„Das Kunstwort kennzeichnet eine Haltung, die in diesem Jahr mit Brexit und der US-Wahl von großer Bedeutung war und uns auch noch weiterhin beschäftigen wird: sich in politischen und gesellschaftlichen Diskussionen zunehmend von Emotionen anstelle von Fakten leiten zu lassen“, so GfdS-Vorsitzender Peter Schlobinski. GfdS bedeutet Jury der Gesellschaft für deutsche Sprache. „Postfaktisch“ sei eine Übertragung aus dem englischen „post truth“ – dem internationalen Wort des Jahres 2016 – und werde von Politikern häufig benutzt, so der Professor für Sprachwissenschaften an der Universität Hannover.

Auf den zweiten Platz wählte die Jury „Brexit“. Das Ergebnis des britischen Referendums, das zum Austritt aus der EU führen soll, sei ein Triumph postfaktischer Politik gewesen, so Andrea-Eva Ewels, Geschäftsführerin der GfdS. Außerdem werde diese Wortkreuzung in immer neuen Kombinationen weitergeführt. Platz drei belegt „Silvesternacht“. „Ein vorher an sich unbelastetes Wort ist nach den Ereignissen in Köln jetzt hoch emotional aufgeladen“, so Peter Schlobinski. Auf den vierten Platz kommt „Schmähkritik“, ein aus dem juristischen Umfeld stammender Begriff, der durch die Auseinandersetzung des Satirikers Jan Böhmermann mit der türkischen Regierung in die Öffentlichkeit rückte und einen ironischen Beigeschmack bekommen habe. „Schmähen“, so Schlobinski, sei ein aus dem Mittelalter stammender Begriff.

Platz fünf ist der „Trump-Effekt“, der für vermutete Auswirkungen der amerikanischen Präsidentenwahl steht. „Social Bots“ belegen den Platz sechs: „Hier geht es um das Vortäuschen von Stimmungsbildern durch automatisierte Texte – auch das ein Thema, das 2016 hoch kam und uns noch lange nachwirken wird“, meint Andrea-Eva Ewels. Der biologisch-rassistische Begriff „schlechtes Blut“, mit dem der türkische Staatspräsident Erdogan türkischstämmige deutsche Bundestagsabgeordnete zu diffamieren suchte, steht auf Platz sieben. Der „Gruselclown“, der nicht nur zu Halloween Angst und Schrecken verbreitet, landet auf Rang acht, das in Frankreich verhängte „Burkiniverbot“ auf Platz neun.

Den zehnten und letzten Platz belegt traditionell ein „Satz des Jahres“. Für 2016 ist das der Buchtitel von Janosch: „Oh, wie schön ist Panama“. Damit wurde 2016 wiederholt auf die Veröffentlichung der so genannten „Panama Papers“ angespielt, die für Enthüllungen von Prominenten sorgten, die Steuern am Fiskus vorbei zu Briefkastenfirmen in Panama leiten.

Das „Wort des Jahres“ wird 2016 zum 41. Mal bekannt gegeben. Es geht dabei nicht um das Wort, das besonders häufig in den Medien genannt wird, sondern um das mit einer signifikanten Bedeutung für das vergangene Jahr. Wir erinnern uns an „Wutbürger“, das 2010 gekürt wurde, noch kaum bekannt war und sich als gute Wahl zeigte, weil es eine signifikante Bedeutung hat. Auch „postfaktisch“ werde Karriere machen, sind sich die Wiesbadener Sprachwissenschaftler sicher, die in einer mehrstündigen Jurysitzung aus 150 verbliebenen Vorschlägen das Ranking erstellt haben.Die ersten zehn sind jetzt auch eine Woche lang auf einem Banner am Wiesbadener Rathaus zu lesen.

Faktische Politik ist ein politisches Denken und Handeln, bei dem Fakten im Mittelpunkt stehen. Die Wahrheit einer Aussage tritt nicht hinter den Effekt der Aussage auf die eigene Klientel zurück. In einem demokratischen Diskurs wird – gemäß dem Ideal der Aufklärung – über die zu ziehenden Schlussfolgerungen aus belegbaren Fakten gestritten. In einem postfaktischen Diskurs wird hingegen gelogen, abgelenkt oder verwässert, ohne dass dies entscheidende Relevanz für das Zielpublikum hätte. Entscheidend für die von postfaktischer Politik angesprochenen Wähler ist, ob die angebotenen Erklärungsmodelle eine Nähe zu deren Gefühlswelt haben (Alard von Kittlitz: Die Erde ist eine Scheibe, Die Zeit, 28.09.2016).

Wo und in welchen Zeiten leben wir, dass wir lügen müssen, um Wähler zu bekommen bzw. diese zumindest bei der Stange zu halten?! Den Verstand abschalten, an das Gefühl appellieren! „Ja, genau! Endlich sagt´s mal einer!!!“, wird gebrüllt. Die misera plebs herrscht wieder in den Straßen, man sorgt wieder für „Recht und Ordnung“. Zu welchem Preis? Auf wessen Kosten? Auf unser aller Kosten! Nein danke, keinen Bock! Wer sich von Gefühlen statt vom Verstand leiten lässt, ist empfänglich für Angst. Und Angst macht lenkbar, die Massen lassen sich bereitwillig zur Schlachtbank führen von dem/denen, die „es endlich mal sagen“. Schalten wir das Gehirn wieder ein; der Weg in die „sterbende Demokratie“ (Welt der Wunder 11/2016) ist längst aller Orten angetreten. Denkende Menschen bleiben hier stehen. Hier geht es nicht weiter!

„Post-faktisch“ klingt auch wie „nach den Fakten“. Haben wir die Stufe der Realität überwunden? Die Evolutionsgeschichte gibt die Antwort: Hierfür ist unser Gehirn (noch) nicht gemacht!

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