Ein Appell
Wie sieht eigentlich die Zukunft des Menschen aus? Wollen wir so weitermachen, wie in den vergangenen Jahrhunderten beziehungsweise Jahrtausenden, oder ist es an der Zeit, einen gemeinsamen Nenner zu finden für ein gedeihliches Zusammenleben auf diesem Planeten? Vorab sei eines klargestellt: ich bin weder besonders religiös, noch ein Verfechter der Todesstrafe. Wie lange wollen wir eigentlich noch dem Anderen unseren Willen aufzwingen, ihn töten, erniedrigen und quälen, wenn er unserem Anliegen nicht Folge leistet?! Die Christen beten in einem ihrer wichtigsten Gebete, dem „Vaterunser“, den Vers: „Dein Wille geschehe …“. Dies sollte aufzeigen, dass nicht der Wille des Menschen zählt, sondern jener Gottes. Etwas weltlicher ausgedrückt: Unser, der gesamten Menschheit Wille, und nicht jener einzelner Interessengruppen, muss das Postulat einer gemeinsamen Zukunft sein. Es ist Arbeit, diesen gemeinsamen Willen zu eruieren, zu schauen, wie wir unsere Interessenvielfalt unter einen Hut bekommen. Jede Meinung, jeder Gedanke stößt irgendwann an Grenzen. Nämlich da, wo die andere Meinung mit der unseren nicht mehr vereinbar ist. Hier stößt Schwarz auf Weiß, hier entsteht Reibung. Noch ist auf dieser Erde Platz für uns alle. „Noch“ heißt aber auch, am Tag X wird dies nicht mehr so sein. Dann müssen wir soweit sein, mit den „Reibungslinien“ der Interessenkonflikte umgehen zu können, soweit, dass wir wissen, dass ein Gedankenkonstrukt stets im Flusse ist, Denkgesetze der Zeit angepasst werden müssen. Wir müssen lernen, in der anderen Ansicht keine Bedrohung zu sehen, sondern eine Bereicherung auf der Tafel der Ideen. Das Andere als Aufgabe und Anreiz, unsere Ansicht zu überdenken, den Kompromiss zu finden. Dieses Denken wird vielleicht eines Tages dazu führen, dass die Menschheit eine gedankliche Lösung findet, ihre vielfältigen globalen Probleme gemeinsam zu lösen. Konflikte wie Kriege würden unter Umständen überflüssig, man stelle sich das vor!
Zwei Ereignisse in letzter Zeit haben mich sehr entsetzt, wie skrupellos egoistisch Menschen im 21. Jahrhundert immer noch handeln. Nehmen wir das Beispiel Syrien. Baschar al-Assad ist ein Präsident ohne Staatsvolk, jenes steht nämlich mit diesem im Krieg. Die syrische Regierung verfügt über Chemiewaffen, die „Atomwaffe des kleinen Mannes“. Im August 2013 besichtigen Chemiewaffenexperten des Regimes Vororte von Damaskus, in welchen bei einem Einsatz solcher Waffen kurze Zeit später 1.429 Zivilisten auf grausamste Art und Weise sterben werden. Ein von dem amerikanischen Geheimdienst NSA abgefangenes Telefonat bringt die Erkenntnis, Assad habe die Nerven verloren und den Giftgasangriff befohlen. Dafür, dass syrische Rebellen über Chemiewaffenbestände verfügen, gibt es keinerlei Hinweise. Der amerikanische Präsident Obama erwägt nach dem grausamen Angriff auf die Zivilbevölkerung eine militärische Vergeltungsaktion. Diese soll zeitlich beschränkt werden, die Staatskasse der USA gibt nicht mehr her. Dem russischen Präsidenten Putin gelingt es, Obama von dem Angriff abzuhalten. Er schlägt vor, Syrien möge der Chemiewaffen-Konvention beitreten mit der Folge, dass die Waffen zu vernichten seien. Obama stimmt zu, Syrien folgt dem russischen „Vorschlag“ stante pede. Es kommen Gerüchte auf, Assad bringe einen Teil der Waffen in Sicherheit. Zugleich werden die Angriffe auf die Rebellen, die während Obamas Drohung mit einem militärischen Gegenschlag ruhten, wieder aufgenommen.
Indien im Dezember 2012. Mehrere Männer quälen eine 23-jährige Studentin und deren Freund. Die junge Frau erliegt kurz darauf ihren aus der Vergewaltigung resultierenden Verletzungen. Die Täter werden verhaftet, ein jugendlicher Täter zu einer Jugendstrafe, die restlichen, bis dato nicht rechtskräftig, zum Tode verurteilt. Die Tat verursachte eine Welle des Entsetzens über ganz Indien und die Welt. Sie war nicht das erste Beispiel in Indien für Gewalt gegenüber Frauen, wohl aber der bis heute schwerwiegendste Fall, welcher öffentlich bekannt wurde. Die Dunkelziffer liegt bekanntlich viel höher. Die indische Gesellschaft beginnt, über die Rolle der Frauen innerhalb derer zu reflektieren, stellt althergebrachte Gepflogenheiten in Frage. Ist auch die Gleichberechtigung rechtlich nahezu geklärt, sind Mädchen gegenüber Jungen im praktischen Leben nach wie vor mehr als benachteiligt. Dies insbesondere im Hinblick auf die Bildung. Genießen Jungen eine Schulaus- bildung, so gehen Mädchen nur zirka zwei Jahre in die Schule, dann müssen sie im Haushalt helfen. Soweit in ärmeren Schichten. Der Fall der getöteten Studentin zeigt, angefangen in oberen Schichten, dass junge Frauen beginnen, diese verkrusteten Strukturen aufzubrechen. Dies stößt bei Männern aus den ärmeren und damit ungebildeteren Schichten auf Hass, welcher sich in Gewalt gegenüber Frauen entlädt. In weiten Teilen hat die indische Gesellschaft das Todesurteil gegen die Täter begrüßt. Offensichtlich wurde auch im Land eine Grenze an Grausamkeit überschritten, die nicht mehr ignoriert werden kann.
Und dennoch: unter anderem aus den Kreisen der Täterfamilien wird Justizschelte betrieben. Man habe sich dem öffentlichen Druck bei der Urteilsfindung gebeugt. Die Täter seien jung, kämen aus armen Verhältnissen, einer von ihnen sei vor kurzem Vater geworden. Können dies Argumente – sei man auch für oder gegen das Instrument der Todesstrafe – dafür sein, das Todesurteil gegen die Verbrecher zu revidieren? Wohl nein! Wie das Berufungsgericht in Indien die Angelegenheit juristisch sieht, wird die Zeit zeigen.
Blick zurück nach Syrien: Was wurde erreicht? Zum Militärschlag wird es wohl nicht mehr kommen. Ob dieser überhaupt etwas außer Leid gebracht hätte, ist fraglich. Und bekanntlich bleibt es bei geplanten „kurzen Feldzügen“ bei der Absicht, vor Ort muss man sich „eingraben“. Putin hat Obama geschickt ausmanövriert. Die von den Amerikanern vorgelegten Beweise sind wohl aussagekräftig genug. Die Tatsache, dass Assad Putins Vorschlag, der Chemiewaffen-Konvention beizutreten, bedingungslos folgt und auch, dass ein Herrscher ohne Unterstützung aus dem Volk an der Macht bleibt, zeigt, dass es sich bei der syrischen Regierung um einen russischen „Satelliten“ handelt. Putin hat seinen Hauptzugang zum Mittelmeer über Syrien manifestiert.
In beiden Fällen gilt die grausame Erkenntnis, dass „die Gegenwart die Vergangenheit frisst“. Die Toten sind nun einmal tot, warum mit aller Härte vorgehen?! Das ändert eh nichts mehr. Traurig, oder?! Ich bezweifele, dass den Opfern in beiden Fällen Gerechtigkeit widerfahren wird. Wer aus dem Zug des Lebens aussteigt, hat schon bald keine Lobby mehr.
Aber erinnern wir uns: es geht in beiden Fällen nicht um „tragische Unfälle“, sondern um grausame, vorsätzliche Tötung von Menschen, um nicht zu sagen: Mord!
Mord, der bald aus den Schlagzeilen verschwinden wird.
Wie lange machen wir noch so weiter?!
© Thomas Dietsch