Ich erinnere mich nur noch sehr schlecht. Es war bereits dunkel, warm, sternenklare Nacht, der Mond wachte über die Dinge, die hier bei uns geschahen. Offensichtlich war ich noch nicht sehr müde, die Nacht wunderbar, also entschloss ich mich zu einem Spaziergang.

Wie lange ich bereits unterwegs war, weiß ich nicht mehr. Der Weg ging über eine Wiese auf Bäume – wahrscheinlich Obstbäume – zu, als ich Musik hörte. Etwas exotische Klänge, für mein Verständnis waren sie indisch. Neugierde machte sich in mir breit, ich folgte den Klängen, hinter den Bäumen erschienen langsam bunte Lichter, wie eine Aurora. Eine Schar Menschen saß in einem riesigen Kreis um einen Platz, innerhalb dem andere tanzten. Ein seltsamer Tanz, wie aus einer anderen Welt. Wie verzaubert, alle schienen frohen Mutes zu sein, aber keiner sprach ein Wort. Außer dem Klang der Musik und den Geräuschen der Bewegungen war nichts zu hören.

Näher betrachtet fiel mir auf, dass die tanzenden Menschen verschiedene Kleider, ja Trachten, trugen. Die Hautfarbe des einen unterschied sich von der des anderen. Und trotz der vielen Unterschiede lächelten alle einander an. Im Zirkel um die Tanzenden waren die Gruppen säuberlich aufgeteilt. Alle nach Trachten und weiterer Zugehörigkeit sauber differenziert. Einige aßen und tranken, man sah dem Treiben in der Mitte zu. Interessiert und doch in aller Ruhe. Man schien auf diesen Moment lange gewartet zu haben. Ein jeder und eine jede fügte ich in die große Gemeinschaft, jeder schien still etwas zu dem Ereignis beizutragen. Vor den Gruppen befanden sich Speisen und Getränke, einige Kulturgegenstände. Letztere lagen da, als würde man sie feilbieten. Eine Art Markt auf einem Fest.

Ich schaute mir die Gruppen näher an und stellte fest, dass alle die Menschen, fein säuberlich am Rand sortiert, aus allen Winkeln dieser unserer Erde kommen mussten. Da waren Asiaten, Indianer, Afrikaner, Aborigines aus Australien und nicht zuletzt wir Europäer. Eine Party der Kontinente, ein Fest der Weltbevölkerung fand hier statt. Einträchtig, gut organisiert und zu einem bestimmten wichtigen Zeitpunkt, der sich mir nicht erschloss.

Von meiner Ankunft schien niemand besondere Notiz zu nehmen. Eine offene Feier, auch für Neu- oder Spätankömmlinge. Auf eine wundersame Art schienen sich alle miteinander zu verständigen; es bedurfte nicht der Worte.

Ich steuerte auf die Indianer zu, ein Mann deute mit einer Geste neben sich. Eine Einladung, die ich gerne wahrnahm. Kaum hatte ich mich auf der Erde im Schneidersitz niedergelassen, befand ich mich in einer Stadt der Inkas, irgendwo in Mittel- oder Südamerika. Buntes Treiben in den Straßen, Menschen gingen ihren täglichen Verrichtungen nach. Ich war überwältigt! Schienen sich die Tanzenden in der Mitte des Kreises in der Gegenwart zu befinden, so wurde man im Außenbereich bei den Gruppen in die Vergangenheit katapultiert. Vielleicht war es auch eine Zeit, die frei von europäischen Einflüssen war. Mir war nicht klar, ob ich zeitlich zurückgefallen war oder mich irgendwo in einer Zeit parallel zu der unsrigen Gegenwart befand.

Die Geschehnisse wiederholten sich. Ich erhob mich, machte eine stumme Geste des Dankes gegenüber meinem Gastgeber und ging zur nächsten Gruppe, jener aus Asien. Die freundliche Verbeugung einer Frau lud mich ein, Platz zu nehmen. Ein Tempelgong aus China schien die Zeit zu verkünden. Rikschas huschten durch die Straßen, Menschen strömten aus Geschäften oder sonst woher und -hin.

Ich besuchte alle Gruppen, überall das gleiche Erlebnis: ich befand mich in einer anderen Welt, ob nun in der Vergangenheit oder im Jetzt mochte keine Rolle spielen. In der Mitte waren alle vereint. So unterschiedlich die einzelnen Gruppen und deren Welten auch sein mochten, eines hatten sie, zumindest hier, gemeinsam: ihren Tanz! Sie waren alle Menschen, Ur-Ur-Ur- … -enkel und -enkelinnen einer Urmutter und eines Urvaters. Der Grund des hiesigen Treffens war todernst. Es war eine Mahnung, dass wir alle eins waren: Der Mensch, seit Urzeiten auf diesem Planeten. Mit Verstand gesegnet, auf dass wir uns gegenseitig voranbrachten.

Ein furchtbares Geräusch unterbrach meine Gedanken, eine Stimme katapultierte mich wieder in eine andere Welt.

Ich stand auf, während mein alter Radiowecker die Nachrichten herunterleierte: „Bei einem Bombardement der US-geführten Anti-IS-Allianz kamen 215 Menschen ums Leben …“.

Ich schaltete das Radio aus, schaute aus dem Fenster und hätte weiterträumen wollen …

© Thomas Dietsch