Liebe Petra,
sorry, ich habe mich noch nicht ganz von den bösen Geistern der Vergangenheit erholen können. Was Martin Luther über die Juden, die Bauern, die Huren oder die nicht-normalen Kinder geschrieben hat, ist für mich nicht hinnehmbar. Das ist mit der Ideologie der Nazis gleichzustellen. Es ist merkwürdig, dass die Historiker diese Äußerungen eher beiseitegelassen haben, als es darum ging, die Judenverfolgung oder die Euthanasie an geistig Kranken zu verarbeiten. Adolf Hitler hat sich sehr wohl an den Reformator angelehnt, um sein Vorgehen salonfähig zu machen. Hier ein paar „Kostproben“: „Luther war ein großer Mann, ein Riese. Mit einem Ruck durchbrach er die Dämmerung, sah den Juden, wie wir ihn erst heute zu sehen beginnen.“ Oder: „So glaube ich heute im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu handeln, indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn.“ Und um das Ganze zu krönen: „Der Nationalsozialismus ist weder antikirchlich noch antireligiös, sondern im Gegenteil, er steht auf dem Boden eines wirklichen Christentums.“
Nicht ohne Grund fand die Reichskristallnacht in der Nacht vom 9. bis zum 10. November 1938 statt – der Reformator ist am 10. des Monats geboren. Der Gedanken war es, mit dem Brand der Synagogen Luther zu ehren. Das Ganze finde ich – wie du, liebe Petra – unappetitlich. Aber heute geht es mir um mehr. Ich kann nicht verstehen, warum die Lutheraner nicht offensiver mit ihrer Geschichte umgehen. Ich finde es notwendig, mit diesem Makel der Geschichte abzurechnen, auch wenn es unangenehm sein mag und ich würde mir wünschen, dass nächstes Jahr, für den 500. Geburtstag der Reformation, offen darüber debattiert wird, um u.a. feststellen zu können, welchen Einfluss die Äußerungen von Luther auf die Willkür des NS-Staates hatten. Das ist aus meiner Sicht ein Muss und auch den Zusammenhang der Kirchen mit dem NS-Regime zu definieren. Ich möchte keine Schimpf-Kampagne entfachen, vielmehr die Uhren neu stellen, wenn es um die Bearbeitung des 3. Reiches geht. Dabei erfahren, ob der Keim der deutschen Tragödie nicht weiter hinten zu suchen ist? Auch das Thema der Treue zur Obrigkeit hat – Dank Luther – zum Mord an zehntausenden von Bauern, geführt. Auch wenn er dies manchmal beklagte, war er einer der Motoren dieser „Feldzüge“. Nein, meine Forderungen sind nicht antiquiert, es geht für mich um Menschenrechte und um die Einhaltung der Botschaft Christi. Es ist sehr verwunderlich, dass Luther, als Übersetzer der Bibel, so in Widerspruch mit der heiligen Schrift war. Ich möchte gar nicht den Versuch machen, seine Äußerung mit dem Geist der Zeit in Verbindung zu setzen, denn rein theologisch ist das nicht tragbar. Eines ist mir die letzten Tagen aufgefallen: Meine protestantische Freunde haben sehr emotional reagiert und ich hatte das Gefühl, als eher ketzerisch betrachtet zu werden. Das Kratzen an einem Idol, wurde mir übel genommen und das von Leuten, vom linken Spektrum der Parteilandschaft. Freunde, die sich um die Würde des Menschen bemühen und niemals solche Worte, wie diese von Luther, in den Mund nehmen würden. Das beweist mir, dass vieles bewusst unter den Tisch gekehrt wurde und das ist in meinen Augen eine reine politische und historische Manipulation.
Ich würde gerne erfahren, was für das Jahr 2017 geplant ist? Wird man den Mut haben, offensiv das, was ich angesprochen habe, der Diskussion zu stellen oder werden wir nur mit Lobeshymnen überschüttet werden? Haben die Leute einen Schimmer, was Aufklärung bedeutet? Wenn ja, sollten sie das zur Sprache bringen – in ihren Gemeinden, in der Familie und warum nicht in den Fußgängerzonen?
In diesem Sinne, ich umarme dich
Pierre
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