26. April 1986: Tschernobyl, der GAU! Vollends für die menschliche Nutzung aufgegeben wurden rund 6400 km² an landwirtschaftlicher Fläche und Waldgebieten, die nahe dem Kraftwerk gelegen sind.

11. März 2011: Fukushima, weiterer GAU! Japan hat Menschen in einem Umkreis von 20 Kilometern um die AKWs evakuiert. Dieser Radius dürfte jedoch nicht ausreichen. Für Tschernobyl gilt: Auch Menschen in mehr als 1.000 Kilometern Entfernung waren von den Folgen des Atomunglücks betroffen. Von Zehntausenden von Litern radioaktiv verseuchten Kühlwassers, das in den Pazifik geleitet wurde, ganz zu schweigen.

Aber auch in Frankreich gibt es seit 100 Jahren No-Go-Areas, die roten Zonen. Millionen Granaten und Munitionsreste aus dem Ersten Weltkrieg stecken dort immer noch in der Erde, viele Gebiete sind chemisch verseucht. Betreten kann tödlich enden!

Giftgasgranaten, Knochen, Munition und Minen stecken in einem 10.000 Hektar großen Gebiet im Nordosten Frankreichs bis heute in der Erde. Das ist die sogenannte rote Zone, seit über 100 Jahren eine „No-Go-Area“. Dort dürfen keine Menschen wohnen, Landwirtschaft ist verboten.

Es ist zu gefährlich – Millionen von Granaten wurden dort verschossen. Ein Fünftel von ihnen, rund 20 Millionen, explodierte nicht, die Reste befinden sich zum Teil noch tief in der Erde.

Das Gebiet war eine der Hauptkampfzonen des Ersten Weltkriegs. Aber die unentdeckten Bomben, Waffen und Munitionsreste sind nicht das einzige Problem: Unzählige Granaten enthielten Giftgas. Die chemischen Stoffe sickerten in den Boden. Kupfer, Eisen, Blei, Quecksilber, Zink, Arsen und andere Chemikalien und Schwermetalle verseuchen die Natur bis heute.

Allein 200.000 nicht explodierter Granaten enthielten chemische Kampfstoffe. Doch bei der Entsorgung nahm man es nicht so genau. 2004 untersuchten Wissenschaftler den Boden der Lichtung, den die Bevölkerung „Gas-Platz“ nennt.

Immer wieder werden Überreste von Soldaten gefunden, Knochen oder Helme und Uniformteile. 2013 wurden durch heftige Regenfälle die Gebeine von 26 französischen Soldaten freigelegt.

Die verbotene Zone war schon mal größer. Direkt nach dem Ende des Ersten Weltkriegs umfasste sie 179.000 Hektar, war also fast 18-mal so groß wie heute. Nach und nach wurde immer mehr Land wieder freigegeben, 1927 war die rote Zone noch 49.000 Hektar groß.

In der roten Zone lag die Westfront, hier fanden einige der blutigsten Schlachten der Weltgeschichte statt, unter anderem die bei Verdun. In dem brutalen Stellungskrieg standen sich zwischen dem 21. Februar und dem 19. Dezember 1916 französische und deutsche Truppen gegenüber.

In den 300 Tagen der Schlacht starben 300.000 Soldaten – 80.000 nicht identifiziert. Weitere 400.000 wurden verletzt. Letztlich verschob sich die Front immer nur um wenige Kilometer – mal hin, mal her.

Allein in Verdun sollen 60 Millionen Granaten verschossen worden sein. Umgerechnet sind das 150 je Quadratmeter des Schlachtfeldes.

Die Landschaft wurde zerstört, Dörfer dem Erdboden gleichgemacht, Bäume entwurzelt, die Erde für die Schützengräben und Stellungen umgepflügt, Straßen und Eisenbahnstrecken zerstört.

Nach dem Krieg wurden die Kriegsorte im Nordosten des Landes in drei Zonen aufgeteilt: eine rote „Verbotene Zone“, sowie eine gelbe und eine blaue mit schweren, aber nicht ganz so katastrophalen Zerstörungen. Die rote Zone galt unter Experten als „komplett verwüstet“ und „unmöglich zu säubern“.

Der französische Staat kaufte einen Großteil der betroffenen Gebiete und pflanzte Wälder, ohne sich um die chemische Verseuchung und die Umweltfolgen zu kümmern. So entstand etwa der Foret de Guerre bei Champagne. Die Wälder überließ man sich selbst.

Dörfer wie Fleury-devant-Douaumont hat man nicht wieder aufgebaut, heute existieren nur noch ein paar Steinhaufen – eine Postleitzahl erinnert an das Grauen.

Betroffen ist auch die Tierwelt: In den Lebern von Wildschweinen stellten Wissenschaftler zu hohe Bleiwerte fest. Nur zwei Pflanzenarten wachsen vor Ort: Flechten und Moose. Bis 2005 wurde in der Gegend noch gejagt. Das Betreten der Umgebung des „Gas-Platzes“ ist erst seit 2012 verboten.

Aus den Giftgasgranaten in der Erde setzen sich nach und nach chemische Stoffe ins Erdreich und im Wasser ab. Es wird zehntausend Jahre dauern, bis sich jene neutralisiert haben.

Die Aufräumarbeiten werden Jahrhunderte dauern, heißt es von Expertenseite. Manche gehen von 900 Jahren aus.

Man muss vor Ort mit alledem leben – morbider Alltag für die Menschen in einer mörderisch verwundeten Landschaft.

Ich erinnere mich nur noch sehr schlecht. Es war bereits dunkel, warm, sternenklare Nacht, der Mond wachte über die Dinge, die hier bei uns geschahen. Offensichtlich war ich noch nicht sehr müde, die Nacht wunderbar, also entschloss ich mich zu einem Spaziergang.

Wie lange ich bereits unterwegs war, weiß ich nicht mehr. Der Weg ging über eine Wiese auf Bäume – wahrscheinlich Obstbäume – zu, als ich Musik hörte. Etwas exotische Klänge, für mein Verständnis waren sie indisch. Neugierde machte sich in mir breit, ich folgte den Klängen, hinter den Bäumen erschienen langsam bunte Lichter, wie eine Aurora. Eine Schar Menschen saß in einem riesigen Kreis um einen Platz, innerhalb dem andere tanzten. Ein seltsamer Tanz, wie aus einer anderen Welt. Wie verzaubert, alle schienen frohen Mutes zu sein, aber keiner sprach ein Wort. Außer dem Klang der Musik und den Geräuschen der Bewegungen war nichts zu hören.

Näher betrachtet fiel mir auf, dass die tanzenden Menschen verschiedene Kleider, ja Trachten, trugen. Die Hautfarbe des einen unterschied sich von der des anderen. Und trotz der vielen Unterschiede lächelten alle einander an. Im Zirkel um die Tanzenden waren die Gruppen säuberlich aufgeteilt. Alle nach Trachten und weiterer Zugehörigkeit sauber differenziert. Einige aßen und tranken, man sah dem Treiben in der Mitte zu. Interessiert und doch in aller Ruhe. Man schien auf diesen Moment lange gewartet zu haben. Ein jeder und eine jede fügte ich in die große Gemeinschaft, jeder schien still etwas zu dem Ereignis beizutragen. Vor den Gruppen befanden sich Speisen und Getränke, einige Kulturgegenstände. Letztere lagen da, als würde man sie feilbieten. Eine Art Markt auf einem Fest.

Ich schaute mir die Gruppen näher an und stellte fest, dass alle die Menschen, fein säuberlich am Rand sortiert, aus allen Winkeln dieser unserer Erde kommen mussten. Da waren Asiaten, Indianer, Afrikaner, Aborigines aus Australien und nicht zuletzt wir Europäer. Eine Party der Kontinente, ein Fest der Weltbevölkerung fand hier statt. Einträchtig, gut organisiert und zu einem bestimmten wichtigen Zeitpunkt, der sich mir nicht erschloss.

Von meiner Ankunft schien niemand besondere Notiz zu nehmen. Eine offene Feier, auch für Neu- oder Spätankömmlinge. Auf eine wundersame Art schienen sich alle miteinander zu verständigen; es bedurfte nicht der Worte.

Ich steuerte auf die Indianer zu, ein Mann deute mit einer Geste neben sich. Eine Einladung, die ich gerne wahrnahm. Kaum hatte ich mich auf der Erde im Schneidersitz niedergelassen, befand ich mich in einer Stadt der Inkas, irgendwo in Mittel- oder Südamerika. Buntes Treiben in den Straßen, Menschen gingen ihren täglichen Verrichtungen nach. Ich war überwältigt! Schienen sich die Tanzenden in der Mitte des Kreises in der Gegenwart zu befinden, so wurde man im Außenbereich bei den Gruppen in die Vergangenheit katapultiert. Vielleicht war es auch eine Zeit, die frei von europäischen Einflüssen war. Mir war nicht klar, ob ich zeitlich zurückgefallen war oder mich irgendwo in einer Zeit parallel zu der unsrigen Gegenwart befand.

Die Geschehnisse wiederholten sich. Ich erhob mich, machte eine stumme Geste des Dankes gegenüber meinem Gastgeber und ging zur nächsten Gruppe, jener aus Asien. Die freundliche Verbeugung einer Frau lud mich ein, Platz zu nehmen. Ein Tempelgong aus China schien die Zeit zu verkünden. Rikschas huschten durch die Straßen, Menschen strömten aus Geschäften oder sonst woher und -hin.

Ich besuchte alle Gruppen, überall das gleiche Erlebnis: ich befand mich in einer anderen Welt, ob nun in der Vergangenheit oder im Jetzt mochte keine Rolle spielen. In der Mitte waren alle vereint. So unterschiedlich die einzelnen Gruppen und deren Welten auch sein mochten, eines hatten sie, zumindest hier, gemeinsam: ihren Tanz! Sie waren alle Menschen, Ur-Ur-Ur- … -enkel und -enkelinnen einer Urmutter und eines Urvaters. Der Grund des hiesigen Treffens war todernst. Es war eine Mahnung, dass wir alle eins waren: Der Mensch, seit Urzeiten auf diesem Planeten. Mit Verstand gesegnet, auf dass wir uns gegenseitig voranbrachten.

Ein furchtbares Geräusch unterbrach meine Gedanken, eine Stimme katapultierte mich wieder in eine andere Welt.

Ich stand auf, während mein alter Radiowecker die Nachrichten herunterleierte: „Bei einem Bombardement der US-geführten Anti-IS-Allianz kamen 215 Menschen ums Leben …“.

Ich schaltete das Radio aus, schaute aus dem Fenster und hätte weiterträumen wollen …

© Thomas Dietsch