Es dürfte kaum eine Straße im einstigen West-Berlin geben, die nicht irgendwie mit dem European Recovery Programe ERP verbunden ist. Anders ausgedrückt: Mit dem „Marshall-Plan“, jenem einzigartigen Wiederaufbauprojekt für Europa, das vor 70 Jahren verkündet wurde.

Viele Wohnhäuser und ganze Siedlungen etwa in Schöneberg, im Wedding, Reinickendorf, Zehlendorf, in Spandau oder Tempelhof tragen bis heute die bronzene ERP-Plakette.

Benannt wurde das Projekt nach dem General und Außenminister, der an jenem 5. Juni 1947 vor Absolventen der Universität Harvard jene Rede hielt, die Weltgeschichte schrieb: Die USA, so Marshall, seien bereit, mit Krediten und Hilfslieferungen für Landwirtschaft, Industrie, Straßen- und Wohnungsbau die europäische Wirtschaft wieder in Gang zu bringen. Auch die Vereinigten Staaten profitierten.

In seinen Ausführungen auf vier Seiten skizzierte der amerikanische Außenminister die Grundzüge eines Unterstützungsprogramms für das kriegsversehrte Europa. Marshall deutete an, dass die USA willens wären, sich an der Ausarbeitung und Finanzierung eines Aufbauprogramms zu beteiligen, wobei die Initiative von den europäischen Nationen ausgehen müsse. Es war die Geburtsstunde des European Recovery Program – besser bekannt als „Marshall-Plan“.

Der „Marshall-Plan“ gilt bis heute als das bisher erfolgreichste Entwicklungsprogramm der USA. Wenn irgendwo eine konzertierte Unterstützung für eine Region als notwendig erachtet wird, ertönt der Ruf nach einem neuen „Marshall-Plan“. Ganz offenkundig weckt der Plan noch immer positive Assoziationen. Das gilt namentlich für Deutschland, wo sich der Plan tief ins kollektive Gedächtnis gebrannt hat. Der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel unterstrich vor zwei Wochen in einer Rede in Washington, der Plan stehe für die „helfende Hand“, die Deutschland von den USA angeboten erhalten habe.

An die Stelle von Reparationsforderungen, mit denen Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg konfrontiert wurde, trat 1947 die wirtschaftliche Unterstützung, was Marshall 1953 den Friedensnobelpreis einbrachte. Das nach seiner Rede ausgearbeitete Programm sah für 1948 bis 1952 ein 13,3 Mrd. $ schweres Hilfspaket vor. Allein die 1949 ausbezahlten Mittel entsprachen dabei rund 12% des amerikanischen Haushalts. Umgerechnet in die heutige Zeit entspräche das Gewicht des Plans gegen 130 Mrd. $. Ausbezahlt wurde die Hilfe vor allem in Form von Zuschüssen an 16 europäische Staaten, und zwar nach ungefährer Maßgabe der Bevölkerungszahl. Am meisten Hilfe erhielt dabei Großbritannien, vor Frankreich und Westdeutschland.

Europa lag nach dem Zweiten Weltkrieg in Trümmern. Landwirtschaft, Industrie und öffentliche Infrastruktur waren in einem desolaten Zustand. Das Kapital für die benötigten Investitionen fehlte, und die USA waren die einzige Wirtschaftsmacht, die dieses bereitstellen konnte, da sie den Krieg ohne größere Verwüstungen überstanden hatte. Der „Marshall-Plan“ sollte in Europa drei Ziele erreichen: die Ankurbelung der Agrar- und Industrieproduktion, die Wiederherstellung einer halbwegs soliden Finanz- und Währungspolitik in den Staaten und die Stimulierung des Handels sowohl innerhalb Europas als auch zwischen Europa und der Welt.

Mit Altruismus hatte all das wenig zu tun. Die USA verfolgten handfeste Eigeninteressen. Politisch galt es, die Ausbreitung des Kommunismus zu verhindern. Diesem Vorhaben lag die Einschätzung zugrunde, dass in wirtschaftlich prekären Verhältnissen kommunistische Ideen besonders rasch gedeihen. Hohes Gewicht erhielt die Unterstützung der Türkei und Griechenlands, die im Kampf gegen den Kommunismus als Frontlinie betrachtet wurden. Wirtschaftlich galt es zudem, den Staaten Europas, die nach dem Krieg kaum noch über Devisenreserven verfügten, wieder zu Dollars zu verhelfen. Ohne diese konnten sie keine amerikanischen Güter kaufen. Insofern zielte der Plan auch darauf ab, einen für die US-Wirtschaft wichtigen Absatzmarkt wiederaufzubauen.

Alle unterstützten Staaten verfügten nach vier Jahren wieder über eine Wirtschaftskraft, die das Vorkriegsniveau übertraf. Die Industrieproduktion lag dabei um 41% über dem Niveau von 1938 und gar um 64% über dem Stand von 1947, die Erholung der Landwirtschaftsproduktion lag 1951 um 9% über dem Vorkriegsniveau.

Inwieweit das Projekt ursächlich war für den Aufschwung der Industrieproduktion, bleibt umstritten. Zweifellos hat das Programm die Erholung gestützt. Ob es die Entwicklung aber initiiert hat, erscheint fraglich. So wurden viele Initiativen, die maßgeblich zur wirtschaftlichen Erholung beitrugen, unabhängig von diesem Plan angestoßen, etwa die deutsche Währungsreform im Jahr 1948 und die damit verbundene Aufhebung staatlicher Rationierungen und Preiskontrollen. Skeptiker betonen zudem, dass die Unterstützung in keinem Empfängerland höher ausfiel als 3% der Wirtschaftskraft, womit die Hilfe kaum jene kritische Masse gehabt habe, um einen Aufschwung auszulösen.