Noch vor kurzem hat man den Islamischen Staat (IS) als Terrormiliz oder Dschihadisten bezeichnet. Dies lässt sich nunmehr nach Expertenmeinung nicht mehr halten.
Der Nachrichtensender n-tv brachte die Tage die erschreckende Erkenntnis: Der IS kontrolliert ein Gebiet so groß wie Italien. Er baut Straßen, hat ein Steuersystem, überwacht Grenzen und hat eine Armee. Und in der Bevölkerung sind die Islamisten angesehener als die korrupten Schergen der Vorgängerregime – zum Beispiel in Syrien unter Assad. Das Gebiet, das 300.000 Quadratkilometer umfasst, ist ein funktionierender Staat.
Der IS soll den staatlichen Systemen, die er im Irak und in Syrien abgelöst hat, inzwischen sogar voraus sein. Neben einem funktionierenden Steuersystem, der Überwachung der Grenzen und dem Aufbau einer Armee preise man in Propaganda-Veröffentlichungen außerdem Erfolge beim Ausbau der Infrastruktur in den kontrollierten Gebieten und biete eine Gesundheitsfürsorge an.
Erschreckend ist, dass die Bevölkerung in den kontrollierten Gebieten und die Anrainerstaaten des Islamischen Staates die Tatsachen zum Teil anerkennen und ein Auge zudrücken, wenn es etwa um schwarze Handelsbeziehungen zu den Islamisten geht. So gilt die Türkei etwa als größter Absatzmarkt für den IS, um illegal gehandeltes Erdöl in den Weltmarkt zu speisen. Bis zu dem Anschlag in Suruc vor einigen Tagen, bei dem mehr als 30 Menschen ums Leben kamen, war ein Grenzverkehr zwischen der Türkei und dem vom IS kontrollierten Gebiet fast ungehindert möglich.
Ein syrischer Geschäftsinhaber erzählt laut n-tv: „Ehrlich gesagt sind beide brutal – das Regime (Assad) und Daesh (eine andere Bezeichnung für den IS), doch der IS ist hier in Al-Rakka mehr akzeptiert“. Er war aus Angst vor Luftschlägen in die Stadt geflohen, die als eines der Machtzentren des IS gilt. Das Leben unter dem IS könne brutal sein, doch es biete mehr Stabilität und Verlässlichkeit als unter Assad. Und in puncto Stabilität und Sicherheit erzählt ein weiterer Zeuge vor Ort: Man sei nicht glücklich, aber zufrieden. „Sie können mit einer Million Dollar von Al-Rakka nach Mossul reisen und niemand wird sie stören. Niemand würde es wagen, nur einen Dollar anzurühren“, so der Zeuge, der anonym bleiben wollte. Ein Unding in Syrien oder Irak; deren Sicherheitskräfte gelten als extrem korrupt. Ein Hinweis darauf, dass sich der Islamische Staat in seinem Umfeld als staatliche Struktur etabliert hat. Seit der IS im Besitz von Ölquellen ist, hat er eine stabile Einnahmequelle. Hinzu kommen die Steuereinnahmen. Man wird ihn mit Bombardements nicht mehr aufhalten können. Nur noch mit einer groß angelegten Bodenoffensive. Und selbst mit dieser wahrscheinlich nur dessen Entstehung bzw. Entwicklung verzögern können. Die Menschen vor Ort schätzen bereits die „Vorzüge“ des Terrorstaates. Schuld daran sind die korrupten und instabilen Vorgängerregime im Irak und Syrien. Das Neue steht immer im Licht dessen, was man kennt. Und die Menschen in diesen Ländern kennen in den letzten Jahren bzw. Jahrzehnten nicht viel Gutes.
Und was die Grausamkeit angeht: Fassen wir uns im Westen doch einmal an die eigene Nase! Die Herrschaft vieler westlicher Staaten ist auf Gewalt, Folter und Unterdrückung gegründet. Das Britische Empire unterdrückte und mordete Menschen auf nahezu einem Drittel der weltweiten Landfläche. Die Amerikaner, beim Aufbau der Vereinigten Staaten in Nordamerika, massakrierten die Urbevölkerung und ließen sie verhungern. Weitere Beispiele sind die Sowjetunion, China, Saudi-Arabien und Israel.
Aber das liegt auch mindestens ein halbes Jahrhundert zurück. Das Welt- und Menschenbild hat sich im 21. Jahrhundert gewandelt. Kolonialismus und Sklaverei sind Ausbeutung und Verbrechen. Vor zweihundert Jahren galten beide noch als legitime Wirtschaftsinstrumente.
Wir sollten darauf achten, wie es in den von dem Islamischen Staat kontrollierten Gebieten weitergeht. Die Eingehung offizieller Handelsbeziehungen würde die Anerkennung eines Terrorstaates bedeuten. Das kann man nicht machen. Und ein weiteres Problem tut sich in Zukunft auf: Der IS stellt sich als Gottesstaat dar, ein unter religiösen Prinzipien geführter Staat. Religion und Wirtschaft geht genauso wenig wie Religion und Politik. Hier liegt ein weiteres Pulverfass begraben.
© Thomas Dietsch