Der Brexit hat die Diskriminierung nach Staatsangehörigkeiten salonfähig gemacht. Die EU verhält sich bemerkenswert zurückhaltend

Die Regierung von Premier Theresa May hat in letzter Zeit wissen lassen, dass als Nicht-Brite aufenthaltsberechtigt künftig nur sein wird, wer den Nachweis führt, „den eigenen Lebensunterhalt finanzieren zu können und über umfassenden Krankenversicherungsschutz zu verfügen“. Zu Letzterem genügt nicht, einen Anspruch auf Zugang zum Nationalen Gesundheitsdienst NHS erworben zu haben. Damit hat die Regierung der Tories Bürger der Europäischen Union noch schlechter gestellt als deren Mitgliedstaaten wiederum Nicht-EU-Bürger bei Beantragung eines sogenannten Schengen-Visums.

Das und sein Gegenstück der in der EU lebenden Briten ist wesentlicher Teil des „Rosinenpickens“, das vor Monaten aus Brüssel und Berlin Richtung London zurückgewiesen worden ist. Gemeint ist ein Ausscheiden des Vereinigten Königreichs aus der Union bei gleichzeitiger Verhandlung über ein neues Wirtschaftsabkommen. Ziel eines solchen „Soft-Brexit“ wäre gewesen, weiterhin den freien Verkehr von Waren, Kapital und Dienstleistungen zu gewährleisten, aber ohne Freizügigkeit der Personen.

Es wäre nicht nur eine Umgehung des Wortlautes Europäischer Normen, wonach „jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten“ ist, wie es in Artikel 18 AEUV heißt. Es wäre der direkte Faustschlag gegen den Geist der Europäischen Einigung aus der Präambel der Römischen Verträge von 1957, „einen immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker zu schaffen“.

Ähnlich, was die Schweiz betrifft: Wenngleich nicht Mitglied der EU, ist die Helvetische Konföderation durch bilaterale Abkommen politisch, wirtschaftlich und kulturell eng mit der Union verwoben. Das gilt insbesondere für die gegenseitige Anerkennung des Prinzips der Personenfreizügigkeit. Die Schweizerische Volkspartei (SVP) drängt auf dessen Aufkündigung, seitdem sie das landesweite Migrationsreferendum Anfang 2014 und das im Kanton Tessin zu den italienischen Grenzgängern (September 2016) gewonnen hat. Eine abermalige Volksabstimmung steht jetzt bevor, die genau diesen Aspekt des Verhältnisses zwischen der Schweiz und den Europäischen Institutionen ausloten soll.

Ähnliche Überlegungen gibt es in Österreich und Ungarn. In Großbritannien hat sich die Ambiguität bei der Verwendung des Wortes „Ausländer“ im Brexit in ihrer ganzen Bandbreite manifestiert. Im Vereinigten Königreich hatte sie einen demographischen Ausgangspunkt. Anders als in anderen Europäischen Staaten gibt es hier Geburtenüberschuss. Zusammen mit dem positiven Saldo der Migrationsbewegungen hat das in vergangenen Jahren zu einem Bevölkerungszuwachs von landesweit rund 0,7%/p.a. oder etwa 500.000 Personen/Jahr geführt. Interessant ist die Gegend rund um London mit einem doppelt so hohen Anteil. Die Gruppe mit der höchsten Zuwachsrate bilden dabei die in Polen Geborenen, die von 2001 bis 2015 ihre Präsenz im Vereinigten Königreich mehr als verzehnfacht haben.

Die im letzten Herbst festgestellte Beschäftigungsquote von 74,5%, sowie die der Arbeitslosigkeit von unter 5% zeigen: Die Zugezogenen sind nicht nur erfolgreich in die Arbeitswelt integriert, sondern haben den Wiederaufstieg der Volkswirtschaft seit der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 maßgeblich mitgestaltet.

Der konservative Thinktank MigrationWatch UK hat daraus eines der Ausgangsmotive für den Brexit gemacht. Das Vereinigte Königreich – speziell England – seien bereits sehr dicht besiedelt (doppelt so dicht wie Deutschland, fast vier Mal so viel wie Frankreich) und litten unter chronischem Wohnraummangel. Bedeutsamer erscheint die Bemerkung, dass „die Nettozuwanderung aus Europa jetzt beinahe so stark ist wie die von außerhalb der EU“. Was etwa in Deutschland und anderen mitteleuropäischen Staaten als abzuweisende Wirtschaftsflucht bezeichnet wird, ist im Vereinigten Königreich erwünscht: Zuwanderer aus Indien, Pakistan, Bangladesch oder Kenia folgen dem Imprint des Commenwealth of Nations genauso wie Personen aus dem arabischen Raum.

Dabei sind es die jeweiligen insbesondere finanziellen, in ihren Ursprungsländern gleichzeitig gesellschaftlichen Eliten, die sich Lebensunterhalt und private Krankenversorgung leisten können. Die Vermutung, dass hier zum Glanz des Finanzplatzes London der Gedanke an eine wieder erstarkende Glorie der britischen Krone eine Rolle spielt, liegt nicht völlig fern.

Die Abschaffung der Schlagbäume an innereuropäischen Grenzen als Vollzug der Schengener Abkommen ist über den Rechtsrahmen hinaus ein Akt mit großer Symbolkraft gewesen. Das Europa der geschlossenen und bewachten Grenzen ist eine historische Anomalie, die mit dem Ersten Weltkrieg einsetzte.

So polyvalent „Ausländer“ als Politikum ist, so verhält es sich mit den Grenzanlagen. Beispiel: Die Abwehranlagen am Eingang des Eurotunnels in Calais. Gedacht als Maßnahme gegen die Flüchtlinge, die das Vereinigte Königreich erreichen wollten, richten sie sich heute auch gegen EU-Angehörige. Symbolisch ein actus contrarius, statt eines Reiseterminals eine neue Maginot-Linie.

Die derzeitige Zusammensetzung der EU-Institutionen lässt nicht erwarten, dass zugunsten der Personenfreizügigkeit klare Signale gesetzt werden. Nach der Kommission ist auch das Europäische Parlament mittlerweile fest in konservativer bis europaskeptischer Hand.

Ein weiteres Kunstwort, gerade erst kreiert. Nein, keine Angst, kein weiteres Indiz, dass die Europäische Union (EU) zusammenbricht! Sind es Vorgänge einer Untergangsstimmung in der Schweiz?! Was viele nicht wussten: Die Schweiz hatte einmal ein Beitrittsgesuch zur EU gestellt.

Nach dem Nationalrat hat jetzt auch der Ständerat den Rückzug des Beitrittsgesuchs von 1992 beschlossen: Ein historischer Entscheid, aber ohne Folgen!

Der Ständerat hat Mitte Juni mit 27 zu 13 Stimmen und zwei Enthaltungen einer Motion von SVP-Nationalrat Reimann zugestimmt, die den Bundesrat auffordert, das EU-Beitrittsgesuch von 1992 zurückzuziehen. Der Nationalrat hatte bereits im März in diesem Sinne entschieden, mit 126 zu 46 Stimmen bei 18 Enthaltungen.

Wie zieht man 24-jähriges Beitrittsgesuch zurück, das in einem Brüsseler Keller in einem Archiv lagert? Der Bundesrat werde der EU mitteilen, das Gesuch sei „als zurückgezogen zu betrachten“, sagt Außenminister Burkhalter.

Wie auch in der großen Kammer wehrte sich der FDP-Bundesrat nicht gegen die Motion, die zwar nutzlos, aber auch nicht schädlich sei. Die EU wisse, dass das Gesuch der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) galt und mittlerweile gegenstandslos sei.

Kein Redner maß dem im Mai 1992 unterzeichneten Schriftstück einen besonderen Wert bei. Die Meinungen, wie mit „nutzlosen“, „politisch inexistenten“ und rein „symbolischen“ diplomatischen Dokumenten umzugehen sei, gingen aber – wie so oft in früheren Debatten – weit auseinander.

Keller-Sutter (fdp.) plädierte für einen Rückzug des Gesuchs. Das bringe zwar keinen praktischen Vorteil, aber auch keinen Nachteil. Dafür könne die Schweiz einen Schlussstrich ziehen unter dieses historische Thema und sich den Herausforderungen der Zukunft widmen. Das Volk von der Notwendigkeit eines institutionellen Rahmenabkommens zu überzeugen, während das Beitrittsgesuch in den Köpfen immer noch präsent sei, könnte schwierig werden.

Thomas Minder (parteilos) wollte das Thema kurz und schmerzlos beenden, zumal nur heute nur noch „ein paar Wahnsinnige“ der EU beitreten würden. Es gelte, „reinen Tisch“ zu machen, so ein anderer Abgeordneter. Island hat den Mut gehabt und das Beitrittsgesuch zurückgezogen, deshalb sei kein Vulkan ausgebrochen. Man verspricht sich von der Motion, dass sie zu einem besseren atmosphärischen Gleichgewicht der Schweizer Politik beitrage.

Andere Abgeordnete finden die ganze Diskussion, die schon oft geführt wurde, mehr als „ein bisschen lächerlich“. Es sei nicht sehr intelligent, immer wieder darüber zu diskutieren. Die Anregung einiger Parlamentarier, der EU anstelle eines Rückzugs eine differenzierte Erklärung zukommen zu lassen, ist von der Kommission nicht aufgenommen worden.

Die Gegner der Motion argumentierten, dass die Schweiz gar keine Beitrittskandidatin sei und sich mit einer Erklärung zum Gesuch vom 1992 im besten Falle lächerlich mache. Den Vergleich mit dem zurückgezogenen Beitrittsgesuch Islands hält der Rückzug der Schweiz nicht Stand. Im Unterschied zur Schweiz hat Island noch mit der EU verhandelt, als dessen Antrag zurückgezogen wurde.

SP-Präsident Levrat hat keine keine Lust mehr „auf solche Übungen“.

Was tut man nicht alles, um „reinen Tisch“ zu machen?! Blick nach Deutschland: Der dortige Landtag will Hessens Verfassung nach 70 Jahren entstauben. Was in einer neuen Verfassung unter anderem keinen Platz mehr haben soll: die Todesstrafe. Bis heute steht sie im Artikel 21. Praktisch ist das egal, das Grundgesetz schließt sie aus: Bundesrecht bricht Landesrecht! Doch die Politiker wollen die Todesstrafe endlich aus dem hessischen Text tilgen.

Ab und zu lassen sich symbolische Akte nicht vermeiden!

 

Beim Urnengang am 5. Juni diesen Jahres werden die Schweizer wohl mit großer Mehrheit gegen die Einführung eines Grundeinkommens in ihrem Land stimmen. Die Umfragen sind eindeutig. Damit wird diese Idee im Alpenstaat nur als Vision, als „konkrete Utopie“ (Bloch), weiterleben.

Macht nichts! Dieses Scheitern ist ausnahmsweise ein Erfolg. Was bei unserem südlichen Nachbarn in den vergangenen Monaten passiert ist, hat das Land und die Gesellschaft nach vorn gebracht. Aus einem Thema, das bestimmten akademischen Zirkeln und Enthusiasten vorbehalten war, ist eine breite gesellschaftliche Diskussion geworden. Auch aus dem Ausland sind namhafte Persönlichkeiten in die Schweiz gereist, haben sich zu Wort gemeldet: von Yanis Varoufakis, dem ehemaligen griechischen Finanzminister, bis zu Robert Reich, ehemaliger US-Arbeitsminister.

Das gemeinsame Nachdenken über bedingungsloses Grundeinkommen hat die Gesellschaft verändert. Damit haben die Initiatoren ihr Ziel erreicht: sie wollten die Debatte im eigenen Land, in Europa, weltweit befeuern. „Das Grundeinkommen ist ein Kulturimpuls. Es geht um die Weiterentwicklung des wirtschaftlichen Systems und des Kapitalismus“, sagte Mitinitiator Enno Schmidt.

Unterschiedliche Fragen sind zu beantworten:

Welche Rolle spielen Arbeitslöhne als Anreiz dafür, überhaupt zu arbeiten?

Wie verändern sich soziale Beziehungen, wenn sich ökonomische Abhängigkeitsverhältnisse verändern?

Was passiert mit uns und dem Wirtschaftssystem, sollten an die Stelle menschlicher Arbeitskraft immer mehr Roboter treten?

Profitiert die Allgemeinheit davon, wenn jeder Einzelne seine Tätigkeiten weniger an der kaufkräftigen Nachfrage ausrichten muss und dafür stärker auf die tatsächlichen eigenen und fremden Bedürfnisse eingehen kann?

Letztendlich: Welche Ideen gibt es, um das Vorhaben eines bedingungslosen Grundeinkommens umzusetzen? Wie realistisch sind sie?

Das sind Diskussionen, die eine Gesellschaft benötigt, die Entwicklungen antizipiert, statt von ihnen überrollt zu werden.

An der Abstimmung über das Grundeinkommen zeigt sich die Bedeutung von Volksinitiativen und direkter Demokratie. Denn obwohl die Schweiz bisweilen etwas behäbig daherkommt, ist sie in Wahrheit ein Fortschrittsmotor. Neue, auch ungewöhnliche Ideen schaffen es schon dann auf die politische Agenda, wenn nur knapp zwei Prozent der Stimmberechtigten der Meinung sind, dass darüber abgestimmt werden sollte. In repräsentativen Demokratien liegt dies hingegen stark in der Hand der politischen, ökonomischen und medialen Eliten. Diese Eliten, die tendenziell daran interessiert sind, die Verhältnisse, die sie groß gemacht haben, zu bewahren, müssen von den Bürgern aufwendig von neuen Ideen überzeugt und zum Handeln bewegt werden, bevor überhaupt ein gesellschaftlicher Diskurs darüber entstehen kann. Neue Ideen haben es schwer bei uns.

Eine Erklärung, warum die Schweiz in den vergangenen Jahren immer stärker zum politischen Labor Europas geworden ist! Viele brisante Themen kamen in der Alpenrepublik auf den Tisch. Dazu gehörte eine Initiative, Managergehälter an die Löhne der Belegschaft koppeln zu wollen, oder auch eine andere, die Mehrwertsteuer durch eine Energiesteuer zu ersetzen, und dazu gehörte eine solche zur Abschaffung der Spekulation mit Nahrungsmitteln.

Gescheitert sind alle. Allen ist aber gemein, dass sie unabhängig vom Wahlausgang gesellschaftliche Wirkung entfalten. So führte etwa die Initiative zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns dazu, dass wichtige Firmen wie u. a. der Discounter Lidl noch vor der Abstimmung „freiwillig“ die niedrigsten Löhne angehoben haben.

Im Ausland erhalten die Entscheidungen, wie jetzt beim bedingungslosen Grundeinkommen, oft ungeheure Aufmerksamkeit. Und gerade weil die Schweizer so motiviert nach Lösungen der Probleme suchen, mit denen auch andere Staaten ringen, hat sich das Land immer mehr zum politischen Motor Europas entwickelt.