vor einem Angriff abzuhalten. Diese Abschreckung wäre auch ohne Frankreich möglich.

Der Bundesrat hat mehrere im Klimapaket vorgesehene Steuer-Änderungen vorerst gestoppt – darunter die Erhöhung der Pendlerpauschale, die steuerliche Förderung für Gebäudesanierung und die Steuersenkung für Bahntickets im Fernverkehr. Die Länderkammer beschloss einstimmig, den Vermittlungsausschuss anzurufen, in dem Bundestag und Bundesrat nach Kompromissen suchen müssen. Es geht etwa um die Verteilung von Kosten zwischen Bund und Ländern (zeit.de).

Andere, ebenfalls von der Bundesregierung geplanten Maßnahmen können dagegen nun umgesetzt werden. Dazu gehört das Klimaschutzgesetz mit festen Vorgaben fürs Einsparen von Treibhausgasen in Einzelbereichen wie Verkehr oder Landwirtschaft, der CO2-Preis im Verkehr und beim Heizen, der fossile Kraft- und Heizstoffe verteuern soll, und eine Erhöhung der Ticketsteuer beim Fliegen.

Mehrere Umweltverbände haben der Bundesregierung vorgeworfen, mit „leeren Händen“ zur UN-Klimakonferenz nach Madrid zu fahren. „Leer in dem Sinne, dass sie ihre eigenen Ziele, die sie sich bisher gesetzt hat – und die nicht ausreichen – nicht unterlegen kann“ (WWF-Klimachef Michael Schäfer). Das 2020-Ziel von 40 Prozent weniger Treibhausgasen als 1990 werde „in die zweite Hälfte des Jahrzehnts verschoben“. Das 2030-Ziel von 55 Prozent weniger sei nicht ausreichend mit Maßnahmen unterlegt.

Die Bundesregierung wünscht sich, noch vor Weihnachten auch für die vorerst gestoppten Regelungen einen Kompromiss zu finden. Baden-Württemberg hatte dagegen vor der Sitzung beantragt, das Gesamtpaket im Vermittlungsausschuss zu verhandeln. Der CO2-Preis, der Sprit und Heizöl verteuern soll, habe „Konstruktionsfehler“ (Ministerpräsident Winfried Kretschmann).

Der Klimawandel ist kein Schreckensszenario der Zukunft mehr, er verändert die Lebensbedingungen auch in Deutschland schon heute. Die Folgen der Erderwärmung werden hierzulande immer spürbarer, wie der zweite Klima-Monitoringbericht des Bundesumweltministeriums deutlich macht, den Ministerin Svenja Schulze (SPD) am Dienstag in Berlin vorstellte. Demnach ist die Temperatur im Mittel seit 1881 bereits um 1,5 Grad gestiegen, allein in den vergangenen fünf Jahren hat sich Deutschland um 0,3 Grad erwärmt (general-anzeiger-bonn.de).

Demzufolge steigen die Temperaturen immer öfter auf 30 Grad und mehr. 1951 war es jährlich an drei Tagen so heiß, mittlerweile bereits an zehn Tagen pro Jahr. Die Sommer 2003, 2018 und 2019 waren die wärmsten seit Beginn der Aufzeichnungen. 2003 starben 7500 Menschen mehr, als ohne Hitzewelle zu erwarten gewesen wäre. Hinzu kommen häufigere Dürreperioden, die Grundwasserstände sinken deutlich.

Kritik an dem Klimaprogramm war zuletzt insbesondere von den Grünen gekommen. Sie regieren in 10 von 16 Ländern mit, so dass sie Beschlüsse blockieren und verzögern können. Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann hatte Anfang des Monats das Paket massiv kritisiert und Nachbesserungen gefordert. Das Klimapaket sei weder schnell noch wirksam genug, und die Regierung habe die Tragweite der Klimakrise nicht verstanden.

Darüber hinaus: Der Name des seit dem Jahr 2015 von mehr als einem Dutzend Umwelt- und Klimagruppen vorgelegten Berichts „Brown to Green“ passt auch in der fünften Ausgabe so gar nicht zum Inhalt. Die Untersuchung zur Klimapolitik der 20 wichtigsten Staaten der Erde, der G 20, kommt vielmehr abermals zu ernüchternden Ergebnissen. Allen voran: Keiner der Staaten befindet sich auf einem Kurs, der geeignet erscheint, das im Pariser Klimaabkommen verabredete Limit des Temperaturanstiegs von 1,5, höchstens aber zwei Grad Celsius einzuhalten.

Bleibt es beim Zeitplan mit dem Klimapaket?

Will der Bundesrat jetzt Teile des Paketes nachverhandeln, steht der Zeitplan der Regierung auf der Kippe. Die Bundesregierung hofft, Teile des Klimapakets – etwa die Mehrwertsteuersenkung für Bahntickets im Fernverkehr – bereits ab Anfang 2020 einführen zu können.

Deutschland rettet das Weltklima jetzt schon seit 19 Jahren, der rot-grünen Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder sei Dank. Damals wurde das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) eingeführt, es sollte dafür sorgen, dass die Emissionen von Treibhausgasen bei der Stromerzeugung sinken. Taten sie aber nicht wie geplant. Und auch die Kosten entwickelten sich nicht wie gedacht.

Eine Kugel Eis im Monat, dieser berühmte Spruch des damaligen Umweltminister Jürgen Trittin, mehr sollte der Weltenrettungsspaß nicht kosten.

Wer´s glaubt …

Die „Vogelschissaussage“ von Alexander Gauland …

Es stockt einem der Atem. Diese Aussage ist schlicht widerlich. Sechs Millionen Juden wurden systematisch ermordet. Ein ganzer Kontinent mit Krieg und Terror überzogen. 50 Millionen Menschen starben.

Und diese Aussage ist auch gefährlich, denn in Wahrheit zielt Alexander Gauland, zielt seine Partei, nicht auf die Vergangenheit. Der Geschichtsrevisionismus der AfD zielt darauf, Gegenwart und Zukunft zu verstümmeln.

Warum äußert sich Alexander Gauland in dieser Weise? Warum hat er zuvor Anerkennung für die „Leistungen“ der deutschen Wehrmacht geäußert? Warum will der „Flügel“, eine besonders rechte Gruppierung innerhalb der AfD, gern einen „Schlussstrich“ unter die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus ziehen? Warum fordert Björn Höcke eine „180-Grad-Wende“ in der Geschichtspolitik?

Einstweilen zeugen vor allem drei Aspekte von der Rechtsradikalität der AfD: die pauschale Abwertung von Bevölkerungsgruppen, die Gleichsetzung des bundesdeutschen Gemeinwesens mit einer Diktatur und die regelmäßig vorgebrachten Aufrufe zum radikalen Widerstand gegen die vermeintlichen „Blockparteien“ und das gesamte damit verbundene „System“. Neben diese Kennzeichen der AfD-Ideologie, die viel geschlossener vertreten werden, als es die Mär vom innerparteilichen Richtungskampf behauptet, tritt spätestens seit Björn Höckes „Denkmal-der-Schande-Rede“ im Januar 2017 sukzessive ein viertes Merkmal, welches neu- und altrechtes Denken verschmelzen lässt. Gemeint ist die Kultivierung von geschichtsrevisionistischem Gedankengut, vorgebracht nicht in Programmen, sondern in regelmäßigen Einsprengseln, um eine diesbezüglich affine Klientel an die Richtigkeit ihres politischen Bezugspunktes in Gestalt der AfD zu erinnern.

Politstrategisch lohnt sich die Geschichtsrevidiererei kaum. Es geht nicht darum, ein paar letzte unverbesserliche Nazi-Opas oder ein paar halbirre NPD-Hitler-Nostalgiker dazu zu bringen, ihr Kreuz bei der AfD zu machen. Es geht der AfD auch nicht um Aufmerksamkeit, um die kostenlose virale Verbreitung des blau-roten Logos in alle deutschen Social-Media-Haushalte. Es geht nicht einmal darum, die deutsche Geschichte mal eben ein bisschen abzukärchern, damit sich Björn Höcke einen volksgesunden Nationalstolzorden an die patriotisch ergriffene Brust heften kann.

Der Geschichtsrevisionismus der Partei ist tatsächlich darauf gerichtet, das Prinzip der Gleichwertigkeit aller Menschen anzugreifen und damit menschenfeindliche Politik und menschenfeindliche Äußerungen zu legitimieren.

Das AfD-Narrativ von der angeblich betrogenen und zu Unrecht beschuldigten Nation, die ihre historischen Ketten zu sprengen hat, baut sich schleichend auf und fußt auf mehreren Komponenten. Dazu gehört zunächst eine relativierende, vermeintlich quantitative Argumentation, die der wichtigste Parteiführer beispielsweise am 2. Juni 2018 vorbrachte. Folgt man Alexander Gauland, so sind „Hitler und die Nazis . . . nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“. Eventuelle Missdeutungen, die er natürlich nie beabsichtigt habe, „bedauerte“ Gauland anschließend. Zu spät, in affinen Köpfen war die Aussage bereits verankert.

In der AfD gibt es Rassisten, Antisemiten, Islamhasser und Geschichtsrevisionisten. Das lässt sich nachweisen. Wer dennoch diese Partei wählt, ist entweder selbst ein Rassist, Antisemit, Islamhasser und Geschichtsrevisionist oder hält diese vier Eigenschaften für nicht so schlimm. Allen anderen sind sie Grund genug, der AfD ihre Stimme zu verweigern und deren Repräsentanten zu bekämpfen. Diese anderen bildeten bislang bei jeder Wahl in Deutschland mindestens drei Viertel der Wählerschaft.

Nun ist die Instrumentalisierung der deutschen Vergangenheit, um einen Knockout zu erzielen, nichts Neues. Für Kohl war Gorbatschow wie Goebbels, für Brandt war Geißler wie Goebbels, für Kalte Krieger waren die Sowjets wie die Nazis, für den Rapper Jan Delay war Heino ein Nazi, Herta Däubler-Gmelin verglich Bush mit Hitler, Joschka Fischer berief sich auf Auschwitz, um die Grünen für den Kosovokrieg zu gewinnen. Die vermeintlich „richtige“ Lehre aus den NS-Verbrechen zu ziehen, war nie ganz frei von tagespolitischen Interessen: Pazifismus, Europabekenntnis, Asylrecht, deutsche Teilung, Datenschutz, je nachdem (tagesspiegel.de, 01.11.2019).

Der Kassenbon … In Ländern wie Österreich, Italien oder Slowenien kennt man das Problem. Hier ist das Leben einfach. Zumindest dann, wenn man es auf die Frage reduziert, ob man den Kassenbon nach dem Einkauf aufheben soll oder entsorgen kann. Denn hier gilt die Belegpflicht. Das heißt, in den drei Ländern muss der Bon aufgehoben und auf Verlangen der jeweiligen Finanzbehörde auch vorgezeigt werden. Das soll verhindern, dass Geschäfte Einnahmen der Steuer verschweigen. Der Kunde wird sozusagen zur Mithilfe gegen Steuerhinterziehung verdonnert.

Und hierzulande? Musste man sich bisher um derartige Bürgerpflichten keine Gedanken machen, tritt ab dem 1. Januar 2020 die Beleg-Ausgabepflicht in Kraft. Die ist Teil der Kassensicherungsverordnung, welche dafür Sorge tragen soll, elektronische Kassen auf ein fälschungssicheres System umzustellen, welches jeden Tastendruck aufzeichnet – und immer automatisch einen Kassenzettel erstellt und auch zur Verfügung stellt. Aufgrund der eindeutigen Zuordnung eines Belegs zu einem elektronischen Aufzeichnungssystem, welches den Bon erstellt hat, können die Angaben auf dem ausgegebenen Beleg jederzeit – z.B. bei kurzfristigen Kassenprüfungen – überprüft werden, so das Bundesfinanzministerium.

Wieso das alleinige technische Erfassen im Kassensystem nicht ausreichend ist und stattdessen auch ein Kassenbon ausgehändigt werden muss, bleibt unklar.

Sonderlich lange hat der Brötchenkauf beim Bäcker bislang nicht gedauert: bestellen, bezahlen, gehen. Das könnte sich ab dem kommenden Jahr jedoch ändern. Denn dann müssen sämtliche Händler ihren Kunden zwingend einen Kassenbeleg aushändigen – ob die ihn wollen oder nicht. Das deutsche Bäckerhandwerk hält das für Irrsinn.

Das Finanzministerium teilt allerdings mit, dass es keine Belegannahmepflicht für den Kunden gibt, eine aktive Mithilfe zur Bekämpfung von Steuerhinterziehungen wird Verbrauchern also auch in Zukunft nicht abverlangt.

Der Handelsverband Deutschland (HDE) rechnet damit, dass durch die neue Verordnung zwei Millionen Kilometer zusätzlicher Länge an Kassenbons im Jahr im Einzelhandel produziert werden. Zudem verweist der Verband auf die hohen Kosten für die technische Umstellung der Kassen. Hier rechnet man mit 300 bis 500 Euro pro Kasse (n-tv.de).

Die neue Pflicht der Bonausgabe betrifft die gesamte Wirtschaft. Bäcker, Gastronomen, Friseure, Kioskbetreiber – sie alle müssen künftig einen Beleg ausgeben. Vor allem für Unternehmen, die viele kleine Waren von geringem Wert verkaufen, steigt die Belastung überproportional. Einzelne Unternehmer können sich aber von der Pflicht befreien lassen, bei persönlicher oder sachlicher Härte, so sieht es die Abgabenordnung vor. Das sei etwa dann der Fall, wenn ein Händler „Waren an eine Vielzahl von nicht bekannten Personen“ verkauft (tagesspiegel.de).

Die Papierlawine ist umweltpolitisch kaum zu verantworten, der Zentralverband des deutschen Bäckerhandwerks beklagte schon die Müllberge aus gesundheitlich umstrittenen Thermopapier, die da auf uns zukommen. Der „Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland“ (BUND) weist darauf hin, dass der hohe Ressourcenverbrauch auch nicht notwendig sei. „Alternativ kann die Rechnung auch auf einer Kundenkarte oder in einer E-Mail dokumentiert werden“, so Rolf Buschmann, Experte für Abfall und Ressourcen beim BUND (express.de).

Wer gegen die neu eingeführten Verpflichtungen verstößt, kann mit einem Bußgeld von bis zu 25.000 EUR rechnen. Ursprünglich sollte die neue Regelung ab 1. Januar 2020 greifen, aufgrund der Marktsituation und der Umstellung räumte das Finanzministerium nun Zeit bis Ende September ein. Für Registrierkassen, die den gültigen Anforderungen der Finanzverwaltung von 2017 entsprechen und vor dem 01.01.2020 erworben wurden, gibt es eine Übergangsfrist bis zum 31.12.2022. Bis zu diesem Datum darf diese alte Kasse weiter genutzt werden.

Die Kassen sollen letzten Endes fälschungssicher werden. Kritisiert wird an dieser Stelle: die Bon-Pflicht. Denn ob der Kunde seinen Zettel mitnimmt, ist an dieser Stelle unerheblich.

Das Umweltbundesamt sagt: Nie zuvor haben Deutsche so viel Verpackungsmüll wie derzeit produziert. Es beruft sich dabei auf Zahlen aus 2017. Kassenbons werden in der Regel auf Thermopapier gedruckt, haben eine spezielle Beschichtung und sind deshalb ein Fall für den Gelben Sack oder den Restmüll.

Eine typisch deutsche Regelung: statt mit der neuen Gesetzeslage den digitalen Einkauf zu forcieren gibt man Verhaltensregeln für die Entsorgung der zusätzlich produzierten Kassenbonschlangen heraus.

Bravo!

Nach der Verhaftung eines Anwalts der deutschen Botschaft in Ankara ist die Bundesrepublik um Schadensbegrenzung bemüht. Bei der Festnahme im September sollen sensible Daten von 47 Asylbewerbern, die in Deutschland Zuflucht suchen, in die Hände der türkischen Sicherheitsbehörden geraten sein. Ihre Anträge werden nun voraussichtlich vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) bewilligt und ihnen Schutz in Deutschland gewährt.

Der türkische Rechtsanwalt Yilmaz S. sollte in der Türkei im Auftrag des Auswärtigen Amtes klären, ob die Asylbewerber dort juristisch verfolgt werden. Aus Sicht der Bundesregierung und des Bamf ist dies „eine gängige Praxis“, der Jurist soll auch für Norwegen und die Niederlande Recherchen für Asylverfahren übernommen haben. Die Türkei wirft dem Anwalt Spionage vor. Er war bereits am 17. September verhaftet worden.

Medien in der Türkei hatten berichtet, Yilmaz S. würden „Verbindungen zu einer Terrororganisation“ vorgeworfen. Nach Presseinformationen (sueddeutsche.de) erhebt die zuständige Staatsanwaltschaft aber einen anderen Vorwurf: Spionage für Deutschland. Hintergrund könnte sein, dass Yilmaz S. als sogenannter Kooperationsanwalt für das Auswärtige Amt gearbeitet hat. Kooperationsanwälte sollen die Angaben überprüfen, die Asylbewerber in Deutschland gegenüber dem Bamf machen. Ein Sprecher des Bamf bestätigte auf Nachfrage, dass „im September 2019 ein für die Botschaft in Ankara tätiger Kooperationsanwalt“ (a.a.O.) in Untersuchungshaft genommen wurde. Es sei davon auszugehen, dass auch Unterlagen zu Asylverfahren in die Hände der türkischen Behörden gelangt seien. Die Betroffenen wurden bzw. werden zeitnah persönlich über die Situation informiert.

Es dürfte sich dabei mehrheitlich um kurdische Aktivisten oder Gülen-Anhänger handeln. Präsident Erdogan hat Deutschland immer wieder vorgeworfen, angebliche Hintermänner des Putschversuchs von 2016 zu beherbergen.

Bundesaußenminister Heiko Maas hat bei seinem türkischen Kollegen Mevlüt Cavusoglu gegen die Verhaftung eines Anwalts der deutschen Botschaft in Ankara protestiert. „Ich habe ihm noch einmal gesagt, dass wir eigentlich kein Verständnis dafür haben“, sagte der SPD-Politiker am Samstag nach einem Treffen mit Cavusoglu am Rande des G-20-Treffens im japanischen Nagoya (welt.de). Es sei ein Fall, der wie viele andere Inhaftierungen „nicht nachvollziehbar“ sei. Cavusoglu habe ihm gesagt, dass der Fall von der türkischen Justiz geprüft werde. Man wolle im Dialog darüber bleiben. Ein schwacher Trost …

Der Fall schlägt indes Wellen. Bei seiner Verhaftung soll Yilmaz S. einige Dutzend Akten von Menschen bei sich getragen haben, die Asyl in Deutschland beantragt haben. Nach seiner Verhaftung wurde zudem seine Kanzlei durchsucht. Die Polizei könnte bei der Durchsuchung bis zu 280 entsprechende Akten beschlagnahmt haben (presseportal,de). Deutsche Sicherheitsbehörden haben mittlerweile mehrere in Deutschland lebende Asylsuchende informiert, dass ihre Namen und möglicherweise weitere Informationen nun den türkischen Behörden bekannt sein könnten. Bei den Betroffenen handelt sich mehrheitlich um kurdische Aktivisten und Anhänger der Gülen-Bewegung.

In den letzten Jahren haben zudem immer wieder Festnahmen deutscher Staatsbürger in der Türkei – etwa wegen Terrorverdachts – für Aufsehen gesorgt. Derzeit sitzen 60 Deutsche (handelsblatt.com) in türkischen Gefängnissen, 55 können das Land aufgrund von Ausreisesperren nicht verlassen. Das Außenministerium sagt allerdings nicht mehr, wie viele Fälle davon einen politischen Hintergrund haben.

Nun muss aber das, was international üblich und aus Sicht des Botschafters zulässig ist, nicht zwangsweise mit türkischem Recht übereinstimmen. Auch wenn die Türkei in unseren Augen kein funktionierender Rechtsstaat ist: Sie hat Gesetze und sie wendet diese manchmal auch an.

Für den Kooperationsanwalt könnte das unangenehm werden, denn Spionage ist auch in der Türkei ein sehr schwerwiegender Vorwurf. Doch nicht nur ihm droht Ungemach: Sollten durch seine Festnahme die türkischen Behörden wirklich in den Besitz sensibler Daten von nach Deutschland geflüchteten Türken gelangt sein, dürfte in Einzelfällen Gefahr für Leib und Leben bestehen.

Nach der brachialen Niederlage der Christdemokraten bei der Landtagswahl in Thüringen (Minus 12 Prozent) hielten viele Konservative mit ihrer Frustration nicht mehr zurück. Friedrich Merz, der 2018 im Duell um den Parteivorsitz gegen Annegret Kramp-Karrenbauer unterlegen war, machte hauptsächlich die Regierung unter Bundeskanzlerin Angela Merkel für das schlechte Abschneiden seiner Partei verantwortlich.

Merz setzt auf ein Wechselspiel von Angriff und Rückzug. Auf Dauer kann auch eine solche Strategie eine zermürbende Wirkung entfalten – für wen ist allerdings noch nicht klar. Sicher ist einzig, dass mit Kramp-Karrenbauers Wahl zur CDU-Parteivorsitzenden noch keineswegs beschlossen ist, wer der nächste Kanzlerkandidat der Union sein wird. Annegret Kramp-Karrenbauer, Friedrich Merz, Gesundheitsminister Jens Spahn und auch der nordrheinwestfälische Ministerpräsident Armin Laschet scheinen sich Chancen auszurechnen.

Die frühere CDU-Vorsitzende und Bundeskanzlerin Angela Merkel beantwortete einmal die Frage, wofür der Konservatismus stehe, kurz und bündig: „Alles prüfen, das Gute bewahren“ (die-tagespost.de, 21.08.2012). Das Zitat ist über sieben Jahre alt. Was ist geblieben? Auch damals gab es schon die Diskussion um „Erneuerungen“.

Merz wertete die historisch schlechten Wahlergebnisse für CDU und SPD in Thüringen am 27. Oktober als „großes Misstrauensvotum“ gegen die große Koalition in Berlin. Dabei stehe ganz überwiegend die Kanzlerin im Mittelpunkt der Kritik, die „politische Führung und klare Aussagen“ vermissen lasse. Ein Beispiel sei die monatelange, ergebnislose Diskussion über die Grundrente. „Untätigkeit und die mangelnde Führung“ Merkels habe sich seit Jahren wie ein Nebelteppich über das Land gelegt. Kann es so weitergehen? Man kann sich schwer vorstellen, dass diese Art des Regierens in Deutschland noch zwei Jahre dauert.

Es ist gerade das Dilemma von CDU-Politikern: Interviews, in denen sie dazu aufrufen, die Selbstbeschäftigung mit der Partei einzustellen, sind über weite Strecken nichts anderes als Selbstbeschäftigung. Nachdem sich die Partei in den Merkel-Jahren so diszipliniert zurückgehalten hat, ist es nun aber vielleicht besser, wenn ihre Politiker diese öffentlichen Gespräche, die nicht selten an Therapiegespräche mahnen, nicht gleich wieder abbrechen.

SPD und CDU müssen sich von dem Gedanken verabschieden, dass es die eine Mitte gibt, die sie mal eben besetzen könnten. Sie müssen für sich selbst klären, wer sie heute sein möchten.

Auffallend ist, dass die Parteien – vor allem CDU und SPD – jenseits einiger Grundüberzeugungen kaum definieren, wofür sie stehen. Abgesehen von der AfD verbinden sie die allermeisten mit einer liberalen, weltoffenen, dem Rechtsstaat verpflichteten Gesellschaft, ergänzt durch das Konzept der sozialen Marktwirtschaft, die den Unternehmen Freiheit verspricht und den Schwachen ein Netz, das sie auffängt. Nur: Was heißt das, wenn es konkret wird? Wenn es um die Grundrente geht? Wenn es, wie in Thüringen, zu viele kaputte Schulen und zu wenige Lehrer gibt? Wenn die Automobilindustrie, wie in Thüringen, Hoffnung und Aufschwung gebracht hat, aber zum Problem wird, weil sie viel zu spät auf den Klimawandel reagiert hat? Was heißt es, wenn dem Land eine Digitalisierung ins Haus steht? Und, und, und.

Keiner zeigt mehr Kante, was unterscheidet gerade die großen „Volksparteien“ (im Falle der SPD momentan freilich ein Nachgesang) voneinander? Wahrscheinlich relativ wenig bis gar nichts. Bitter! Einheitsbrei zwecks Erhaltung der Macht … Das ist nicht gut!

Wir stehen heute einer Gesellschaft gegenüber, die sehr viel diverser ist als vor dreißig, vierzig Jahren. Es ist eine Gesellschaft, in der die sogenannte politische Mitte in Thüringen oder Sachsen anders aussieht als in München oder Hamburg. Gut möglich, dass viele in den Großstädten des Westens die Klimakrise für das allerwichtigste Thema halten und mit Elan auf den klimarettenden Umbau setzen. Richtig ist aber auch, dass dort, wo die Vergangenheit voller Brüche war und die Zukunft prekär wirkt, andere Bedürfnisse oben stehen, nämlich wirtschaftliche Perspektive und soziale Absicherung. Was die „politische Mitte“ will, sieht im ersten Fall ganz anders aus als im zweiten. Gemein ist beiden nur, dass sie den berechtigten Anspruch haben, von der Politik ernst genommen zu werden.

Es war ein genialer Plan: Erst trat Angela Merkel als CDU-Vorsitzende zurück, um ihre Kanzlerschaft zu retten. Dann sorgte sie für die Wahl einer ihr genehmen Nachfolgerin, die ihr Erbe bewahren sollte. Doch was vor einem Jahr noch als raffinierter Schachzug galt, ist spätestens mit der Wahl in Thüringen Makulatur.

Die Parteien müssen sich wahrhaftig Gedanken machen. Der Karren ist „im Dreck“. Es gibt zu den selben Problemen kaum verschiedene Lösungsansätze mehr. Wenn unsere einst bunte Parteienlandschaft nicht in Unwürde dauerhaft ergrauen soll – das grenzte an den Untergang der Demokratie – müssen Ideen her. Und vor allem der Mut unserer Volksvertreter/-innen, derer unliebsame auch einmal gegen eine Mehrheit zu vertreten. Man nennt es auch „Profil zeigen“.

Der Fluss rauscht bergab,

immer schneller, tosend.

Unbeugsam bahnt er sich

seinen Weg ins Tal.

Hat er ein Ziel?

Oder ist es ihm vorbestimmt,

hinunter zu rauschen?!

Sieh ihn dir an …

Der alte Mann sagt

schon lange nichts mehr.

Warum auch, keiner hört zu.

Zwei Jahre lang lernen

wir das Sprechen, um

anschließend mit Fünfzig

das Schweigen zu lernen.

Was läuft hier schief?!

Flügelkämpfe der Parteien,

es geht einem auf die Nerven.

Fundis, Realos, Freaks,

wie sie sich alle auch nennen.

Harmonie gilt es anzustreben,

wir wollen keinen Streit!

Vertragt euch, Kinder!

So heißt es seit alter Zeit.

Worin liegt das Wesen der Demokratie?

Ist es wahrhaftig dieser Einklang?

Dieser tägliche Einheitsbrei,

Allgemeinplätzchen, sie machen

uns träge, ja, lassen uns verblöden.

Klartext reden heißt „Kante bieten“,

nicht alles abnicken,

des lieben Friedens Willen.

Besinnen wir uns auf den Alten,

sein Name war Heraklit,

Der Krieg sei „der Vater aller Dinge“,

postulierte er seinerzeit. Zu Recht!

Harmonie klingt wie „Friede, Freude,

Eierkuchen“, schön nicht?!

Es ist in Wahrheit ein Spannungs-

verhältnis, ein Krieg, höre zu!

Der ist unersättlich, will täglich gefüttert

werden, schlaft nicht ein!

Nur wenn Kräfte sich aneinander

reiben, schreiten wir fort.

Dein Schwert ist das Wort,

die Klinge heißt „Argument“.

Pflege die Demokratie,

denn sie ist wertvoll.

Nicht zu Unrecht denken die Wähler, dass es in einer Demokratie das gute Recht der Bürgerinnen und Bürger sei, zu sagen, was sie für richtig halten – natürlich im Rahmen der geltenden Gesetze. Warum aber glauben offensichtlich so viele Menschen, dass dieses Grundrecht in Deutschland nicht mehr viel wert ist? Immerhin haben sich mit dem Internet und den sozialen Netzwerken die Möglichkeiten vertausendfacht, seine Meinung ungefiltert und zu jeder Tageszeit mitzuteilen, ja herauszuschreien. Was früher auf den Stammtisch beschränkt blieb, kann heute auf der ganzen Welt ein Publikum finden. Mehr Meinungsfreiheit war nie – wenigstens von den technischen Voraussetzungen her.

Political Correctness ist anstrengend und verwirrend. Was einst als Umgangssprache durchging, wird durch sie nun zum Tabu. Wer über „Flüchtlinge“ anstatt „Geflüchtete“ redet, steht direkt unter Generalverdacht, „fremdenfeindlich“ zu sein. Wer Kindern heute noch von Astrid Lindgrens „Negerkönig“ erzählt oder Blondinenwitze macht – Gott bewahre. Kein Wunder, dass die Kritik an der Political Correctness in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist und schon Politiker wie Sigmar Gabriel oder Winfried Kretschmann davor warnen, dass wir „in politischer Korrektheit ersticken“ und sie „übertreiben“. Schadet „PC“ uns am Ende? Keineswegs!

Um das politisch Angemessene geht es nämlich nicht, wenn man darunter eine Art zivilen Umgang im öffentlichen Miteinander versteht. Und das liegt an dem banalen Attribut „politisch“. Das Wort ist hier gerade ein bewusst schwammiger Platzhalter, der darüber hinwegtäuschen soll, dass es nicht um angemessenes Handeln für das Gemeinwesen geht. Sondern um knallharte Ideologie. Denn „politisch“ meint hier die Verdrehung des eigentlichen Wortsinns „moralisch“. Das politisch Korrekte ist nach Ansicht seiner insbesondere akademischen Apologeten nichts anderes als das moralisch Korrekte (fluter.de, 25.04.2018). Und dieses moralisch Korrekte soll für das gesamte Gemeinwesen gelten und mittels gesellschaftlicher Sanktionen – Sprachreglementierungen, Umbenennungen, Entfernen von Kunstwerken aus dem öffentlichen Raum – durchgesetzt werden. Das ist totalitär. Denn mit Ausnahme ganz weniger Handlungen – Verstöße etwa gegen das Recht auf körperliche Unversehrtheit, Selbstbestimmung und Eigentum – sind moralische Haltungen aus gutem Grund in liberalen Demokratien Privatsache. Weltanschauung und Religion sind Sache des Einzelnen. Die werden erst dann zum Problem, wenn sich daraus Handlungen ergeben, die nicht zum Strafgesetzbuch passen.

Ohne Streit gibt es keine Demokratie. Die Flüchtlingskrise führte, wie lange zuvor kein anderes Thema, zu Auseinandersetzungen. Die Fähigkeit zum ergebnisorientierten demokratischen Streit wäre dringend nötig gewesen, doch die Parteien der Mitte waren dazu nicht in der Lage (nzz.ch). CDU und CSU verhakten sich in internen Kontroversen und konnten keine klare Politik formulieren. Sozialdemokraten und Grüne übernahmen kritiklos Merkels Willkommenskultur in einem Moment, in dem viele Deutsche nach Alternativen verlangten.

Weil die Parteien der Mitte als Taktgeber ausfielen, bemächtigten sich Extremisten der Debatte. Die der Kontroverse entwöhnte Mitte war sprachlos und verlor die Deutungshoheit, die Ränder verwandelten die Debatte in eine Dauerpöbelei. Aus der demobilisierten Republik wurde die hysterische Republik. In dieser Konstellation liegt der tiefere Grund für den Widerspruch, dass die Meinungsfreiheit zwar größer denn je ist, eine Mehrheit sich aber offenkundig nicht traut, ihre Ansichten zu äußern.

Gegen Political Correctness zu sein bedeutet nicht, Diskriminierungen gut zu finden. Verstärkt wird dieser Eindruck dadurch, dass diese Auseinandersetzung unverkennbare Züge eines Klassenkampfes von oben trägt: Eine kleine akademische Minderheit gut situierter Wohlstandssprösslinge maßt sich an, die angeblich in ihren Stereotypen gefangenen Massen umzuerziehen. Man könnte das als Vermessenheit verhätschelter Wohlstandskinder abtun. Doch so harmlos ist die Sache nicht. Denn zu viele Menschen, die aus gutem Grund etwa für Minderheitenschutz streiten, machen sich zu bereitwilligen Handlangern einer aggressiven Agenda zum Umbau der westlichen Gesellschaften. Doch gegen Political Correctness zu sein bedeutet nicht, Diskriminierungen gut zu finden. Es bedeutet, unsere Freiheit zu verteidigen (Alexander Grau, Philosoph und Journalist).

Die verfassungsgebende Gewalt des Grundgesetzes hat einen bestimmten Schluss gezogen: Die Verfassung muss sich verteidigen, deshalb gibt es Vorkehrungen wie das Parteiverbot. Ansonsten aber liegt der beste Schutz vor einem Rückfall in eine autoritäre Diktatur gerade in einem robusten Schutz der Meinungsfreiheit. Die Antwort muss „mehr Rede“ lauten, „nicht erzwungene Stille“. Der Satz stammt von Louis Brandeis, dem ersten jüdischen Richter am Obersten Gerichtshof der USA (lto.de, 19.05.2019).

Statt Hass, Wut und Angst zu fördern, die sich am besten für Reichweite eignen, müssen wir Faktentreue und Dialog bevorzugen.

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