Blickt man auf die aktuellen Debatten über das postfaktische Zeitalter, könnte man den Eindruck gewinnen, dass die politische Lüge ein komplett neues Phänomen sei. Tatsächlich aber sind Lügen in der Politik ein Dauerbrenner, man denke etwa an Watergate (1970er Jahre), die Barschel-Affäre (1980er), den Lewinsky-Skandal (1990er) oder an die Begründungen für den Irak-Krieg (2000er). Das veranschaulicht auch eine Umfrage von 1998: Bereits damals unterstützten 57 Prozent der Befragten in Deutschland die Aussage Die Politiker scheuen sich nicht, Tatsachen zu verdrehen oder zu beschönigen, um dadurch die Wahlen zu gewinnen“ (Stefan Marschall für „Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de“). Politische Kommunikation ist in erster Linie strategische Kommunikation. Es geht im
politischen System nicht um das Finden von Wahrheit, sondern um die Machtfrage (Niklas Luhmann).

Geheimhaltung und Täuschung – was die Diplomaten Diskretion oder auch die arcana imperii, die Staatsgeheimnisse, nennen –, gezielte Irreführungen und blanke Lügen als legitime Mittel zur Erreichung politischer Zwecke kennen wir seit den Anfängen der überlieferten Geschichte. Wahrhaftigkeit zählte niemals zu den politischen Tugenden, und die Lüge galt immer als ein erlaubtes Mittel in der Politik. Wer über diesen Sachverhalt nachdenkt, kann sich nur wundern, wie wenig Aufmerksamkeit man ihm im Laufe unseres philosophischen und politischen Denkens gewidmet hat (humanistische-union.de): einerseits im Hinblick auf das Wesen des Handelns und andererseits im Hinblick auf unsere Fähigkeit, in Gedanken und Worten Tatsachen abzuleugnen. Diese unsere aktive, aggressive Fähigkeit zu lügen unterscheidet sich auffallend von unserer passiven Anfälligkeit für Irrtümer, Illusionen, Gedächtnisfehler und all dem, was man dem Versagen unseres Denkens anlasten kann. Die eigentlichen Lügen sind dabei nur ein Teil des Problems; das größere ist das Verwischen der Wahrheit hinter „Bullshit“ (Harry G. Frankfurt, On Bullshit, Princeton 2005) bereits Ende der 1980er Jahre analysierte. Wer lügt, muss die Wahrheit kennen, die Tatsachen als Referenzsystem im Auge behalten. Damit behält die Wahrheit letztendlich ihre Gültigkeit. Dem „Bullshitter“ hingegen, und das hält Frankfurt für wesentlich, ist die Wahrheit gleichgültig; er nimmt es mit ihr und den Fakten einfach nicht genau. Ihn interessiert nicht, wie es in „Wirklichkeit“ ist. Ihn interessiert nur, mit seinen Behauptungen durchzukommen. Er biegt sich alles so hin, wie er es braucht, um zu kaschieren, was er im Schilde führt. Er verwischt die Tatsachen als Referenz und untergräbt damit die politische Kultur einer Demokratie, die auf die Unterscheidung von wahr und falsch angewiesen ist. Es gibt wohl keinen Fall, bei dem die Politik als Vollstrecker absoluter Wahrheiten auftritt, seien sie religiöser, wissenschaftlicher oder weltanschaulicher Provenienz. Das bedeutet keineswegs, dass der Unterschied von Wahrheit und Lüge im Bereich des Politischen irrelevant wäre. In der politischen Auseinandersetzung geht es um begründete Meinungen. Sie beruhen auf der unterschiedlichen Bewertung von tatsächlichen Ereignissen und Sachverhalten, also von „Tatsachenwahrheiten“. Den Unterschied zwischen Tatsachen und Meinungen zu verwischen ist „nicht weniger schockierend als die Resistenz der Menschen gegen die Wahrheit überhaupt“, soweit sie ihnen nicht in den Kram passt (Hannah Arendt, Wahrheit und Politik).Innerhalb des Bereichs menschlicher Angelegenheiten (hegt) jeder Anspruch auf absolute Wahrheit, die von den Meinungen der Menschen unabhängig zu sein vorgibt, die Axt an die Wurzeln aller Politik und der Legitimität aller Staatsformen“ (a.a.O.). Zum Nachdenken … Schönen Nachmittag!

Mit dem Begriff Zivilisation meint man die Entwicklung des Zusammenlebens von Menschen, die zu einem möglichst friedlichen und aggressionsfreien Miteinander führen soll. Eine Grundlage dafür ist die Achtung der Grund- und Menschenrechte. Ausdruck der Zivilisation ist die Ausbildung bestimmter Verhaltensweisen in einer Gesellschaft (z.B. Schamgefühl oder Peinlichkeitsschwellen oder aber auch das Gewissen). Ein zivilisierter Umgang miteinander bedeutet, dass man anderen mit Achtung und Würde gegenübertritt und dabei nicht beleidigend oder verletzend
handelt (politik-lexikon.at). Wissenschaft und Technik haben im Laufe der Zeit viele Neuerungen hervorgebracht,
die das Leben der Menschen verändert haben. Die medizinische Versorgung ist besser geworden, die Nahrung ist reichhaltiger, die Menschen leben länger. Wir wohnen geschützt in Häusern und können in Schulen und Universitäten eine Menge lernen, um wiederum wissenschaftliche und technische Neuerungen hervorzubringen. Wir
leben in einer geordneten Gesellschaft, wo jede Bürgerin und jeder Bürger Rechte und Pflichten hat. Und auch für den Umgang der Menschen miteinander gibt es bestimmte Regeln, die dazu beitragen sollen, in dieser Welt zurecht zu kommen.

Die sowjetische Form der Zivilisation war Anfang der 1990er Jahre abgestürzt. Die Nachkriegszeit schien vorbei und die neue Vorkriegszeit nicht in Sicht. Man kennt Francis Fukuyamas Formel vom „Ende der Geschichte“. Allzu lange hat dieser Zustand nicht gedauert. Und die Realität wird immer neu geboren. Die Welt hat sich seitdem so verändert, dass wir noch keine Instrumente haben, sie zu beschreiben. Es sind unterschiedlichste Denk- und Lebensmodelle wirksam. Vielleicht ähnelt das den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung, als die noch starke heidnische Antike dem ihr unbegreiflichen Christentum gegenüberstand. Es gibt weltweit viele Menschen, die in einer Welt leben, die von der Gegenwart durch einen Abgrund getrennt ist. In manchen Ländern sind solche Menschen gerade an der Macht. So auch in Russland unter Putin. Er mag natürlich denken, er würde das russische Imperium wiederaufbauen. Diese anachronistische Idee ist auch unter westlichen Experten populär. Man versucht zum Beispiel, die aktuelle Krise aus Russlands Entscheidung für die orthodoxe Kirche im 9. und 10. Jahrhundert zu erklären, und vergisst dabei, dass das die Kiewer Rus war, der ziemlich legendenbehaftete Ursprung der russischen und der ukrainischen Geschichte.

Die Menschen in der ehemaligen Sowjetunion hatten große Neugier auf die Welt draußen. Viele Russen haben das Land ab 1991 leichten Herzens verlassen, weil das Leben unverhofft frei und offen erschien. Heute weiß man, wir alle haben damals die Tatsache unterschätzt, dass Russland durch die seinerzeit siebzigjährige kommunistische Diktatur eines Teils seiner natürlichen Entwicklung beraubt worden war (Olga Martynova, nzz.ch, 26.04.2022). Das Land wachte 1991 nach der Lethargie auf und wähnte sich im 19. Jahrhundert. Der Ukrainekrieg bewegt sich in vielen Facetten und seiner Grausamkeit außerhalb jeglicher zivilisatorischer Regeln. Aufpassen muss man jedoch, dass man nicht in Russophobie verfällt. Russland hat eine Kultur, Regeln und eine Geschichte.Das Land war abgekoppelt vom Zug der Zeit. Das heißt nicht, dass man die verschütteten Pfeiler der dortigen Zivilisation nicht mehr ausgraben kann. Es gibt Schuldige für die begangenen Kriegsverbrechen; jene sind individuell zu
bestrafen.

Heute gehören Begriffe wie Korruption und Russland zusammen. Entgegen einer
weitverbreiteten Annahme ist aber die Alltagskorruption keine unmittelbare Folge des
Zusammenbruchs der UdSSR. Sie ist vielmehr in der Historie tief verwurzelt. Bis ins
18. Jahrhundert erhielten russische Beamte überhaupt keinen Lohn. Sie sollten
deshalb für ihre Tätigkeiten Gebühren erheben und sich damit finanzieren. Im 19.
Jahrhundert waren die Löhne minimal. Sie wurden schon damals mit Verspätung
ausbezahlt. Einerseits mussten sich die Beamten Fremdgelder in die eigene Tasche
stecken, um ihre Familie ernähren zu können. Auf der anderen Seite litten russische
Untertanen unter der Ineffizienz des Staates (buergerundstaat.de). Die KP-Elite war
durch und durch korrupt, und dies schon zu Zeiten Stalins.

Kleptokratie ist eine Staat oder eine Herrschaftsform, in der die Regierung oder
andere Herrscher eine unbegrenzte oder starke Verfügungsgewalt über Besitztümer
und Wertgegenstände in ihrem Herrschaftsbereich haben. Meist geht damit die
Bereicherung der herrschenden Klasse auf Kosten der Beherrschten einher. Die
rechtsstaatliche Ordnung ist in einer Kleptokratie praktisch nicht vorhanden.
Der Begriff ist abgeleitet aus den griechischen Worten kléptein (stehlen)
und kratía (Staat, Herrschaft). Anders ausgedrückt: Herrschaft der Diebe!
Russland wurde nach dem Zusammenbruch seiner kommunistischen Staatsdiktatur
unter der Führung der Nomenklatura der KPdSU und seiner Militärs in eine
Kleptokratie mit staatsautoritärer Absicherung hinter einer demokratischen Fassade
umgebaut. „Wir haben ein absolut gehorsames Parlament, servile Gerichte und ein
Staatsfernsehen, das rund um die Uhr die Taten des Zaren preist“ (Victor Jerofejew
faz.de). Der Zar war und ist Wladimir Putin ...

Weder die Bundesrepublik noch Europa brauchen aber für ihre Zukunft als
strategischen Partner ein Russland, das die freiheitliche Gesellschaften des Westens
verachtet und mit Füßen tritt. Die Kleptokraten um Putin müssen spüren, dass sie in
der gesamten EU ein Gegenüber haben, mit dem sie nicht nach Belieben Schlitten
fahren können.

Kanzler Scholz meinte, der 24. Februar diesen Jahres markiere eine „Zeitenwende“.
In der Russlandforschung gibt es unterschiedliche Einschätzungen, aber es ist
erkennbar, dass die große Mehrheit der Wissenschaftler/-innen davon ausgeht, dass
die von Moskau gesuchte strategische Konfrontation mit dem Westen primär
innenpolitisch motiviert ist. Nach dem katastrophalen Scheitern der ambitionierten
Reformpolitik Boris Jelzins in den frühen 1990er-Jahren hat es eine Gegenbewegung
gegeben, die das Scheitern der Reform als Werk dunkler Kreise des Westens
hinstellte und die seit 1996 den Ton vorgibt.
Viele Beobachter bezeichnen das heutige Russland als eine Kleptokratie. Diese
Charakterisierung ist nicht unberechtigt, denn die Machtvertikale ermöglicht es vor
allem ihren höchsten Vertretern und deren Entourage, unglaubliche Reichtümer
anzuhäufen. Russland hat heute etwa ebenso viele Milliardäre wie die USA – die
immerhin ein Bruttoinlandsprodukt aufweisen, welches zehnmal so groß ist wie
dasjenige Russlands (kas.de).

Dadurch wird ein politischer Machtwechsel zu einem existenziellen Risiko, das auf
jeden Fall vermieden werden muss – zumeist durch Manipulationen des
Wahlprozesses, die Behinderung von Oppositionsparteien und gelegentlich auch
durch die Inhaftierung oder Tötung führender Personen aus der Opposition.

Sah neulich einen Hasen mit einem Korb voller Eier. Tatsächlich? Vielleicht glaube ich auch nur, ihn gesehen zu haben. Ein fester Glaube, fest manifestiert in den Genen. Urglaube sagen manche …
Ostern: Nach altem Brauch fällt das Fest immer auf den Sonntag nach dem ersten Frühjahrsvollmond (nach gregorianischem Kalender frühestens der 22. März und spätestens der 25. April), was auf dem Konzil von Nizäa im Jahre 325 endgültig festgelegt wurde. Den Vollmond deutete der Hl. Ambrosius von Mailand (339–397) als ein Symbol für die Fülle der göttlichen Liebe (vivat.de). Die älteste Bezeichnung für Ostern Eostro geht auf das 8. Jahrhundert zurück und lässt sich mit Morgenröte übersetzen. Eostro leitet sich vom indogermanischen Wortstamm ausos ab, das im Griechischen zu eos – Sonne – und im Lateinischen zu aurora – Morgenröte – wurde (wikipedia.org). Die weit verbreitete Annahme, Ostern beziehe sich auf die germanische Frühlingsgöttin Ostara, ist nicht bewiesen. Vielmehr steht dahinter die landläufige Vorstellung, Ostern müsse eine heidnische Entsprechung haben und sich auf eine solche Figur zurückführen lassen. So ist zu bezweifeln, dass das germanische Frühlingsfest Ostarum, welches vor der Christianisierung der germanischen Volksstämme gefeiert wurde und in dessen Zentrum die Frühlingsgöttin stand, zur Erklärung von Ostern tauglich ist. Aber: Hase, Eier? Der Hase taucht immer wieder im Frühlingsbrauchtum vieler Völker auf, auch als „Eier-Leger“ (mk-online.de). Er ist ein Zeichen der Fruchtbarkeit und des neuen Lebens in der Natur im Frühling. In den griechischen Göttersagen ist er ein Fruchtbarkeitssymbol, denn der Hase ist das heilige Tier der Liebesgöttin Aphrodite. Lange Zeit waren Eier oder Hasen zu Ostern als Abgabe und Zins der Schuldner und abhängigen Bauern an die Gutsherren üblich. Mit dem Färben sollten die „gewöhnlichen Eier“ von den Ostereiern unterschieden werden können. Gefärbte Eier waren immer ein beliebtes Geschenk für Patenkinder, Dienstboten sowie unter Liebenden. Das Verschenken bemalter Eier … Das Ei ist in den meisten Kulturen ein Symbol für Fruchtbarkeit und neues Leben. Früher hatten sich auch viele Eier angesammelt, da man in der Fastenzeit darauf verzichtet hatte. Ganz so unheidnisch scheint mir der Osterbrauch hiernach nicht zu sein. Die christliche Symbolik überlagert ältere heidnische Frühlings- und Fruchtbarkeitsriten und vermischt sich mit ihnen. So kommt es auch, dass der Hase, dessen sprichwörtliche Fruchtbarkeit als Resultat seiner Rammelspiele am offenen Feld gerade um die Osterzeit für jeden ersichtlich ist, schon früh mit dem Ei und dem österlichen Geschehen verbunden wurde. Ganz am Ende: In Byzanz war der Hase in der Tiersymbolik ein Symbol für Christus (landschafftleben.at). Whatever: allen ein frohes Osterfest!

Ob in Gender- oder Rassismusdebatten, bei Klima- oder Coronamaßnahmen: Die Stimmung ist aufgeheizt, die rhetorischen Waffen sind scharf. Wer versucht, zwischen verhärteten Fronten zu vermitteln, hat es oft schwer. Denn jede noch so zögerliche Äußerung wird sofort einem Lager zugeschlagen. Der Raum, um über die Sache selbst noch ergebnisoffen nachzudenken, ist so schwer zu finden. Nicht nur die Gesellschaft, auch das Denken selbst scheint zunehmend polarisiert und politisiert. Es gibt so eine Tendenz, das Abstrakte erst mal zu diskreditieren. In diesem Sog zum Aktuellen und Konkreten liegt eine Einengung des intellektuellen Freiraums, den gerade das Abstrakte bieten kann (Andrea Roeding, deutschlandfunkkultur.de, 21.11.2021). Bereits das Verhältnis der meisten Intellektuellen der Kaiserreichs-Zeit zur Politik im Allgemeinen war spannungsreich, und das prägte auch ihre Einstellung zur Idee und Praxis der Demokratie. Ohne Zweifel gab es demokratische Züge in der politischen
Ordnung des Kaiserreichs. Je weiter man sich von der Reichsebene entfernt, stößt man auf demokratische Praktiken, von vielen einzelnen Regionen des Deutschen Reichs ganz abgesehen. Doch für Intellektuelle war Demokratie noch keine zivilgesellschaftliche Aktivität (nur wenige kannten Tocqueville und niemand sprach von Zivilgesellschaft), sie verbanden mit Demokratie vor allem die nationale Politikebene. Ohne ausdrücklich anti-demokratisch eingestellt zu sein, war eine gewisse Demokratie-Skepsis auf der nationalen Ebene unter Intellektuellen, die sich ansonsten als progressiv, autonom und humanitär eingestellt verstanden, weit
verbreitet. Die meisten sich mit dem Bürgertum identifizierenden Intellektuellen hielten deshalb eine bildungsbürgerliche Distanz zur Politik. Bei ihnen evozierte die „Masse“ vor allem Vorstellungen und Befürchtungen hinsichtlich einer Nivellierung des Bildungs- und Kulturniveaus (demokratie-geschichte.de). Quo vademus? Widersprüchliche Tendenzen der Ent- und (Re-)Politisierung prägen die gegenwärtige demokratische Gesellschaft. Protestbewegungen und Populismus polarisieren auf der Straße und in sozialen Medien, während anonyme Algorithmen oder wissenschaftliche Expertise den Spielraum für politisches Entscheiden zunehmend zuschnüren.

Es ist also gar nicht so leicht zu klären, wer ein Intellektueller ist. Einer, der irgendein Diplom hat? Oder eine Sprachprüfung? Der weiß, wer Homer und Thomas Mann waren, der die Relativitätstheorie kennt und Johann Sebastian Bach, Béla Bartók und Zbigniew Preisner gleichermaßen hört? Der keine Seifenopern anschaut, ja
womöglich gar keinen Fernseher hat, und nie zu McDonald’s geht? In einem Punkte wich beispielsweise die französische Geschichte von anderen westlichen Entwicklungen ab. Selbst die antisemitisch-monarchistischen
Intellektuellenhasser gaben die Ratio als Basis ihrer Argumentation nicht auf. Bei allem Geschimpfe auf „die Intellektuellen“ erhoben sie doch auch den Anspruch, selber „Intellektuelle“ zu sein, allerdings: „die richtigen Intellektuellen“. Stellte nun Édouard Drumont, der Exponent des Antisemitismus, diesen Anspruch lauthals, dann musste er schon am nächsten Tag in „L’Aurore“ lesen, „dass man ihn auf keinen Fall (aucunement) als Intellektuellen zählen kann“ (Dietz Bering „Intellektueller“: Schimpfwort – Diskursbegriff – Grabmal? APuZ 40/2010, S. 5(6)). Pech, mein Lieber …

Viele Kunstschaffende, Intellektuelle und Literaten begrüßten den Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Sie sahen in ihm nicht das Ende oder den Untergang, sondern die Veränderung zum Besseren und stimmten ein in jenen patriotischen Taumel, der das Geschehen in den ersten Wochen und Monaten des Krieges bestimmte. Was
motivierte sie dazu, nicht nur ihr Werk in den Dienst des „Vaterlandes“ zu stellen, sondern sich oft auch persönlich an den Kampfhandlungen zu beteiligen? Das ist heute Gott sei Dank nicht mehr so. Die Erfahrungen, hauptsächlich aus den beiden großen Kriegen, haben uns eines Besseren belehrt. Das künstlerische Werk mit einem propagandistischen Zweck zu versehen, ja, das widerspricht dem Begriff Kunst an sich. Diese kann banal schön sein, in erster Linie sollte sie aber auch kritis h sein. Will heißen: Gute Kunst ist zeit- und sozialkritisch.
Das war auch so seinerzeit nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg. Wann ist Kunst frei? Werden Künstler – gerade Maler/-innen – nicht manches Mal missverstanden?! Oft wird eingewandt, die Kunst kapituliere vor dem Krieg, verharmlose ihn. Diese Argumentation verkennt möglicherweise völlig die Beweggründe der Künstler.Denn diese lassen sich nicht wie Berichterstatter darauf festlegen, eine bestimmte Haltung, möglichst eine kritische Distanz zum dargestellten Objekt einzunehmen. Es ist nicht ihre Aufgabe, ein Geschehen zu analysieren, Brüche und Verwerfungen gesellschaftlicher Realität darzustellen. Ihre Arbeit besteht vielmehr darin, dem Aufprall der Tatsachen in der Gestaltung standzuhalten. Die Kunst will den Betrachter erschrecken oder warnen. Sie muss es aber nicht
unentwegt tun. Mit gleichem Recht darf sie ihn der belastenden Wirklichkeit entrücken. Künstler/-innen waren und sind immer auch Ketzer. Sie haben stets Traditionen und Gewissheiten überwunden, mit allen Risiken. Michelangelo etwa, dessen Deckenfresken in der Sixtinischen Kapelle Neil Mac Gregor 2016 als „große Meditation über Religion“ bezeichnet. Seine Zeitgenossen sahen das freilich anders. Adam, Eva, Engel und Heilige nackt wie Gott sie schuf – das war skandalös, eine Gotteslästerung. Folglich wurde Daniele da Volterra beauftragt, das Werk zu
„entschärfen“ (kulturrat.de). Worin unterscheidet sich der heutige Diskurs von früheren Bilderstürmen? Warum
sind die Grenzen für künstlerische Freiheit, die von rechts gefordert werden nicht gleich mit denen von links?
Missstände wie Kriege erledigen sich nicht, wenn wir ihre Darstellung verbannen oder katalysieren, sondern, wenn wir den Diskurs führen, den nur eine freie Kunst anbietet. Die Rechte will diesen Raum schließen, die Linke will ihn öffnen, indem sie Fragen nach Diversität, Diskriminierung und Demokratie aufwirft. Anders als in den rechten Zensursehnsüchten geht es in der von Linken geführten Debatte nicht um Verbote, sondern um neue Perspektiven auf die Künste und ihre Freiheiten. Links oder rechts, sei ́s drum! Kunst, die instrumentalisiert wird, ist nicht frei …

Im Russland der heutigen Tage kann keine Kunst gedeihen, hierzu fehlt es dort schon an der Basis. Bei uns sieht man in der Kunst im Sinne des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG daher die „freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zur unmittelbaren Anschauung gebracht werden“ (bpb.de). Beim künstlerischen Schaffen wirken Intuition, Phantasie und Kunstverstand zusammen.

Eigentlich hat Joe Biden mit seinem ungeplanten Satz am Ende seiner Rede in Warschau nur eine logische Konsequenz benannt: Wenn sich Wladimir Putin mit dem mörderischen, völkerrechtswidrigen Angriff auf die Ukraine endgültig als Kriegsverbrecher und Schlächter entlarvt hat, wie es der amerikanische Präsident schon vorher ohne Widerspruch verkündet hatte, dann kann man als demokratisch und freiheitlich gesinnter Beobachter des Ukrainekriegs Biden nur zustimmen: Um Gottes Willen, dieser Mann kann nicht an der Macht bleiben“ (tagesschau.de).
Was genau Biden mit diesem Satz sagen wollte und ob dieser Satz so geplant war, ist nicht sofort klar. Hat er es moralisch gemeint, dass Putin jedes Recht verloren habe, von der Welt noch als legitimer Staatschef anerkannt zu werden? Oder hat er tatsächlich dazu aufgerufen, den Mann an der Spitze einer Atommacht aus dem Amt zu entfernen? Ergebnis der Rede war ein Sturm der Empörung. Biden zerstöre die „Einheitsfront“ des Westens. Erinnern wir uns: haben wir in den Monaten vor dem illegalen Angriffskrieg nicht vierzig bis fünfzig mal mindestens die russische Aussage gelesen oder gehört: man habe kein Interesse, die Ukraine anzugreifen?! So oder so ähnlich!
Konsequenz: Die russische Seite hat mehrfach gelogen; und nicht nur Putin …
Was will man mit so jemandem? Was ist nach dem Krieg? Wollen wir mit diesem Staat und diesem Diktator wieder Geschäfte machen? Er bricht rund um die Uhr selbst unterzeichnete Verträge. Man denke zum Beispiel nur an die Energielieferverträge, zu zahlen in Euro oder US-Dollar. Putin will par ordre du mufti zukünftig Rubel. Aus seiner Sicht nachvollziehbar – Putin will den Rubel stützen und braucht nach den Sanktionen Geld in der Kriegskasse. Nur: Putins Entschluss ist juristisch für uns nicht die Bohne bindend. Olaf Scholz hat es formuliert, falls der russische „Präsident“ dabei bleibt: Vertragsbruch! In seiner kämpferischen Rede machte Biden klar, dass die Welt ein „langer Kampf“ (news.at) der Demokratien gegen die Autokratien erwarte. Es gehe um eine große Schlacht zwischen Demokratie und Autokratie, zwischen Freiheit und Unterdrückung, zwischen einer regelbasierten Ordnung und einer, die von brutaler Gewalt bestimmt wird. Man müsse dabei klar sehen: Diese Schlacht werde nicht in Tagen geschlagen werden oder in Monaten. Wir müssen uns für einen langen Kampf einstellen, so auch der inmitten des Zweiten Weltkriegs geborene US-Präsident.
Diese Passage der Rede, Putin könne nicht an der Macht bleiben, sorgte für eilige Reaktionen. Ein ranghoher Vertreter des Weißen Hauses, der ungenannt blieb, betonte, Biden habe nicht zum Sturz Putins aufgerufen. „Die Botschaft des Präsidenten war, dass es Putin nicht erlaubt sein darf, Macht über seine Nachbarn oder die Region auszuüben“ (dw.com). Aus dem Kreml hingegen kam der kühle Kommentar, nicht der US-Präsident bestimme über Russlands Staatsspitze, sondern das russische Volk. Soweit d ́accord!Aber in einer freien Wahl, nicht im Rahmen einer „Zarenkrönung“. Notfalls muss das russische Volk Putin stürzen …

Januar 1982: der Berliner Appell „Frieden schaffen ohne Waffen“, verfasst von Robert Havemann und Rainer Eppelmann. Den Verfassern des Appells geht es um eine dauerhafte Grundlage einer Friedensordnung und nicht um einen Frieden als Abwesenheit von Krieg. Sie treten für eine Politik ein, die nicht lediglich die Vertagung des Krieges im Blick hat, sondern substantielle Entspannung anstrebt. Etwa 80 Personen, überwiegend aus der Berliner Friedensbewegung, gehören zu den Erstunterzeichnern (Robert-Havemann-Gesellschaft/ RH 343, Seite 1 von 2).
Es kann in Europa nur noch einen Krieg geben, den Atomkrieg. Die in Ost und West angehäuften Waffen werden uns nicht schützen, sondern vernichten. Wir werden alle längst gestorben sein, wenn die Soldaten in den Panzern und Raketenbasen und die Generäle und Politiker in den Schutzbunkern, auf deren Schutz wir vertrauten, noch
leben und fortfahren zu vernichten, was noch übrig geblieben ist.
Vierzig Jahre später: Deutsche Friedensbewegte demonstrierten für die Menschen in der Ukraine – aber ohne Menschen aus der Ukraine. Jetzt schon zum zweiten Mal wollten die Demonstrationsveranstalter eine ukrainische Gruppe nicht dabeihaben, weil sie für einen anderen Blick auf den Krieg steht – einen realistischeren. Denn es sind ihre Verwandten oder Freunde, die gerade auf der Flucht sind, oder die für die Souveränität und die Freiheit der Ukraine um ihr Leben kämpfen. Dass sie genau das tun, wofür sie weltweit bewundert werden, und dass sie sich nicht kampflos ergeben, macht sie manchen Anhängern eines moralistischen Pazifismus bereits verdächtig. Hier treffen zwei Weltsichten aufeinander: die der Ukrainer/-innen, welche vor der knallharten Kriegsrealität geflohen sind, ja, auch Verwandte dort zurückgelassen haben, die ausharren und weiter kämpfen. Die andere: die einer Utopie, geboren vor spätestens vierzig Jahren. Wieviel Arroganz und Unkenntnis steckt dahinter? Viel! Beide Weltsichten haben das gleiche Ziel: Frieden. Gut so! Aber wie weit taugt eine Utopie, wenn sie Menschen, die das Kriegsschicksal live erlebt haben, traumatisiert sind, einfach aus ihrer Sphäre ausschließt?! Eine Utopie, die sich nicht gern durch reale Erfahrungen „stören“ lässt, taugt wahrhaftig nicht viel. Utopien umweht meist der Wind der Exotik. Aber es gibt sie doch, weil man etwas bewegen möchte – meist zum Guten hin. Und das ist doch nicht schlecht. Und mal Hand aufs Herz: die Intention der Utopie ist doch, dass sie Realität werden möge. Sonst ist die Absicht derer bereits absurd. Eine Utopie kann sich dann verwirklichen, wenn sie sich mit der Realität konfrontiert. Die Idee der Utopie muss sich mit realen Aspekten füllen. In einem solchen Prozess kann sie schleichend zur Wirklichkeit werden und vielleicht etwas verbessern. Frieden schaffen ohne Waffen ist wahrhaft kein schlechtes Ziel. Wir dürfen dieser Idee bei deren Umsetzung aber keine Steine in den Weg werfen, sonst wird das nichts.Wieder ist in der modernen zivilisierten Welt die Herausforderung beim Krieg in der Ukraine: Das Recht des Stärkeren darf sich nicht durchsetzen!