Liebe Petra,
tagtäglich beschäftige ich mich mit Problemen, die mich aufregen und ich versuche oft, meinen Frust besser zu verstehen. Die Welt spielt verrückt, egal wohin man schaut. Hier zwei kleine Ansätze, um dir zu zeigen, dass ich trotz starker Schmerzen nicht im Jammertal gelandet bin und meine Birne noch relativ gut funktioniert. Wenn ich nicht in Standuhren des 18. Jahrhunderts hinein falle – wie es gestern der Fall war – schreibe ich Geschichten über Pierre den Antiquitäten-Killer. Ätzend! Hereinspaziert, the show must go on.
Ich möchte noch einmal auf ein Phänomen unserer Zeit zurückkommen: Das Gaffen. Es handelt sich um Leute, die Spaß daran haben, Unfälle mit ihren Handys aufzunehmen, um dann sie auf ihre Internetseite zu laden. Ich finde dieses Verhalten unmöglich, aber darüber will ich mich nicht weiter äußern, vielmehr geht es um das Warum. Psychologisch gesehen, zieht der Tod viele Leute an sonst hätten wir nicht diese inflationäre Zahl von Krimis im Fernsehen und – auch, wenn er uns Angst einjagt – finden wir nicht den Weg, ihn zu ignorieren. Nach der Geburt ist er das größte Ereignis des Lebens und was ihn noch so seltsam macht, ist die Tatsache, dass wir nicht wissen, wie es danach um uns bestellt ist. Werden wir in eine totale Leere sinken oder wird der Lebenszyklus durch eine Reinkarnation fortgesetzt? Dieses Thema lässt uns nicht los, aber was hat das mit dem Gaffern zu tun? Ich kann mir vorstellen, dass die Tatsache k e i n Opfer eines Unfalls zu sein, diese Menschen irgendwie beruhigt. Vielleicht gibt es auch viel trivialere Gründe, wie die Sensation, einmal den Reporter spielen zu dürfen und somit Anerkennung zu ernten? Vielleicht ein Reflex, der durch die Medien gefördert wird und der besagt, dass jede Nachricht sofort verbreitet werden soll, vielleicht ist das der Auslöser? Oder auch die Versuchung, dem Anstand einen Tritt zu geben? Ich kann mir durchaus vorstellen, dass der Mensch im Grunde genommen ein Voyeur ist, denn das war in ganz früheren Zeiten, wie übrigens noch heute, notwendig, um zu überleben und um über den Feind eine Kontrolle zu haben, war es wichtig, Eintritt in sein intimes Leben zu haben. Das Gaffen dient aber nicht der Verteidigung, ist aber ein gewaltiges Eindringen in eine sehr intime Sphäre- umso mehr, wenn sich der Tod einmischt. Man wird den Kindern wohl erklären müssen, dass die Neugierde auch Grenzen hat. In einem Land wie Spanien, wird der Tod zelebriert. Der Stierkampf ist das Symbol des Ablebens. Er bezieht seine Faszination durch den Mord an dem Stier. Sterben zu sehen erweckt Reaktionen, die in Urzeiten führen. Vielleicht ist das für die Überlebenden eine Warnung? Im Mittelalter waren die Hexenverbrennungen oder Torturen, die angewandt wurden, sowohl eine Warnung als auch ein Spektakel, wie es beim Gaffen der Fall ist. Es gibt immer Zuschauer, wenn eine Frau gesteinigt oder ein Dieb gehängt wird. Ein primitives Verhalten, das sich nicht anhalten lässt und auch so für die „Filmemacher“ auf der Autobahn.
Eine Nachricht in „Le Monde“ veranlasste mich den folgenden Artikel zu schreiben: In Frankreich fühlen sich viele Juden bedroht und es wird immer wieder über antisemitische Angriffe berichtet. Das hat zur Folge, dass sich viele unter ihnen verbarrikadieren, sei es physisch oder seelisch und in den beiden Fällen ist das falsch. Es könnte dadurch eine Ghetto-Mentalität entstehen, die sie einerseits in die Isolation führt, andererseits Aggression bei den Anderen erweckt, weil sie sich ausgeschlossen fühlen, so verrückt es klingen mag. „Die leben unter sich, glauben sie, etwas Besonderes zu sein?“, sind Bemerkungen, die man immer wieder hört. „Und wer sich versteckt, hat etwas zu verbergen.“ Von da aus sind diffamierende Legenden – wie der rituelle Mord an Neugeboren aus religiösen Gründen – entstanden. Es ist leicht von außen Ratschläge zu geben, aber ich würde mich an ihrer Stelle soweit wie möglich in die Gesellschaft integrieren, denn nur mit einem sehr großen Selbstbewusstsein kann man seine Identität bewahren, aber ohne arrogant zu sein. Das Letztere wird immer wieder den Juden vorgeworfen. Das kommt von ihrer Abwehrreaktion und vom Bedürfnis sich einzuigeln. Ein Verteidigungsreflex, der zu ihrem Verhängnis wird und den Antisemitismus nach oben treibt. „Für wen halten sie sich? Für das ausgewählte Volk?“ Auch wenn der Papst voll und ganz eine andere Stellung für sie einnimmt, ist diese Haltung nicht immer bis ganz unten gedrungen. Von der Kanzlei aus hört man immer wieder Priester, die ihnen die Kreuzigung an Jesus anlasten und solche Äußerungen sind Gift für ein harmonisches Zusammenleben. Wenn man weiter über „die Juden“ spricht, als ob sie von einer fremden Gattung seien, wird es keine Toleranz geben. Ich weiß nicht ob dieses Wort angebracht ist, weil sie zu unserer Nation gehören, wie übrigens viele Muslime auch. Sie haben die gleichen Rechte und Verpflichtungen wie wir und es muss alles getan werden, um diese Barrieren zu zerbrechen. Gegen die bösen Äußerungen muss strenger vorgegangen werden, denn Wörter können töten und in diesem Fall scheint es zu stimmen. Sich einzukapseln ist ein Tod auf Raten und die Vertreter aller Religionen sollten den Weg einer Einheit suchen. Ein alter Freund erzählte mir, dass in seiner Jugend, in Mogador in Marokko, Christen, Juden und Muslims ihre Gotteshäuser den anderen zur Verfügung stellten, wenn zum Beispiel Platzmangel war. Ein friedliches Zusammenleben, das wir leider nicht mehr erleben und das ist ein Verlust an Lebensqualität!
Einen schönen Tag, liebe Petra.
Eine Umarmung aus München,
Pierre
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