Prévessin, den 17. Januar 2015

Meine liebe Petra,

wer heute „in“ sein will, trägt ein Schild mit der Aufschrift „Je suis Charlie“. Eine Inflation! Eine ganze Palette von Arschlöschern ist dabei vertreten, vom Feigling bis zum Unterdrücker. Nach außen geben sie sich höchst tolerant, aber sind es in Wirklichkeit nicht. Es gehört zum guten Ton dabei zu sein! Das zum Aushänge-Schild! Ich habe mir darüber Gedanken gemacht, als ich vor zwei Tagen, sehr früh am Morgen, vor dem Kiosk in Ferney-Voltaire stand, um mir die Sonderausgabe von „Charlie hebdo“ zu kaufen. Hundertfünfzig Gestalten wie mich, hat es aus dem Bett gerissen, um endlich ein Exemplar ergattern zu können, von einer Postille, die sie bisher mehr oder weniger verachteten. Eine Schar von Judas war dabei, um dem Trend der Zeit zu folgen Sich nur nicht marginalisieren und als Reaktionär zu erscheinen. Und das Ganze in dem Ort, wo Voltaire die ersten Weichen der großen Revolution im 18. Jahrhundert stellte.

Und ich? Habe ich überhaupt das Recht solch ein Urteil zu fällen und mit dem Zeigefinger herum zu ballern? Gehöre ich auch zu den geistigen Pygmäen unserer Gesellschaft? Rassist! Nichts gegen Pygmäen, die durchaus Großes leisten können. Hätte ich den Mut gehabt den Prophet zu enttarnen? Hätte ich das überhaupt gewollt? Um nicht im Trend der Zeit zu sein, sage ich dir heute offen, dass ich manche Karikaturen gegen die Religion als störend empfinde, weil sie Gefühle verletzen, die höchst intim sind. Und doch finde ich es gut, dass sie veröffentlicht werden. Das im Namen der Meinungsfreiheit, die ich als das höchste Gut der Demokratie betrachte. Ist das ein Widerspruch? Nein, unsere Gesellschaft kann nur bestehen, solange Querköpfe uns zum Nachdenken zwingen.

In der Hoffnung, dass du noch in süßen Träumen versunken bist, sende ich dir aus Frankreich herzliche Gedanken.

In diesem Sinn,

Pierre

 

//pm

Rostra-AusrufezeichenSie stehen Schlange für eine kleine Statistenrolle, in der man sie kaum wahrnimmt. Mitten in der glühenden Hitze bei 40 Grad und mehr, um wenigstens ein paar Peseten zu ergattern – und wenigstens eine Beschäftigung. Spanien. Das Land der Träume für die Touristen, das Land des Untergangs inmitten der EU. Runter gewirtschaftet, vertrocknet, Prospekt-verwöhnt. Weiterlesen