Die meisten von uns kennen das Phänomen nur aus Geschichtsbüchern und den Nachrichten: Die Katastrophe, das Unglück, Morden, was auch immer – genannt: Krieg! Im Europa nach 1945 ist unsere Generation als auch die nach uns aufgewachsen in einer Phase und auch in einem Raum des Friedens. Unvorstellbar, dass sich dies einmal ändern könnte. Mit Spannung, teilweise Entsetzen haben wir den Erzählungen unserer Großeltern und jenen unserer Eltern, die damals selbst noch Kinder waren, zugehört. Wir haben die Kinderlieder wie „Maikäfer flieg …“ noch mit leichtem Schaudern und Gänsehaut im Bettchen abends gesungen. Eine Welt, die nicht die unsrige war. Weit entfernt, das passierte uns nicht, da würden die Eltern – oder auch die „Großen“ – schon darauf achten. Diese Haltung nimmt man mit ins Erwachsenenalter. Man geht hin wo man will, man sagt und macht, was man will. Solange man gegen kein Gesetz verstößt, stört dies niemanden.

Nicht erst die Anschläge in Paris haben es verdeutlicht, es ist eigentlich schon länger absehbar. Die fruchtbaren Morde in Paris haben es uns nur noch einmal in aller Härte vor Augen geführt: Wir sind im Krieg! Heute morgen hörte ich einen Kommentar im Radio, der mich sehr nachdenklich machte: Es sei ein Krieg, der wahrscheinlich (eine Prognose!) dreißig Jahre dauern würde. Vorbei mit dem Kokon der Sicherheit, aus mit der Sonne des Friedens. Paris hat es gezeigt: Wir haben in unserer modernen Epoche ein Gut, das zuvor nicht selbstverständlich war: die Freizeit. Sie gehört uns allein, man ist absolut privat bis hin zu intim, keiner spuckt einem da in die Suppe. Freizeit steht mit Freiheit in Einklang, die Zeit, die ich für mich selbst gestalten kann. In dieser Zeit suche ich mir Beschäftigungen, die ich mag, ja liebe. Ich mache das, was ich gerne tue. Es ist einfach schön! Und genau das haben die Verbrecher von Paris kaputtgemacht, so, wie es an vielen Orten in der Welt vorher auch schon passierte. Der 11. September 2001 war für die Vereinigten Staaten eine Zeitenwende. Genauso verhält es sich mit dem 13. November 2015, was Europa angeht. Mit den Opfern, die wir betrauern, wurde uns das Gefühl der Sicherheit gestohlen. Von jetzt bis in eine unbestimmte Zukunft. Die Idylle eines Straßencafés im Frühjahr des nächsten Jahres kann von jetzt auf nachher zur Hölle werden. Die Angst sitzt uns im Genick! Angst, das Gefühl der Bedrohung vor etwas, das man nicht greifen kann. Angst macht orientierungslos, zum Teil sogar wütend. Im bisher sicheren Europa wissen wir nicht, wie wir damit umgehen sollen. Und genau das wollen die Terroristen erreichen!

Aber das Gefühl der Angst lässt auch nach. Junge Menschen in Jerusalem und Tel Aviv sagten zum Beispiel vor einiger Zeit in einem Interview, dass sie nach wie vor in Straßencafés und Diskotheken gehen. Trotz der Gefahr eines Anschlages. Jene junge Menschen in Israel sind in dieser Art Krieg, in der wir uns jetzt befinden, aufgewachsen. Und das erinnert mich ein wenig an die Erzählung meiner Eltern: man kannte es als Kind nicht anders! Entscheidend ist aber, dass uns am letzten Freitag ein gehöriges Stück Lebensqualität gestohlen wurde. Sich des Risikos eines Anschlages bewusst in einer Menschenmenge zu bewegen ist nicht das Gleiche wie dies unbefangen zu tun, ohne Argwohn.

Die Art zu kämpfen hat sich verändert. Man schaut dem Feind nicht mehr außerhalb auf dem Schlachtfeld ins Auge. Man sieht ihn nicht mehr kommen. Er ist unter Umständen unter uns in unserer bisher friedlichen Straße. Er kommt auch nicht zwingend aus einem fremden Land. Die Anschläge der Rote Armee Fraktion (RAF) in den 1970er Jahren haben es bewiesen. Und er fragt sich auch nicht mehr, ob ich eine reelle Chance habe, mich zu verteidigen. Er tötet wahllos und heimtückisch. Er macht keinen Unterschied zwischen Männern, Frauen und Kindern, zwischen Jungen oder Alten oder zwischen Streitkräften und Zivilbevölkerung. Die Verbrecher von Paris kannten die Begriffe der Feigheit und der Heimtücke nicht. Sie haben sich als Herren über Leben und Tod von unschuldigen Menschen aufgeschwungen. Wir werden diesen Krieg durchleben müssen, uns wappnen. Unsere bisherige militärische Taktik und Strategie sind überholt, unsere Regeln zu kämpfen nutzlos!

Wir stehen am Anfang einer neuen Epoche.

© Thomas Dietsch