am 1. Januar habe ich einen Spaziergang durch Kreuzberg gemacht und überall lagen die Überbleibsel der Silvesternacht: abgefackelte Raketen und Knallkörper. Ein Tag nach einer großen Schlacht, kaum Leute auf der Straße, das Volk döste. Ende der Durchsage oder? Nein. Die Trostlosigkeit eines heruntergekommenen Viertels war eindringlicher denn je zu spüren. Wenn Menschen die Straßen bevölkern, gibt es Leben und das Umfeld versinkt in einer gewissen Betriebsamkeit. Jetzt aber nur noch banale Graffiti, kaum zu vergleichen mit den genialen Mauer-Malereien, die als Protest gegen das DDR-Regime dienten. Eher der Ausdruck einer generellen Langweile und nicht einmal Frust ist zu entnehmen – von Gewalt kann keine Rede sein. Ist das der Ausdruck der Resignation? Sind wir an einem Punkt angelangt, bei dem die Kraft ganz einfach ausgegangen ist? Das war für mich ein bedrückendes Gefühl und ich hätte es vorgezogen ein wenig Gewalt zu fühlen, auch wenn ich sie niemals gutheißen würde. In der Gewalt herrscht ein wenig Leben und der verzweifelte Versuch etwas zu verändern. Hier aber war nur eine trügerische Ruhe zu entnehmen. Ob etwas hier brodelte? Ich hatte nicht dieses Gefühl. Was nun, wenn die Menschen von sich aus nicht mehr in der Lage sind etwas zu unternehmen um ihr Leben zu verbessern, fragte ich mich? Können Programme etwas in Gang bringen? Ist es nicht notwendig, dass jeder sein Schicksal in die Hand nimmt? Schöne Worte, aber genauso leer wie die Kreuzberger-Realität an einem ersten Januar. Auch wenn ihr, liebe Revoluzzer, den Entschluss treffen würdet 1789 zu wiederholen, weiß ich nicht, ob es hier der richtige Ort wäre. Sigmund Freud könnte mehr erwirken als Slogans, die für die meisten Menschen hier nichts mehr bedeuten. Gardinen zu? Oder steckt hier doch noch ein kleiner Funken Hoffnung? Ist diese Lähmung mit einem tiefen Schlaf zu vergleichen oder eher mit einem Alptraum in dem nichts passiert? Bedeutet Leere auch Stille, fragte ich mich und die eindeutige Antwort war „nein“. Warum? Wenn ich es nur wüsste. Es war an diesem Nachmittag kein Lärm zu hören, alles war wie verstummt und hier Barrikaden zu errichten würde kaum nützlich sein. Haben Taubstumme die Revolution angezettelt? Oder bedarf es der Schreie?
Kreuzberg erschien mir wie eine Fata Morgana. Da war schon der Wille zu einer gewissen Provokation, aber sie dringt nicht mehr durch. Ich hatte auf einmal sehr viel Nachsicht und Verständnis, ein wenig wie für einen Kranken oder eine verletzte Seele und hätte gerne die Menschen an die Hand genommen und sie in einen Reigen gezogen. Eine gezwungene Fröhlichkeit oder nur der Versuch, sie wachzurütteln? Nein, sie brauchten nur eines: ein wenig mehr Wärme spüren und das Gefühl zu haben, jemand zu sein. Bei solchen Leuten habt ihr kaum eine Chance, liebe Revoluzzer. Sie haben einfach nicht mehr die Kraft der Verzweiflung, sie haben sie in der nordischen Kälte verloren und es bleibt ihnen nur die Möglichkeit apathisch in die Zukunft zu blicken, abzuwarten, dass das Schicksal sich verändert. Sind sich die Bewohner bewusst, dass sie gefesselt sind? Von hier aus wird sich nichts entflammen, es ist zu spät, oder? Ist Kreuzberg eine Revolution wert? Irgendwie wäre es zu hoffen.
//pm
Link zum Thema Kreuzberg:
http://de.wikipedia.org/wiki/Berlin-Kreuzberg