Schon nach dem kirchlichen Gesetzbuch (CIC) von 1983 war sexueller Missbrauch
Minderjähriger eine Straftat. Während das staatliche Strafrecht allerdings
verschiedene Arten und Schweregrade unterscheidet, kennt das Kirchenrecht den
Tatbestand nur als Sittlichkeitsverstoß von Klerikern. Im entsprechenden Kanon heißt
es: „Ein Kleriker, der sich auf andere Weise gegen das sechste Gebot des Dekalogs
verfehlt hat, soll, wenn nämlich er die Straftat (…) an einem Minderjährigen unter
sechzehn Jahren begangen hat, mit gerechten Strafen belegt werden, gegebenenfalls
die Entlassung aus dem Klerikerstand nicht ausgenommen“ (c. 1395 § 2 CIC).
Eine Kirche, die vor allem Nächstenliebe predigt, tut sich schwer mit dem Strafen. Im
alten Kirchenrecht gab es also in Bezug auf überführte Missbrauchstäter
Formulierungen wie „Soll mit einer gerechten Strafe bestraft werden“. Soll heißt nicht
muss!
Nach den Worten des Kirchenrechtsprofessors Thomas Schüller aus Münster haben
sich viele Bischöfe nicht mit dem Strafrecht auseinandergesetzt und sehr pragmatisch
bei Straftatbeständen oder angezeigten Straftaten „pastorale Milde“ walten lassen
(br.de, 08.12.2021). Das habe die Opfer sexualisierter Gewalt stark mitgenommen,
weil ihrem Schicksal eben nicht sachgerecht nachgegangen wurde.
Kirchenrechtler fordern nun auch einen nächsten Schritt im Strafprozessrecht:
Kirchliche Gerichtsverfahren sollen transparenter werden. Kirchliche Strafprozesse
werden noch unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt, die Urteile werden nicht
publiziert. Und: Betroffene haben in diesen Prozessen keinerlei Rechte. Im staatlichen
Rechtssystem könnten die Opfer von Gewalt auch als Nebenkläger auftreten.
Das sieht das aktuelle Strafprozessrecht nicht vor, das wäre aber ein wichtiger
Baustein, damit die Opfer auch dort gleiche Rechte haben wie die Beschuldigten, die
Verteidigungsmöglichkeiten haben. Hier gibt es also noch offenkundige Felder, die
einer zeitgemäßen Änderung der Gesetzgebung im Kirchenrecht bedürfen.
In einem Punkt geht das kirchliche weiter als das weltliche Strafrecht:
Eine Verschärfung der strafrechtlichen Normen erfolgte 2010 unter Papst Benedikt
XVI.: Die Verjährungsfrist wurde erneut erhöht von 10 auf 20 Jahre ab dem 18.
Geburtstag des Missbrauchsopfers. Diese Regelung gilt nach wie vor. Konkret
bedeutet dies, dass der sexuelle Missbrauch eines Kindes bis zur Vollendung des 38.
Lebensjahres des Opfers kirchenstrafrechtlich verfolgt werden kann. Dies wird bereits
seit 1998 in Fällen schweren sexuellen Missbrauchs auch vom deutschen Strafrecht so
gehandhabt. Hier hat sich das Kirchenrecht gewissermaßen am staatlichen Recht
orientiert.
Kirchenrechtlich kann aber die Verjährung in schweren Fällen (anders als
beispielsweise im deutschen Recht) aufgehoben werden.
Die Glaubenskongregation kann somit (seit 2010) von der Verjährung „derogieren“,
will sagen die Frist aufheben, und so die strafrechtliche Verfolgung von Taten doch
noch ermöglichen, auch wenn dies rechtsstaatlich nicht mehr möglich wäre.
Wenngleich es nachvollziehbar ist, dass es Betroffenen und deren Angehörigen
Genugtuung verschafft, dass der Täter doch noch belangt werden kann, ist die
Aufhebung der Verjährung problematisch:
Dadurch wird das Rechtsstaatsprinzip unterlaufen (so auch Bernhard Sven Anuth,
Kirchenrechtsprofessor in Tübingen).