Seit über 15 Jahren führt Wladimir Putin Russland. Sein Apparat hat eine Meisterschaft darin entwickelt, die Schwachstellen oder Bruchlinien seiner Gegner aufzuspüren und gnadenlos auszunutzen. Das ist nie so deutlich geworden wie im Januar/Februar 2014. Bis dahin gab es wochenlange Proteste von Hunderttausenden auf den Straßen Kiews. Die Menschen hatten das korrupte System Janukowitsch satt. Man war es leid, ständig Bakschisch an Polizisten, Beamte, Lehrer und Ärzte zu zahlen. Ohne Schmiergeld lief nichts.
Oligarchen hatten Wirtschaft und Politik unter sich aufgeteilt. Damit sollte endlich Schluss sein. Hauptsächlich deshalb sind die meisten auf die Straße gegangen. Es wurden Barrikaden und eine Zeltstadt auf dem Maidan errichtet, gesponsert von den Bürgern.
Dann fielen Schüsse. Wer geschossen hat, ist bis heute unklar. In drei Tagen starben auf dem Maidan mehr als 100 Menschen. Die Demonstranten stellten Präsident Janukowitsch das Ultimatum zurückzutreten, dieser floh. Die Ukraine wählte einen neuen Parlamentspräsidenten und einen Übergangspräsidenten, eine neue Regierung war im Entstehen. Mitten in diesem innenpolitischen Chaos besetzten russische Soldaten die Krim.
Völlig unter dem Eindruck der Schüsse auf dem Maidan traute sich die ukrainische Armee nicht zu kämpfen. Es herrschte maximale Verwirrung, denn die sogenannten grünen Männchen trugen keine Hoheitsabzeichen und Putin leugnete, dass Russland mit ihnen etwas zu tun hat. Korrespondenten, die in aller gebotenen Vorsicht auf Moskaus Beteiligung hinwiesen, wurde im Internet übel mitgespielt. Drei Wochen später, bei der offiziellen Einverleibungsfeier im Kreml, lobte Putin die russische Armee für die Operation. Die Annexion der Krim war vollzogen.
Zum ersten Mal in der Ukraine führte Moskau einen sogenannten hybriden asymmetrischen Krieg. Unter russischer Anleitung wurden Stadtverwaltungen besetzt und schließlich die Krim. Im Donbass wurde daraus Krieg. Zur hybriden Kriegsführung gehört die Irreführung des Feindes.
Die Krim und die Ostukraine waren als Ziele auserkoren worden, nicht weil sie am nächsten zu Russland liegen, sondern weil dort die Unzufriedenheit mit der Regierung in Kiew am größten war.
Als Faschisten und Nationalisten wurden zu Sowjetzeiten immer diejenigen beschimpft, die gegen die Moskauer Zentralregierung und die Kommunistische Partei Widerspruch zu erheben wagten und für mehr nationale Eigenständigkeit eintraten. Deswegen war es für die Demonstranten keine Überraschung, dass sie für Putin als Faschisten galten. Der Vorwurf ließ sie kalt.
Erstaunt war, dass der Westen auf diese Verunglimpfung reinfiel. Andrej Portnow und andere Historiker hatten eine andere Erklärung. Jetzt räche sich, dass sich die Ukraine seit dem Zerfall der Sowjetunion kaum mit ihrer eigenen Geschichte befasst habe. Genau genommen ist es nicht eine, sondern mindestens drei Geschichten. Die jüdische Geschichte, dann die des Ostens der Ukraine und schließlich die der Westukraine.
In der Westukraine gab es nach dem Ersten Weltkrieg das Bestreben, einen ukrainischen Nationalstaat aufzubauen, was nur möglich schien, wenn Gebiete „ethnisch gesäubert“ wurden. Zum Beispiel von polnischen Bewohnern. In Polen gab es umgekehrte Bestrebungen. Die Zeit zwischen den Weltkriegen und erst recht die Nazi-Besatzung waren unendlich blutig. Juden wurden umgebracht, so mancher kollaborierte mit den deutschen Besatzern. Ukrainer töteten Polen und umgekehrt, jeder gegen jeden. Eine komplizierte, vielschichtige Geschichte dieses multinationalen Staates.
Eine ukrainisch-polnische Historikerkommission hat nun begonnen, sie zu erforschen. Ein Anfang! Was bislang fehlt, ist die breite Diskussion in der Gesellschaft. Erst mancherorts hat sie begonnen. Erste Denkmäler sind eingeweiht worden, die an den Holocaust erinnern. Das ist in sechs Dörfern rund um Lemberg passiert und erst diesen Sommer zum ersten Mal. Dass es den Holocaust gab, dass gezielt Juden von den Deutschen vernichtet worden sind, wurde in der Sowjetunion nicht thematisiert. Es gab keine Unterscheidung unter den Opfern.
Ohne den Krieg in der Ostukraine wären die Menschen rund um Lemberg vermutlich weit weniger bereit gewesen, jetzt der jüdischen Opfer zu gedenken. Zum Teil haben sie durch diese Geschichtsprojekte, die mit der Eröffnung der Mahnmäler durchgeführt wurden, überhaupt zum ersten Mal erfahren, dass die Bevölkerung ihrer Heimatorte früher zu einem Drittel aus Juden bestand.