Die Gülen-Gemeinde ist das große Fragezeichen in der Geschichte. Viele investigative Journalisten haben sie in der Vergangenheit immer wieder als Sekte beschrieben, die ihre eigenen Vorstellungen von der Gesellschaft durchsetzen will. Aber niemand hat richtigen Einblick, dass sich Aussteiger negativ über den Verein äußern, ist nicht gerade verwunderlich und taugt deshalb nur wenig als Beleg.

Tatsache aber ist, dass der Anführer Fethullah Gülen zwar sehr verehrt, aber kaum hinterfragt wird. Seine Haltung zu den bisherigen Putschen in der Türkei ist bemerkenswert: Den letzten erfolgreichen 1980 verurteilte er nicht, sondern begrüßte als Antikommunist, dass besonders Linke darunter litten. Den „kalten“ Putsch“ von 1997 verurteilte er auch nicht, obwohl er danach ins Exil musste.

In Deutschland ist er politisch gut angesehen. Hier betreibt man Schulen, sie sind das Rückgrat der Bewegung. Viele deutsche Politiker lassen sich auf Veranstaltungen etwa der Gülen-nahen Zeitung Zaman blicken, sprechen Grußworte und loben den Bildungshunger der Bewegung. Rita Süssmuth, Gesine Schwan, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Cem Özdemir – nur um einige zu nennen – waren alle auf diesen Veranstaltungen zu sehen. Ausgewiesene Kritiker der Bewegung aus der Türkei dagegen nicht. Viele Journalisten waren auf einigen dieser Zaman-Konferenzen, würden wohl auch wieder hingehen, wenn man sie einlädt. Doch ganz unrecht hatte der türkische Journalist und Gülen-Kritiker Ruşen Çakır nicht, als er kürzlich formulierte: Für den Westen muss das demonstrierte Islamverständnis der Gülen-Bewegung, das auf Dialog der Religionen ausgelegt ist, im Vergleich zur autoritären Erscheinung eines „AKP-Islams“ wie eine Verheißung gewirkt haben. Gülen stille eine Sehnsucht, auch in Deutschland: Ein Prediger, der sagt: „Baut Schulen statt Moscheen!“ – so jemanden lässt man gerne gewähren.

Die Meinungs- und Pressefreiheit leidet seit Längerem in der Türkei, regierungskritische Journalisten werden unter Druck gesetzt und eingeschüchtert, und teilweise von „Kollegen“ der AKP-nahen Organe öffentlich angegriffen. Jeder weiß, dass das so ist, kein AKP-Anhänger braucht sich hier oder dort großartig aufzuregen …
Eigentlich sollte die Regierung nun spätestens mit dem Putschversuch verstanden haben, dass es dem überwiegenden Teil der türkischen Journalisten nicht darum ging, die Regierung stürzen zu sehen, sondern ihre Politik zu kritisieren. Selbst die ärgsten Kritiker, ob Journalisten, Publizisten, Intellektuelle, haben nach dem Putschversuch klar gesagt: Das hier ist zwar nicht unsere Regierung, aber so geht es nicht!

In einem der kritischsten Momente der Putschnacht hat CNN Türk Präsident Erdoğan per Facetime zugeschaltet, sodass er zur Bevölkerung sprechen konnte. Ein Moment, der die Wende gebracht haben könnte. CNN Türk gehört zur Doğan-Gruppe, die die Regierung auch gern mit Prozessen überzieht.

Die Erzählung der Regierung über die Nacht des 15. Juli lautet: Es war „das Volk“ selbst, das die Putschisten gestoppt hat. Vor allem die Regierung arbeitet unablässlich an der Verbreitung dieser Theorie, nur wenige Tage nach dem Putschversuch brachte die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu eine Chronik der Nacht heraus, mit vielen eindrucksvollen Bildern und Grafiken.

Abgesehen davon, dass man als in Deutschland sozialisierter Mensch ein Problem mit der Definition von „Volk“ haben kann (und dem gleichzeitig damit verbundenen Wegdefinieren anderer!), ist diese Erzählung nicht falsch, nur weil sie von der Regierung kolportiert wird. Viele waren draußen und haben sich gegen die Panzer gestellt. Interessant ist eine Umfrage des Instituts Metropoll aus dem Jahr 2012, die – damals noch hypothetisch – danach fragte, ob die Menschen bei einem Putsch auf die Straße gehen und protestieren würden.

Damals sagten 65,8 Prozent Ja, nur 26,7 Prozent Nein …

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