Die Aufhebung der Immunität der Abgeordneten der prokurdischen Partei HDP im türkischen Parlament ist einen Schritt näher gerückt – aber noch nicht sicher. Das Parlament in Ankara hat mit der Debatte eines Gesetzesentwurfs begonnen, den die Regierung von Ministerpräsident Davutoglu eingebracht hat. Bei einer ersten Abstimmungsrunde votierten nach Angaben von CNN Türk 348 Abgeordnete für den Antrag. Die für die Änderung notwendige Zweidrittelmehrheit von 367 Abgeordneten wurde bislang noch nicht erreicht.

Das Gesetz kann zur Aufhebung der Immunität von 50 der 59 HDP-Abgeordneten führen. Ihnen wirft die Regierungspartei AKP vor, sie würden sich nicht von der verbotenen PKK distanzieren und seien deren politischer Arm, was die HDP jedoch bestreitet. Mit dem neuen Gesetz könnten die Abgeordneten wegen „Unterstützung des Terrorismus“ angeklagt und verurteilt werden.

Sollte der Gesetzesentwurf am Freitag gebilligt und Gesetz werden, könnten auch Abgeordnete der CHP ihre Immunität vor Strafverfolgung verlieren. So laufen gegen den CHP-Vorsitzenden Kilicdaroglu Verfahren wegen Beleidigungen des Staatspräsidenten Erdogan. In der Türkei erstellen Staatsanwälte während der Amtszeiten der Abgeordneten Akten über diese, die zu Gerichtsverfahren führen können, sobald sie aus dem Parlament ausscheiden. Das würde durch die Aufhebung der Immunität beschleunigt. Die CHP will in der Debatte darauf dringen, dass nur Verbrechen ein Grund für die Aufhebung der Immunität sind und das Recht auf Redefreiheit nicht angetastet wird.

Auch wenn die AKP im Parlament über eine absolute Mehrheit der Sitze verfügt, ist nicht sicher, ob der Entwurf Gesetz werden wird. Das Vorhaben entspricht im Grad einer Verfassungsänderung.

Es ist nicht klar, wie viele der CHP-Abgeordneten für das Vorhaben stimmen. Vor der entscheidenden Abstimmung am Freitag will sich die CHP-Fraktion nichtöffentlich treffen und das Abstimmungsverhalten festlegen. Einige der MHP-Abgeordneten wollen für den Entwurf stimmen. Die Regierung benötigt die Stimmen der CHP für ihr Vorhaben. Fraglich ist aber das Abstimmungsverhalten von einigen Abgeordneten der AKP und MHP, die als Folge des Gesetzes selbst mit der Eröffnung eines Verfahrens gegen sich rechnen müssen.

Mit dem Gesetz will die AKP unter Staatspräsident Erdogan vor allem die Abgeordneten der HDP treffen. Es wäre ein weiteres Signal, dass der politische Prozess zur Beilegung des Kurdenkonflikts gescheitert ist, und es würde die gewaltsame Auseinandersetzung zwischen dem türkischen Staat und den Kurden – nicht nur der PKK – weiter anheizen. Einige Kritiker sagen, mit einem Gesetz wie diesem sinke der Glaube an die Demokratie und den Friedensprozess auf Null. Die demokratischen politischen Kanäle sind sehr schwierig geworden. Die Menschen würden dann glauben, dass ein solches Gesetz diese Kanäle völlig verschließe.

Sollten die kurdischen Abgeordneten ihre Immunität verlieren, könnten in ihren Wahlkreisen Nachwahlen angesetzt werden. Die AKP würde die 50 Mandate mit großer Wahrscheinlichkeit gewinnen, sollte bis dahin auch die HDP verboten werden, was als wahrscheinlich gilt. Mit einer neuen Dreifünftelmehrheit im Parlament könnte die AKP dann die türkische Verfassung nach ihren Vorstellungen ändern.

Eine ähnliche Konstellation hatte es bereits 1994 gegeben. Das Parlament hob damals die Immunität von sechs kurdischen Abgeordneten auf. Es kam zu Verhaftungen aus dem Parlamentsgebäude heraus. Der Staatsanwalt forderte die Todesstrafe für eine Abgeordnete, da sie ihrer türkischen Eidesformel 1991 einen kurdischen Satz hinzugefügt hatte. Vier Parlamentarier wurden zu jeweils 15 Jahren Haft verurteilt. Sie wurden 2004, zu Beginn des EU-Reformprozesses, vorzeitig freigelassen, da sich die Rechtslage aufgrund der Reformen im EU-Prozesses verändert hatte und von da an internationales Recht über dem nationalen stand. Jetzt droht der Türkei ein Rückfall.

 

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