Gestern ist er von uns gegangen: Helmut Kohl, einer der großen der europäischen Geschichte. Ich kann mich noch erinnern: Nach dem Misstrauensvotum 1982, Kanzlerwechsel. Helmut Schmidt gratulierte Helmut Kohl als erster vor laufenden Kameras. Mein Vater sagte seinerzeit, Kohl sei mit seinen knapp über fünfzig Jahren viel zu jung für das Amt des Kanzlers. Ja, große Menschen der Geschichte! Die Briten hatten Margaret Thatcher, wir Deutschen Helmut Kohl. Meine Generation ist zwischen 1982 und 1998 mit ihm aufgewachsen.

In den 1980er Jahren diskutierten wir am Abendbrottisch über das Wettrüsten und Atomkraft, in den 1990er Jahren beschäftigten uns Ossis, Wessis und die Wiedervereinigung. Wenn man den Fernseher anschaltete, war er immer da: Helmut Kohl.

Als Kohl noch nicht „Kanzler der Einheit“ war, hatte er wegen seiner Körperform den Spitznamen „Birne“ bekommen, besonders gepflegt vom Satire-Magazin „Titanic“.

Selbst zu Kanzlerzeiten trug Kohl noch Brille und jene Strickjacke, die heute im Haus der Geschichte in Bonn aufbewahrt wird.

Der gemütliche Pfälzer mit Vorliebe für Saumagen. Welch Temperament der CDU-Mann hatte, sahen wir erst, als er damals in Halle auf einen Eierwerfer zustürmte.

Als cool galt Kohl bei den meisten jungen Deutschen in den 1980er Jahren nicht. Wer bei der Jungen Union aktiv war, führte eher ein Randgruppen-Dasein: Das waren die Jungs mit Scheitel und Aktenkoffer mit Zahlenschloss.

Florian Illies schrieb in seinem Gesellschaftsporträt „Generation Golf“ im Jahr 2000: „Raider heißt jetzt Twix, sonst änderte sich nix“. Er zeichnete das Bild einer Wohlstands-Generation.

17 Jahre nach Illies´ Bestseller hat sich der Blick auf die Zeit verändert. Es war damals doch so einiges los. Die alte BRD wurde reif für historische Fernsehserien wie Deutschland 83. Die Agentenserie zeigt, wie haarscharf wir in Ost und West am Dritten Weltkrieg vorbeischrammten.

Als Helmut Kohl im Herbst 1982 Kanzler wurde, gab es nur drei Fernsehprogramme, nachts lief das Testbild. Gerade hatte Nicole mit weißer Gitarre und „Ein bisschen Frieden“ den Grand Prix gewonnen. So hieß damals der Eurovision Song Contest (ESC).

In den Kino brach Steven Spielbergs E.T. mit „E.T. phone home!“ alle Rekorde, auf den Schulhöfen wurde gestritten, ob der kleine Außerirdische niedlich oder total hässlich war. Ein Bestseller war Michael Endes „Die unendliche Geschichte“. Die Neue Deutsche Welle erreichte ihren Höhepunkt, das sinnfreie „Da Da Da“ von Trio dudelte aus dem Radio. Autos waren deutlich eckiger als heute, Opel brachte 1982 den Corsa auf den Markt. Videos (das waren Kassetten!) boomten.

Computer waren Anfang der 1980er Jahre noch etwas für Freaks, am Telefon meldete man sich stets mit Namen. Aerobic war der letzte Schrei, Jane Fonda war damals das große Zugpferd. In der DDR nannte man den Sport „Popgymnastik“. Steffi Graf und Boris Becker spielten uns im Tennis an die Weltspitze. Um 1985 starteten zwei Serien, die in Deutschland Fernsehgeschichte machten: die Schwarzwaldklinik und die Lindenstraße. 1986 der Schock: Reaktor-Unglück von Tschernobyl! Es wurde vor dem Verzehr von Pilzen und Wild, sowie vor dem Genuss von frischer Milch und Blattgemüse gewarnt.

Während wir nach dem Mauerfall 1989 in Ost und West zusammenwuchsen, wurde Julia Roberts als „Aschenputtel“ in Pretty Woman zu einem unserer BRAVO-Postergirls der 1990er Jahre.

Nach Spielbergs Jurassic Park verfielen alle dem Dinofieber. 1995 verhüllte das Künstlerpaar Christo den Berliner Reichstag – Kohl war dagegen. Das Internet funktionierte noch und nur mit pfeifenden Modems, Handys gab es, wurden aber noch etwas skeptisch als Angeber-Gerät beäugt. Die ersten „Yuppie-Knochen“ passten in keine Damenhandtasche.

1998 blödelte Guildo Horn beim ESC, VW brachte den neuen Beetle im Retro-Look auf den Markt. Nach 281 Folgen ging die Krimiserie Derrick zu Ende.

Im Oktober des Jahres musste Helmut Kohl vor die Kameras treten und seine ersten Worte waren: „Die Wahl ist verloren!“. Gerhard Schröder hatte mit der SPD gewonnen und sollte sieben Jahre Kanzler bleiben.

Man mag zu Helmut Kohl stehen wie man will: Rückschauend war er es, der uns die Wiedervereinigung unserer Nation und auch das geeinte Europa bescherte. Nicht zuletzt hat er wesentlich dazu beigetragen, die bereits vorher beschlossene Einführung unserer europäischen Währung, des EURO, voranzutreiben.

Er hat mit seiner Politik den politischen Rahmen und die wirtschaftlichen Bedingungen geschaffen, dass wir in Wohlstand und Freiheit leben und aufwachsen konnten.

Gefragt, würde ich sagen: Er war kein europäischer Deutscher, er war ein deutscher Europäer.

Wir verneigen unser Haupt vor seiner Lebensleistung.

 

 

Hallo Tagebuch,

ich mache mir in letzter Zeit einige Gedanken. So zum Beispiel über Grenzen. Ja, unter anderem, oder hauptsächlich, wegen der Flüchtlingswelle. Einige sagen „Flüchtlingskrise“ … Darf man von einer „Krise“ sprechen, wenn Menschen, die in Not sind, Hilfe suchen?! Wir sind gefordert! Das ist mit Anstrengungen verbunden, es stellt eine Herausforderung dar. Es müssen unangenehme Entscheidungen getroffen werden. Aber kann ich deswegen sagen, es sei eine „Krise“? Das impliziert doch, dass mir das Ganze lästig ist. Es passt nicht in meinen alltäglichen Müßiggang. Was im Moment abläuft zeigt mir doch, wie gut es uns geht. Wenn wir meckern, dann doch auf verdammt hohem Niveau. Oder?! Es verbietet schon der Anstand, nur weil wir gefordert sind, das als „Krise“ zu bezeichnen. Wir sollten uns etwas mehr in Demut üben, dankbar sein, für die Dinge die wir haben und für das Leben, das wir führen dürfen. Die Kriegsflüchtlinge, die Bilder aus Syrien und der Terror in aller Welt zeigen uns, wie fragil unsere Oase Europa ist. Die „Krise“ ist in Syrien, bei dem dortigen Machthaber, den Kriegsparteien zu suchen, nicht in den Menschen, die – alles zurücklassend – uns um Hilfe bitten.

Viele Länder Europas haben die Grenzen schon geschlossen, „dichtgemacht“, wie oft zu lesen steht. Grenze … Komisches Wort! Grenzen trennen. Das eine vom anderen. Auch den Menschen vom Menschen. Grenzen verbinden aber auch. Sie sind an der Trennlinie zweier Staaten beispielsweise. Also ist doch eine Grenze eine Verbindungslinie zwischen zwei unterschiedlichen Staaten. Egal, ob das Hessen und Thüringen ist oder Österreich und Italien. Oft soll man doch auch über den „Tellerrand“ hinweg schauen, das heißt, sich auch einmal mit Fremdem auseinandersetzen. Das bereichert, erweitert den Horizont. Apropos Horizont: trennt der Himmel und Erde oder ist der eine Verbindungslinie zwischen beiden? Tagebuch, hilf mir doch mal! Wenn wir die Grenzen jetzt mit Mauern und Stacheldrahtzäunen schließen, mauern oder zäunen wir uns da nicht selbst ein?! Du meinst, es sei eine Frage der Sichtweise? Sehe ich auch so! Also mauern wir uns ein und schließen andere aus! Wir meinen, wir schützten unsere Freiheit. Und in Wirklichkeit nehmen wir ein großes Stück davon uns selbst und unserem Gegenüber, egal auf welcher Seite des Zaunes man steht. Wie soll man bei Zäunen und Mauern „über seine Grenzen hinausgehen“?! Sind wir denn wirklich schon an der „Grenze des Machbaren“?! Nein, Tagebuch! Das ist nicht nur Wortklauberei; ich denke, man muss das, was die letzten Wochen und Monaten vor sich geht, auch einmal in Gedanken fassen. Sich vor Augen führen! Sonst führt das doch in ein „grenzenloses Chaos“. Herrgott! Denkt denn keiner mehr darüber nach, welche „Tragödie ohne Grenzen“ wir hier fabrizieren?! Das kommt davon, wenn nur noch blind agiert wird, wenn einem die Angst antreibt.

Übrigens: hast Du neulich in dieser „hochintellektuellen“ Tageszeitung gelesen von diesem Monsterhai, der im Dezember 1942 vor Südafrika aufgetaucht sein soll?! Nein, ich lese die Zeitung nicht regelmäßig … Warum fragst Du?! Nazi-U-Boote sollen ihn entdeckt haben vor der Küste Südafrikas bei Cape Town. 64 Fuß zwischen Rücken und Schwanzflosse, das sind über 19 Meter! Insgesamt hätte das Vieh 25 – 30 Meter gehabt. Und mehrere Tonnen schwer. Das entspricht etwa der Länge der vor Ort liegenden Boote. So etwas geht über die „Grenzen des Vorstellbaren“ hinaus! Einerseits lehrt uns das, dass wir nicht über alles Bescheid wissen, was sich auf dieser Erde bewegt. Andererseits ist es sehr fraglich, ob es sich bei dem Foto nicht um eine Fälschung handelt. Forscher sagen nämlich, dass der behauptete Flossenabstand bedeutet, das Tier sei doppelt so groß gewesen wie zu prähistorischen Zeiten. Es gibt noch mehr Einwände … Also doch eine Fälschung?! Entschuldige: ein „Fake“, muss man ja heute sagen! Du bist der Meinung, ich hätte eine Grenze überschritten? Wie kommst Du denn darauf? Man muss offen sein, für die Dinge um einen herum! Aber alles in allem: Du siehst, wenn man sich einige Gedanken macht, ist manches nicht mehr so selbstverständlich, wie es scheint. Eine Krise ist keine Krise, ein Megalodon ist im Jahr 1942 doch keines. Was das auf dem Bild auch immer darstellt. Mancher Zeitgenosse neigt dann doch dazu, „über die Grenzen hinaus“ zu übertreiben. So, jetzt ziehe ich einen Schlussstrich!

Was hängst Du da am Fenster ´rum mit so einem sauertöpfischen Blick?! Heute nicht im Garten?

Ich bin krank. Hab mir wahrscheinlich die Grippe eingefangen. Ich friere wie ein Hund. Mein Garten ist für den Winter „eingemottet“. Da läuft nichts weg …

Du guckst genauso depressiv wie die politische Lage im Moment ist.

Jetzt lass die Kirche mal im Dorf! So schlimm ist es auch wieder nicht.

Na, ja! Mit der Flüchtlingsproblematik …

Nicht schon wieder!!!

Warte mal! Unsere Kanzlerin hat doch ein Problem. Hatte ich gerade gelesen. Wenn wir nicht aufpassen, kommt es zu einem militärischen Konflikt wegen der Flüchtlingsrouten. Alle machen die Grenzen zu, die Migranten weichen aus.

Ja und?

Der Druck auf die Länder, die die Grenzen dicht gemacht haben, steigt. Die anderen wollen nicht die Massen im eigenen Land haben. Man wird also verlangen, dass die ursprünglichen Routen wieder geöffnet werden. Notfalls mit Gewalt.

Oder man macht die anderen Grenzen auch dicht!

Wollen wir das wirklich? Soll Deutschland neben Transitzonen auch noch Mauern und Stacheldraht hochziehen?!

Mit einem Mauerbau wäre ich in Deutschland aus historischen Gründen schon vorsichtig. Die andere Frage ist auch, was das ganze kostet und was es nützt. Es wird minimum Millionen kosten, wenn nicht gar Milliarden. Und sind wir mal realistisch: Haben Zäune und Mauern Menschen dauerhaft aufgehalten? Nein! Und die Transitzonen allein sind absoluter Quatsch, wenn der Rest „grüne Grenze“ ist. Häng doch mal ein Schild raus: „Bitte eintreten! Hier werden Sie eingesperrt und Ihr Antrag innerhalb kürzester Zeit abgeschmettert!“. Würdest Du als Flüchtling da reingehen? Ich nicht! Unabhängig von der Frage, ob diese Einrichtungen neben den wahnsinnigen nutzlosen Kosten verfassungsgemäß sind. Artikel 16a Absatz 1 Grundgesetz ist ein Grundrecht. Es gilt nur für Ausländer und ist damit eines der vornehmsten, das wir haben. Es sind Rechtswege einzuhalten! Diese bayrische Auffassung nach dem Motto: „Wir treiben mal das Vieh auf die Alm und lösen fix das Problem!“ ist nicht.

Du bist ein elender Sarkast!

Quatsch! Die Angelegenheit wird in Karlsruhe beim Bundesverfassungsgericht landen.

Und was hältst Du von dieser Bürgerkriegsangst in Deutschland?

Ich sehe die Gefahr! Nicht in puncto Islamischer Staat. Dafür gibt es keine Anhaltspunkte. Aber von Seiten der Rechtsradikalen. PEGIDA und so weiter … Die schrecken vor nichts zurück. Rollt der Mob, brennen die Häuser und es kommt zu Gewalt. Alles schon dagewesen in den letzten Wochen und Monaten. Die haben aus der Geschichte nichts gelernt! Innerhalb von sechs Jahren, von 1939 bis 1945, wurde Deutschland in Schutt und Asche gelegt. Idioten darfst Du die Zügel nicht überlassen!

Das waren andere Zeiten …

Ich finde dieses Argument nicht so prickelnd. Vor 82 Jahren, als dieser Schwerverbrecher an die Regierung kam, entwickelte sich das Ganze auch still und leise. Er kam an die Macht, das Ergebnis kennen wir.

Was willst Du tun? Zusehen?

Man müsste vor Ort gehen, überall dorthin, wo diese Menschen herkommen. Wir haben sie im Kolonialismus über 200 Jahre ausgebeutet. Dort müsste man, mit Hilfe von Experten vor Ort, aufbauen. Wir müssen etwas zurückgeben, was wir diesen Völkern beziehungsweise Ländern genommen haben. Dort kann man die Milliarden nutzbringender und zukunftsträchtiger investieren. Niemand verlässt ohne Grund seine Heimat. Ich kenne jedenfalls niemanden …

Amen!

Jetzt wirst Du zynisch!

Wir beide allein ändern doch da eh nichts. Du es ist kalt und ich könnte auch etwas Medizin brauchen.

Komm rein, wenn Du Dir die Grippe holen willst … Bier ist im Kühlschrank!

© Thomas Dietsch