Werte Freundin,
mit tiefer Traurigkeit habe ich die Nachricht vernommen, dass Du in Deine alte Heimat zurückgekehrt bis. Es ist beschämend mitanzusehen, dass das ach so modern sich preisende Europa nicht in der Lage war, Dir eine neue Heimat zu bieten. Gut verstehen kann ich, dass die immerwährende, ja nicht enden wollende Kopftuchdiskussion Dir immer mehr zusetzte, es teilweise schon nicht mehr auszuhalten war. Wenn ich an die Generation unserer Großmütter zurückdenke, so war es zu deren Zeiten Brauch, wenn man ins Dorf ging zwecks Einkaufes bzw. zum Kaffeeklatsch, sich in der herbstlichen Frische ein Kopftuch umzubinden. Der Anblick der größtenteils reiferen Frauen, welche in der Öffentlichkeit Kopftuch trugen, war dazumal nichts Besonderes, sondern im Gegenteil, eher alltäglich. Es störte niemanden. Veritabel: die Zeiten haben sich geändert. Mit ihnen die Sitten. Dieser Erkenntnis mag noch nichts Eigenartiges anhaften, wäre da nicht die umgekehrte gesellschaftliche Tendenz zu verzeichnen, die Kopftuch tragende Frau aus der Gesellschaft auszugrenzen. Das Fass zum Überlaufen brachte Dein Erlebnis im Hallenbad; man hatte Dich in Deinem Burkini ausgelacht, zeigte mit Fingern auf Dich, ja, hatte Dich regelrecht hinausgemobbt. Es ist erschreckend mitzuerleben, wie schnell auch moderne Menschen sich auf die Stufe eines wütenden Mobs herablassen, in der Horde unkontrolliert und unkontrollierbar Dinge zerstören, Menschen verletzen oder gar töten. Mich lässt diese Erkenntnis doch an unserem Intelligenz- wie auch Bildungsgrad zweifeln … Was Dein Erlebnis im Bad angeht, so sei versichert, dass man sich hierzulande vor knapp über hundert Jahren auch hochgeschlossen, wilhelminisch züchtig und artig in die Fluten begab. Männlein und Weiblein natürlich größtenteils getrennt, wie sich das damals gehörte. Heute, da die Mode das genaue Gegenteil ist, man sich nahezu textilfrei ins Wasser begibt, will man davon nichts mehr wissen. Interessant wäre zu eruieren, wer aus dem blökenden Mob überhaupt darüber Bescheid weiß … Von Integration wird gesprochen, Assimilierung erwarten sie. Kritische, weltoffene Individualisten behaupten sie zu sein, in Realität hört man zu oft Sätze wie: „Ich bin ja nicht ausländerfeindlich, aber …“. Wirtschaftliche Prosperität ist dato rückläufig, der Volksmund sagt, die Zeiten würden schlechter. Soweit ich es überblicken kann, war der Mensch bis heute nicht in der Lage, sich diesbezügliches Versagen selbst zuzuschreiben, der Grund musste immer anderswo liegen. Hat man früher freiweg dem staatlichen Nachbarn den Krieg erklärt, gilt es heute, wesentlich subtiler vorzugehen. Man beschuldigt den anderen nicht auf direktem Wege, sondern sucht die Schuld im Unbekannten, dem Fremden, das einen schleichend unterwandert. Die Frau mit der Burka, die Fremde, deren Gesicht man nicht erkennt. Spielt sie doch nicht mit offenem Visier … So lächerlich das auch klingen mag: der moderne Mensch fürchtet sich, hat Angst vor dem Fremden. In dieser Hinsicht frage ich mich, wie weit wir eigentlich uns vom Mittelalter entfernt haben. Ziehen wir es doch vor, uns im eigenen Teich einzuigeln, „unter uns“ zu bleiben. Alles warm und sicher, jeder Neuzugang wird einer strengen Kontrolle unterworfen. Wer nicht in die Gemeinschaft passt, wird exmittiert. Weiterlesen →