Mit dem Sieg Emmanuel Macrons ist das französische Wahljahr noch nicht vorüber. Denn am 11. und 18. Juni diesen Jahres folgen die Wahlgänge der Parlamentswahlen – und sie gelten in Frankreich als mindestens ebenso wichtig. Sie bestimmen, welche Rolle ein Präsident in den kommenden Jahren überhaupt einnehmen kann.
Auch die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) misst den Parlamentswahlen eine überragende Bedeutung zu. Denn die französische Verfassung sieht nicht nur einen mächtigen Präsidenten, sondern auch einen vom Parlament gewählten Ministerpräsidenten vor. Beide müssen zusammenarbeiten. In der Vergangenheit führte das mitunter zu Problemen. In der sogenannten Cohabitation musste etwa von 1993 bis 1995 ein sozialistischer Präsident mit einem bürgerlichen Ministerpräsidenten zusammenarbeiten. Von 1997 bis 2002 war die Konstellation genau anders herum. Schwierig war beides.
Fast 30 Prozent der unter 35-jährigen Franzosen haben im ersten Wahlgang für niemanden gestimmt. Die Jungen haben sich somit fast dreimal so häufig enthalten wie die über 70-Jährigen. Im Gegensatz zum Brexit-Referendum in Großbritannien war das aber nicht der Grund für einen Rechtsruck. Dieses Wahlverhalten kam den gemäßigten Kandidaten zugute.
Denn wenn die Jungen am Sonntag gewählt haben, dann wählten sie extrem. 30 Prozent der jüngsten Wählerinnen und Wähler stimmten für Jean-Luc Mélenchon, 21 Prozent Marine Le Pen. Bei den über 70-Jährigen waren es nur neun, respektive zehn Prozent. Die Ablehnung der Extreme gilt für alle Rentner, auch für die unter 70-Jährigen: Nur 14 Prozent von ihnen wählten Le Pen, nur 12 Prozent Mélenchon.
Offenbar ließen sich gerade die Älteren von Emmanuel Macrons jugendlicher Aufbruchstimmung mitreißen, 27 Prozent der über 70-Jährigen wählte Macron. Beliebter bei den Rentnern ist nur einer: François Fillon. Fast die Hälfte seines Elektorats waren Rentner. Während viele Wähler ihre Unterstützung für Fillon nach seinen Skandalen überdachten, blieb die klassische Wählerschaft der Republikaner ihm treu und stimmte nach dem Prinzip: Wir haben immer konservativ gewählt, also wählen wir auch diesmal konservativ.
Zählt man auch Fillon zu den gemäßigten unter den Präsidentschaftskandidaten, kann man sagen: Die Jungen wählten den Umsturz, die Alten wählten die Konstanz.
Falls Macron keine Mehrheit in der Nationalversammlung bekommen sollte und deshalb für Gesetzesvorhaben mit anderen politischen Kräften zusammenarbeiten müsste, wird eine Konstellation erwartet, die man eher als „Coalition“ denn als „Cohabitation“ bezeichnen könnte. Denn statt der klassischen Rechts-Links-Auseinandersetzung früherer Jahre könnte Macron diesmal sein Ziel erreichen, indem er je nach Thema wahlweise Bündnisse mit moderaten Abgeordneten der Linken und dem linken Flügel der Konservativen schließt.
Macrons Problem: Er ist als Erneuerer angetreten, vor allem im Wirtschaftssektor. Beobachter bezweifeln jedoch, dass er die für harte Reformen erforderlichen Mehrheiten beschaffen könnte. „Deshalb verstehe ich nicht, wieso Macron in Deutschland wie ein Heilsbringer angesehen wird“, kritisiert die DGAP. Sie verweist auch auf den zu erwartenden Mobilisierungseffekt der Gewerkschaften im Herbst gegen zu starke Einschnitte in das Arbeits- und Sozialrecht.
Es gebe in Frankreich einfach keine Erfahrung mit der für eine „Coalition“ nötigen Kompromisskultur und der ständigen Suche nach neuen Mehrheiten, so warnt man vor zu hohen Erwartungen an Macron. Schon der aktuelle sozialistische Präsident François Hollande habe etliche Reformvorschläge wegen der fehlenden Mehrheiten in der Nationalversammlung nicht durchsetzen können. Dass Macron wie Hollande das Parlament einfach mit Dekreten übergehen könnte, gilt bei Beobachtern in Paris als ausgeschlossen. Das Instrument sei verbraucht, so ein französischer Diplomat.
Die Süddeutsche Zeitung titelt: „Wahl in Frankreich – Europa ist endlich wieder angesagt“.
Aber Europapolitik ist schwierig; das wissen wir.
Hätte ein imaginärer dritter Kandidat bei der Stichwahl um die französische Präsidentschaft alle ungültig abgegebenen Stimmen für sich reklamieren können, er wäre auf sagenhafte zwölf Prozent gekommen. Etwa 4,2 Millionen Bürger gaben zwar ihren Stimmzettel ab, stimmten allerdings für keinen der beiden Kandidaten („Vote blanc“) oder beschädigten ihren Stimmzettel so stark, dass er nicht in die Wertung einging („Vote nul“).
Dies zeigt, dass der Geist Europas noch nicht alle französischen Wählerinnen und Wähler durchdrungen hat.