Jahrestage feiert man eigentlich. Die Frage stellt sich, ob es in der Türkei wirklich etwas zu feiern gibt. Am Jahrestag des gescheiterten Putsches feierte die Türkei offiziell die Demokratie und Einheit. Es gibt gute Argumente dafür, dass beides seit einem Jahr immer mehr verloren geht.

Die Nacht des 15. Juli 2016 hat die Türkei verändert. Ein Jahr danach feierte das Land zum ersten Mal den Tag der Demokratie und nationalen Einheit, um an den gescheiterten Putschversuch zu erinnern. Schon in den Tagen davor liefen Feierlichkeiten und Mahnwachen im ganzen Land. Für Präsident Erdogan und seine Unterstützer soll der Jahrestag den Triumph der türkischen Demokratie über eine Gruppe putschender Militärs markieren.

Regierungskritiker sind jedoch nicht in Feierstimmung. Denn unter dem Notstand, der auf den Putschversuch folgte, hat sich die Türkei weiter von Demokratie und nationaler Einheit entfernt. Der Staat ließ schon vor dem gescheiterten Putsch Journalisten verhaften. Auch wirtschaftlich hat die Türkei schon länger Probleme. Doch dennoch ist es erstaunlich, wie sich das Land innerhalb nur eines Jahres verändert hat:

Vollständig unabhängig war die türkische Justiz auch vor dem Putschversuch nicht. Aber die Säuberung der Gerichte in der Zeit danach hat den dauerhaften staatlichen Einfluss ermöglicht: Ein Viertel aller Richter und Staatsanwälte – rund 4.000 – wurde innerhalb eines Jahres suspendiert. Ihre Nachfolger sind oft jung, unerfahren und beeinflussbar.

Juristen stehen nun unter gewaltigem Druck, zugunsten der Regierung zu urteilen. So wurden im Frühjahr drei Richter suspendiert, kurz nachdem sie eine Gruppe Journalisten aus der Untersuchungshaft entlassen hatten. Die Journalisten blieben hinter Gittern.

Auch abseits der Gerichte litt die Rechtsstaatlichkeit. Verhaftete Putschisten wurden mit blauen Augen, bandagierten Armen und Schnittwunden den Kameras vorgeführt. Wenige Wochen nach dem Putschversuch veröffentlichten Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International alarmierende Berichte über Folter und Misshandlungen in türkischen Gefängnissen.

Unter den Militärregimes der 1970er- bis 1990er-Jahre war Folter weit verbreitet. Doch seit dem Amtsantritt Erdogans galt in der Türkei eigentlich eine Null-Toleranz-Politik gegenüber Folter; die Regierung wies die Vorwürfe der Menschenrechtsorganisationen zurück, Bilder von verletzten Putschisten verschwanden aus den Medien.

Schon in früheren Jahren wurde die Türkei schon zum weltweit größten Gefängnis für Journalisten ernannt, doch so viele Redakteure und Reporter wie jetzt saßen noch nie in Haft.

Die Regierung ging nicht nur gegen Kritiker in den Medien vor. Die landesweite Säuberungsaktion traf auch türkische Universitäten. Seit Anfang 2016 ermittelte der Staat wegen angeblicher Terrorpropaganda gegen Hunderte Akademiker, die eine Petition für Frieden im kurdischen Südosten der Türkei unterschrieben hatten. Viele dieser Akademiker verloren nun ihre Jobs, zusammen mit ihren Kollegen von Universitäten, die dem angeblichen Putsch-Anführer Gülen nahestanden.

Die ersten Auswirkungen auf die türkische Forschung machten sich bald bemerkbar. Ein Braindrain begann, als Hunderte von Akademikern ins Ausland flohen. Viele ausländische Universitäten legten ihre Partnerschaften mit türkischen Einrichtungen auf Eis, suspendierten etwa den Erasmus-Austausch. Die Türkei selbst beendete das Jean-Monnet-Stipendium, das seit 1990 türkische Akademiker bei Studien über die Europäische Union unterstützte.

Über 50.000 Personen sitzen seit dem Putschversuch in Haft. Doch die Anzahl derjenigen, die innerhalb des vergangenen Jahres ihren Job verloren, ist doppelt so hoch: Mehr als 100.000 Menschen wurden entlassen. Das genaue Ausmaß ist ungewiss, doch vermutlich leben deshalb Zehntausende Familien nun ohne Einkommen. Hilfe vom Staat gibt es nicht.

Amnesty International spricht von „beruflicher Vernichtung“, denn wer wegen angeblicher Putsch- oder Terrorunterstützung entlassen wurde, findet so einfach keinen neuen Job.

Einige Gazetten titelten zum Jahrestag, die Türkei sei für Europa verloren …

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert