Türkei ist im Januar (Offensive „Olivenzweig“) in das Nachbarland Syrien einmarschiert, um die aus ihrer Sicht terroristische YPG zu bekämpfen und eine Sicherheitszone an der Grenze zu schaffen. Die auch von den USA unterstützte kurdische Miliz hat sich an die Regierung von Präsident Baschar al-Assad mit der Bitte um Militärhilfe gewandt. Erste regierungsnahe Milizen sollen Berichten zufolge zeitnah in der umkämpften Provinz Afrin eintreffen. Die staatliche Nachrichtenagentur berichtete, sogenannte Volkskräfte würden lokale Einheiten dabei unterstützen, eine „türkische Aggression“ abzuwehren.

Der ehemalige Vorsitzende der syrischen Kurdenpartei dementierte diese Berichte allerdings. „Es gibt zurzeit Verhandlungen mit der Regierung unter Vermittlung von Russland, aber es wurde noch keine Einigung erzielt“, sagte jener in Berlin. Es sei nicht einfach, eine Vereinbarung mit der Regierung Assads zu treffen, denn es mache keinen Unterschied, ob man von der Türkei unterdrückt werde oder vom Regime der Baath-Partei.

Die PYD ist die dominierende Partei in den kurdisch kontrollierten Gebieten in Nordsyrien und eng mit den syrisch-kurdischen YPG-Einheiten verbunden. Die syrische Kurdenpartei forderte Unterstützung von der EU und den USA. Die syrische Regierung habe immer noch die Vorstellung, dass sie in dem Gebiet die vollständige Kontrolle übernehmen könne, wie vor 2011. Die Kurden würden dies jedoch nicht akzeptieren. Man wolle Demokratie und Föderalismus.

Die kurdischen Streitkräfte und die syrische Regierung hatten zuvor eine Vereinbarung getroffen, dass die syrische Armee in die Region Afrin einmarschieren darf, um mitzuhelfen, die türkische Offensive gegen die Kurden abzuwehren.

Die Türkei startete vor einem Monat eine Luft- und Bodenoffensive in der syrischen Region Afrin, um kurdische Kämpfer im Norden anzugreifen. Damit eröffnete Präsident Erdogan eine neue Front in dem vielschichtigen syrischen Krieg. Die Region Afrin wird seit 2012 von YPG-Einheiten kontrolliert und hat mit der stillschweigenden Duldung der Zentralregierung weitgehende Autonomie erlangt.

Die kurdische YPG-Miliz, die Waffen aus den Vereinigten Staaten erhalten hat, hat während des IS-Konflikts weite Teile Nordsyriens aus den Händen der Terrormiliz Islamischer Staat gerissen. Die Vereinigten Staaten haben der YPG in Afrin jedoch keine Unterstützung gewährt. Obwohl auch Russland wie die USA gute Kontakte zur YPG pflegt, wurde die türkische Offensive auch von ihnen geduldet. Die Türkei geht gegen die Kurden gemeinsam mit Verbündeten der Freien Syrischen Armee, einer syrischen Oppositionsgruppe, vor.

In der Türkei sind mittlerweile 786 Menschen wegen Kritik am Militärfeldzug in Afrin festgenommen worden. In sozialen Internetmedien habe es mindestens 587 „Propagandavergehen“ und 85 Proteste gegeben. Zu den Festgenommenen gehörten kurdische Politiker und türkische Ärzte, die vor dem Verlust von Menschenleben gewarnt hatten. Ihnen werde „Terrorpropaganda“ vorgeworfen.

Russland mahnte alle Seiten zur Zurückhaltung und Achtung der territorialen Integrität Syriens. Konstantin Kossatschow, Vorsitzender des russischen Auswärtigen Ausschusses im Parlaments-Oberhauses warnte, dass eine Entsendung syrischer Truppen zu einer gefährlichen Eskalation zwischen Syrien und der Türkei führen könnte und mahnte zu Vorsicht im Hinblick auf die Berichte.

Die Region ist ein Pulverfass. Die Zurückhaltung der Mächte USA und Russland und Erdogans Drohung an Syrien sind Beweis für das zunehmend verworrene Schlachtfeld in Nordsyrien – ein Netz von Rivalitäten und Bündnissen zwischen kurdischen Kräften, der syrischen Regierung, Rebellengruppen, der Türkei, den Vereinigten Staaten und Russland.

Im Norden Syriens will der türkische Staatschef Erdogan den Amerikanern zeigen, wer Herr ist in der Region. Für ein Vorgehen gegen die Kurden scheint er sogar einen Krieg gegen US-Truppen in Kauf zu nehmen.

Am Donnerstag besuchte US-Außenminister Rex Tillerson Ankara, empfangen von düsteren Drohungen des NATO-Partners Türkei, den USA in Syrien eine „osmanische Ohrfeige“ zu verpassen. Die stärkste und die zweitstärkste Armee der Nordatlantischen Allianz stehen im Nahen Osten an der Schwelle zum Krieg – nicht gegen Syriens Diktator Assad, nicht gegen den IS, sondern gegeneinander.

Die Aufhebung der Immunität der Abgeordneten der prokurdischen Partei HDP im türkischen Parlament ist einen Schritt näher gerückt – aber noch nicht sicher. Das Parlament in Ankara hat mit der Debatte eines Gesetzesentwurfs begonnen, den die Regierung von Ministerpräsident Davutoglu eingebracht hat. Bei einer ersten Abstimmungsrunde votierten nach Angaben von CNN Türk 348 Abgeordnete für den Antrag. Die für die Änderung notwendige Zweidrittelmehrheit von 367 Abgeordneten wurde bislang noch nicht erreicht.

Das Gesetz kann zur Aufhebung der Immunität von 50 der 59 HDP-Abgeordneten führen. Ihnen wirft die Regierungspartei AKP vor, sie würden sich nicht von der verbotenen PKK distanzieren und seien deren politischer Arm, was die HDP jedoch bestreitet. Mit dem neuen Gesetz könnten die Abgeordneten wegen „Unterstützung des Terrorismus“ angeklagt und verurteilt werden.

Sollte der Gesetzesentwurf am Freitag gebilligt und Gesetz werden, könnten auch Abgeordnete der CHP ihre Immunität vor Strafverfolgung verlieren. So laufen gegen den CHP-Vorsitzenden Kilicdaroglu Verfahren wegen Beleidigungen des Staatspräsidenten Erdogan. In der Türkei erstellen Staatsanwälte während der Amtszeiten der Abgeordneten Akten über diese, die zu Gerichtsverfahren führen können, sobald sie aus dem Parlament ausscheiden. Das würde durch die Aufhebung der Immunität beschleunigt. Die CHP will in der Debatte darauf dringen, dass nur Verbrechen ein Grund für die Aufhebung der Immunität sind und das Recht auf Redefreiheit nicht angetastet wird.

Auch wenn die AKP im Parlament über eine absolute Mehrheit der Sitze verfügt, ist nicht sicher, ob der Entwurf Gesetz werden wird. Das Vorhaben entspricht im Grad einer Verfassungsänderung.

Es ist nicht klar, wie viele der CHP-Abgeordneten für das Vorhaben stimmen. Vor der entscheidenden Abstimmung am Freitag will sich die CHP-Fraktion nichtöffentlich treffen und das Abstimmungsverhalten festlegen. Einige der MHP-Abgeordneten wollen für den Entwurf stimmen. Die Regierung benötigt die Stimmen der CHP für ihr Vorhaben. Fraglich ist aber das Abstimmungsverhalten von einigen Abgeordneten der AKP und MHP, die als Folge des Gesetzes selbst mit der Eröffnung eines Verfahrens gegen sich rechnen müssen.

Mit dem Gesetz will die AKP unter Staatspräsident Erdogan vor allem die Abgeordneten der HDP treffen. Es wäre ein weiteres Signal, dass der politische Prozess zur Beilegung des Kurdenkonflikts gescheitert ist, und es würde die gewaltsame Auseinandersetzung zwischen dem türkischen Staat und den Kurden – nicht nur der PKK – weiter anheizen. Einige Kritiker sagen, mit einem Gesetz wie diesem sinke der Glaube an die Demokratie und den Friedensprozess auf Null. Die demokratischen politischen Kanäle sind sehr schwierig geworden. Die Menschen würden dann glauben, dass ein solches Gesetz diese Kanäle völlig verschließe.

Sollten die kurdischen Abgeordneten ihre Immunität verlieren, könnten in ihren Wahlkreisen Nachwahlen angesetzt werden. Die AKP würde die 50 Mandate mit großer Wahrscheinlichkeit gewinnen, sollte bis dahin auch die HDP verboten werden, was als wahrscheinlich gilt. Mit einer neuen Dreifünftelmehrheit im Parlament könnte die AKP dann die türkische Verfassung nach ihren Vorstellungen ändern.

Eine ähnliche Konstellation hatte es bereits 1994 gegeben. Das Parlament hob damals die Immunität von sechs kurdischen Abgeordneten auf. Es kam zu Verhaftungen aus dem Parlamentsgebäude heraus. Der Staatsanwalt forderte die Todesstrafe für eine Abgeordnete, da sie ihrer türkischen Eidesformel 1991 einen kurdischen Satz hinzugefügt hatte. Vier Parlamentarier wurden zu jeweils 15 Jahren Haft verurteilt. Sie wurden 2004, zu Beginn des EU-Reformprozesses, vorzeitig freigelassen, da sich die Rechtslage aufgrund der Reformen im EU-Prozesses verändert hatte und von da an internationales Recht über dem nationalen stand. Jetzt droht der Türkei ein Rückfall.