Die Gegner haben sich verrechnet, das Kalkül des türkischen Präsidenten Erdogan ist voll aufgegangen. Noch am Wahltag konnte man in einer türkischen Zeitung vom „letzten Tag des Sultanats” lesen. Das bezog sich auf die Entmachtung des Sultans durch das türkische Parlament auf den Tag genau 93 Jahre zuvor – man appelliert an das Traditionsbewusstsein der Wähler und treibt diese zu den Urnen – spielte aber auf Staatspräsident Erdogan an. Das regierungskritische Blatt hoffte, die AKP verfehle bei der Neuwahl zum Parlament letzten Sonntag wieder die absolute Mehrheit und der Anfang vom Ende der Ära Erdogan sei eingeläutet. Eine grobe Fehleinschätzung!
Erdogan sah nach den schweren AKP-Verlusten im Sommer angeschlagen aus. Mit dem spektakulären Wahlsieg vom Sonntag ist das mehr als wettgemacht und Erdogan sitzt fester im Sattel denn je. Zwar bedeutet das ein Ende der politischen Hängepartie in der Türkei, auf deren Kooperation die EU in der Flüchtlingskrise angewiesen ist. Aus Sicht Europas ist der sprunghafte Präsident, der gerne gegen den Westen austeilt, alles andere als ein verlässlicher Partner. Die Gräben in der Türkei, die von Erdogan zutiefst polarisiert wurde, sind durch das Wahlergebnis noch tiefer geworden.
Seit der Wahl im Juni diesen Jahres wurde die Türkei immer tiefer in den Strudel der Gewalt gezogen. Es kam zu schweren Anschlägen, die der Terrormiliz Islamischer Staat angelastet wurden und die vor allem Anhänger der HDP trafen. Der Ko-Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtas, kritisierte am Abend der Wahl, die Partei habe wegen der Angriffe keinen Wahlkampf führen können. Man habe nur versucht, die eigenen Leute gegen Massaker zu schützen. Kritische Stimmen werfen Erdogan vor, er habe das Land bewusst ins Chaos abgleiten lassen, um abspenstige Wähler wieder um die AKP zu scharen. Ein Kalkül, das aufgegangen ist.
Außerdem brach der Konflikt mit der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK wieder aus, in deren Nähe Erdogan die prokurdische HDP regelmäßig rückt. Weder Staat noch PKK zeigten sich bereit, der Eskalation ein Ende zu setzen. Im Gegenteil: Man polarisierte auf Teufel komm raus.
Der Krieg der PKK habe der HDP geschadet, so die Einschätzung des Türkei-Experten Aaron Stein aus Washington. Erdogans AKP sei es gelungen, die Wähler davon zu überzeugen, dass es im besten Sinne der Türkei sei, zu einer Einparteienregierung zurückzukehren. Die Direktorin des Zentrums für Türkeistudien am Nahost-Institut in Washington konstatierte ebenfalls, Erdogans geniale Idee habe funktioniert. Es sei sein Sieg.
Seit seiner Wahl zum Staatsoberhaupt im August vergangenen Jahres regiert Erdogan de facto das Land, obwohl die Verfassung diese Rolle dem Ministerpräsidenten zuschreibt. Ministerpräsident Davutoglu, zugleich Chef der AKP, ist mit der Partei Erdogan bedingungslos ergeben. Nach dem Verlust der absoluten Mehrheit im Juni 2015 und der Festsetzung von Neuwahlen spotteten Kritiker, Erdogan werde die Türken so lange wählen lassen, bis ihm das Ergebnis passe. Das hat sich leider bewahrheitet. Das neue Wahlergebnis passt Erdogan gut ins Konzept – hat er sich im Wahlkampf doch mehr denn je zurückgehalten. Die AKP kam entgegen allen Umfragen vor der Wahl fast auf die Hälfte der Stimmen und hat damit eine komfortable Mehrheit der Sitze im Parlament. Besonders die ultranationalistische MHP, die der AKP in vielen Punkten ideologisch nahesteht, musste Federn lassen.
In den Kurden-Hochburgen kam es am Sonntagabend zu vertrauten Bildern: Demonstranten bauten Barrikaden und steckten sie in Brand. Die Polizei setzte Wasserwerfer und Tränengas ein. Davutoglu sagte in einer seiner Siegesreden, jeder Bürger sei eingeladen, die „neue Türkei” mitzubauen. Es gebe keinen Gegner, keinen Feind, meinte der alte und neue Ministerpräsident.
„Wir sind gekommen, um Liebe zu pflanzen.”
Ob man dem trauen kann, ist äußerst fraglich. Hat Davutoglu gelogen stellt sich die Frage, wer Erdogan aufhalten soll. Er wird an seinem Sessel kleben – und diesen notfalls verteidigen. Erinnerungen an Präsident Assad in Syrien werden wach. Wenn wir nicht aufpassen, ist ein weiterer Brandherd geboren. Die europäische Integration der Türkei ist in weite Ferne gerückt.
Der Besuch von Kanzlerin Merkel war Erdogan – zwar unbeabsichtigt – die ideale Wahlhilfe. Unpassender hätte der Zeitpunkt nicht sein können.