Liebe Petra,

hier ein Überblick, was dein alter Kumpel am letzten Sonntag so gemacht hat, um ein Ziel zu erreichen, der als kleiner Schritt betrachtet werden kann. Mein Leben heute ist eine Ansammlung von winzigen Etappen, aber siehe da, sie machen mir auch Spaß. Sei es der Spaziergang, die Schreibe oder nur Quatsch im TV zu sehen. Also los:

Der Waldspaziergang.

Letzten Sonntag habe ich nach mehr als anderthalb Jahren, zum ersten Mal einen kleinen Waldspaziergang gemacht. Mit meinem Freund Georg sind wir bis in die Hirschau – in München – gefahren und ab da, habe ich mit dem Rollator eine lange Strecke hinterlegt. Ich hatte zwar Schmerzen, aber das Leben holte mich ein. Die Bäume, die Kinder, die in den Bach tauchten und ihre Eltern, die sich sonnten. Das war die Stelle, an der meine Frau und ich mit unserer Tochter, als sie klein war, am Sonntag spazieren gingen. Ein Rückblick auf 47 Jahre Ehe. Ich war auf einmal innerlich ganz ruhig. Die Natur wieder so zu erleben, war eine Freude, die ich kaum ausdrücken kann. Auf der einen Seite hatte ich Angst, diesen Schritt emotional zu wagen, auf der anderen Seite wurde mir bewusst, dass das, was ich erlebte, nur die Ruhe vor dem Orkan sein konnte. Am Vortag hatte Alexander Gauland vor der Nachwuchsorganisation der AfD gesagt: „Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte.“ Ich wollte darüber mit Georg nicht sprechen, weil ich diesen schönen Tag nicht durch solche Fäkalien verderben lassen wollte. Aber mit Abstand empfinde ich die Pflicht darüber zu schreiben, Petra das belastet mich!

Alexander Gauland und der Vogelschiss!

Wenn man bedenkt, dass diese infame Aussage von einem Menschen stammt, der sich als Wertkonservative betrachtet. Der Co-Chef der AfD-Fraktion im Bundestag war Mitglied der CDU in Frankfurt am Main. Er war Chef der Staatskanzlei, als Walter Wallmann  Ministerpräsident des Land Hessens gewesen war. Er war für seine Kultur und für sein vornehmes Benehmen über die Grenzen seiner Partei hoch angesehen. Er arbeitete auch im Presse-Wesen (FAZ). 2013 verließ er die CDU und driftete immer mehr nach rechts. Dann wurde er bekannt für seine polemischen Sprüche im Dienste der AfD. Mit dem Spruch:  „Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte.“, erinnert es mich an die Aussage von Jean-Marie Le Pen, als er sagte, dass der Holocaust nur ein Detail der Geschichte sei. In der schon angespannten Lage in Deutschland, wo wieder Judenhass aufkommt, ist das infam. Nicht nur, wie es gerne verkauft wird, seitens der Migranten aus den arabischen Ländern in Sachen Palästina, aber von einer Menge Neonazis. Die können sich auf Alexander Gauland, wie übrigens auch auf den Philosoph Martin Heidegger, der die Ermordung von Millionen Juden in Frage stellte, beziehen. Während meiner Promenade im Wald, fragte ich mich, ob die Menschen, die ich traf, davon Notiz genommen hätten. Vielleicht wollten sie das – wie ich – unterdrücken. Gott sei Dank, war das Entsetzen bei allen Parteien sehr groß, dass der Mief der 20-er-Jahre und des Beginns der Dreißiger, wieder auftaucht. Wenn dies der Ausdruck der freien Meinung ist, ist das eine schöne Scheiße.

Am Abend vor dem Fernsehen.

Am Abend saß ich vor dem Fernseher. Per Zufall sah ich eine Reportage über das jüdische Leben in Deutschland. In einigen der Interviews war Angst zu verspüren, dass die Befragten auf der Straße angegriffen werden könnten. Wie in Frankreich auch, haben diese Reaktionen, die herzlose Politik des Staates Israels, als Zündstoff hervorgerufen. Manchmal stammt der Antisemitismus aus den Kreisen der islamischen Migranten, die in Deutschland oder auch in Frankreich leben – aber bei weitem nicht n u r. Es wurde dabei eine Initiative vorgestellt, die meine Tochter gut kannte. In Berlin hatte ein junger liberaler Jude einen Gesprächskreis ins Leben gerufen, in dem junge Juden und Muslime sich regelmäßig treffen, zusammen reden, aber auch ihre Freizeit zusammen verbringen. Natürlich sind auch Christen dabei. Und siehe da, es klappt so gut, dass sich tiefe Freundschaften gebildet haben. Sie hatten etwas was sie verband, die tiefe Abneigung der Politik von David Netanyahu. Der rote Faden an den man sich verhält, ist, die Religion nicht mit der Politik zu vermengen. Man kann die Haltung Israels sehr kritisieren, aber ohne antisemitische Sprüche loszulassen. Übrigens sind die muslimische Schwestern und Brüder auch Semiten. Man kann nur begrüßen, dass solch eine Solidarität auch möglich sein kann, wenn der Wille da ist.

Die Klaustrophobie in seinem eigenen Körper erleben.

Bis zu meinem Waldspaziergang, hatte ich mich irgendwie an meinen Zustand gewöhnt. Ich hatte mein intellektuelles Engagement als Herausforderung angenommen, um mehr oder weniger meinen Mangel an Mobilität durch Gedanken und die Schreibe zu kompensieren. Eine Zeit lang kann es irgendwie klappen, aber letztendlich ist das die Schöntuerei einer Lage, die für mich immer eingeschränkter wurde. Langsam überfällt mir die Müdigkeit und parallel dazu, das Gefühl, dass meine Ideen, wie in einem Vogelkäfig eingesperrt sind. Zuerst um dieses Korsett zu brechen, unternahmen wir Autofahrten durch schöne Landschaften, aber das war mehr oder weniger Augenwischerei. Es wurde mir klar, dass es einen riesigen Unterschied gibt, zwischen „sich bewegen zu lassen“ und selbst seine Beine in Anspruch zu nehmen. Trotz Schmerzen und den Rollator, klappte dieses Experiment. Ich habe mir vorgenommen es so oft wie möglich zu wiederholen, um mich entfesseln zu können. Jetzt weiß ich, dass  die Mobilität kein leeres Wort ist und dass alles getan werden muss, um sie zu steigern. Ich nehme in meinem Haus die Treppen in Kauf und trage mein „Foltergerät“ – das verdammt schwer ist – um meine Wohnung zu erreichen, aber das ist der Preis, um mich immer mehr zu bewegen und dabei auch Spaß zu haben. Das geschah am 3. Juni 2018, vielleicht eine Kehrwende, was meine Schmerzen angeht und jetzt bin ich müde. Zeit, ein wenig Erotik in meinen Träumen wieder zu finden.

 

Ich umarme dich,

 

Pierre

//pm