Liebe Petra,

wie du weißt, bin ich ein Schmerzpatient geworden. Um mein Leiden besser zu überstehen und zu verstehen, schreibe seit vorigem Sommer Einträge in mein Tagebuch, hier zwei Ausschnitte davon:

Die Schmerzen sind ehrlicher als die Menschen. Sie verstecken sich nicht unter einer falschen Identität oder suchen nicht das Weite in den Untergrund, sie sind einfach da. Sie haben mir gesagt, dass sie ungerecht behandelt werden. Warum soll man sie vernichten? Ich sagte ihnen, dass Lebenswesen sie ganz einfach nicht goutieren, weil sie sich ganze Zeit in den Weg stellen. „Wenn du meinst, dass es angenehm ist mit solchen Schmerzen zu gehen, verstehst du nichts von unserem Leben!“ „Vergiss nicht, dass wir dazu gehören. Wir sind nur da, um Alarm zu schlagen.“ Das war natürlich, was ich nicht hören wollte, aber das gehört zur Ehrlichkeit. Bei vielen Krebsfällen kommt er zu spät, oft ist dann der Tumor nicht mehr zu operieren und ich muss daran denken, wenn ich wieder kahlköpfige Kids in den Gängen des Krankenhauses sehe. Es gibt Krebsarten, die keinen Schmerz erzeugen. Wie kann man darauf kommen, dass diese schreckliche Krankheit uns heimsucht? Die Müdigkeit? Das schlapp sein? Aber das ist nicht unbedingt ein Zeichen dafür. Ich würde daher empfehlen, jedes Jahr einen Besuch beim Arzt als Kontrolle zu machen. Eine Freundin von uns hat nur einmal darauf verzichtet – dann wurde Brustkrebs festgestellt, mit den bösesten Perspektiven. Man gab ihr nur noch ein paar Monate zu leben, etliche Jahre sind seither Gott sei Dank vergangen, aber solche Fälle sind die Ausnahme. Durch die Schmerzen kann ich nicht anders kann, als mich pflegen zu lassen. Es wäre mir lieber, wenn ich darauf verzichten könnte, aber so habe ich mich besser kennengelernt. Dieses Missgeschick hat meinen Charakter gefestigt, dafür bin ich dankbar, auch wenn sich dies merkwürdig anhört. Ich habe auch gelernt jede Winzigkeit zu goutieren und sie als ein Geschenk zu betrachten. Die Aufnahme der schönen Dinge hat sich grundlegend verändert. Es muss nicht das Eldorado sein, schon ein wenig Fürsorge macht mich glücklich. Vielleicht ist das die beste Waffe, um meinen Freund – den Schmerz – ertragen zu können? Jetzt Schluss für heute, ich muss zu Bett, auch wenn ich mich manchmal davor fürchte, weil der Schmerz mich auch da nicht los lässt.

Seit einigen Tagen interpretiere ich bildlich meine Schmerzen für einen Film, den ich dieses Jahr noch mal drehen werde. Ich werde dort meine Gedanken auch durch Kollagen und Malerei ausdrücken. Zuerst dachte ich, dass alles düster werden würde, so penetrant wie meine Schmerzen sind und doch es kam etwas anderes raus. Ohne die Realität zu ignorieren, wirken die ersten Malereien fast heiter. Ich entdeckte dabei, dass ich es nicht schaffe, Traurigkeit zu verkünden, aber sehr viel mehr die Hoffnung und den Optimismus, die viel tiefer in mir verankert sind, als ich es dachte. Bedeutet das, dass zwischen den qualvollen Momenten, die Sonne immer wieder scheint und dass das Leben letztendlich siegen wird? Ich dachte, dass ich alles mit den Worten ausdrücken könnte und doch geht es mit der Malerei anders. Nicht, dass ich meinen Intellekt ausgeschaltet hätte, aber die Gedanken, die ich spontan zeichne und male, kommen direkt von der Seele, ohne filtriert zu werden. Man spricht vom spontanen Schreiben? Exakt. Ich habe schon öfter dieses Phänomen erlebt, aber am Ende fängt man doch an zu korrigieren, die Wiederholungen einfach zu vermeiden, das richtige Wort zu suchen. Aber es ist fast unmöglich ein Bild derart spontan zu ändern. Man würde die Wunden sehen und oft würde die Spontanität fehlen. Ich verwende  den Begriff „Art Brut“, um zu erklären was ich tue. Ein Stil, der mit genialen psychisch Kranken als therapeutische Methode entwickelt wurde. In Lausanne befindet sich eine herrliche Sammlung, die in ihrer Art einzigartig ist. Zuerst war ich verwundert, dass ich an meinen Stil von vor 36 Jahren anknüpfte, was ich sehr seltsam finde. Einmal als ich die Hemmungen loswerden konnte, fand ich wieder meine damalige Technik und fühlte mich wieder fit, mit dem Pinsel oder der Kollage zu werkeln und die Tatsache, dass ich mich wieder so ausdrücken kann, habe ich dem Schmerz zu verdanken, deshalb werde ich ihn nie verdammen, auch wenn ich manchmal Lust hätte es zu tun. Und jetzt möchte ich allein mit mir, diese Wonne genießen. Ich empfinde so viel Freude, mich dabei wieder neu gefunden zu haben, damit könnte ich noch lange leben. Ich habe keinen Champagner zu Hause, aber – da ich fast ganze Zeit im Virtuellen wandere – werde ich die Korken knallen lassen. Bis Morgen in ganzer Frische!

Petra, du bist noch jung. Passe auf, dass du nicht meinem Beispiel folgst. Bleibe frisch und fröhlich. Das ist mein innerster Wunsch!

Ich umarme dich und sende die alles Liebe aus München.

Pierre

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