Im Januar 1919 hält Max Weber den berühmten Vortrag „Politik als Beruf“. Der Erste Weltkrieg ist eben erst beendet und inmitten revolutionärer Wirren ist fraglich, welches Regierungssystem an die Stelle der in Deutschland abgedankten Monarchie treten wird. In dieser prekären Lage wünscht sich Weber einen neuen Typus charismatischer Berufspolitiker.
Ihnen dürfe es nicht länger bloß um Macht gehen, sondern auch um Moral. Die „Berufskrankheit“ der Eitelkeit sei zu überwinden, die das eigene Ich wichtiger als das politische Anliegen nehme (deutschlandfunkkultur.de, 11.07.2021).
Auch im modernen deutschen Wahlkampf beschwören die Grünen gerne gesellschaftliche Krisen, um dann staatlichen Schutz anzubieten. Mit der moralisch geprägten Politik droht eine staatliche Mikrosteuerung in allen Bereichen des Lebens.
Die Umweltpolitik ist zu einem gesellschaftlichen Thema ersten Ranges geworden. Vor allem die Klimapolitik ist längst zu einem Sammelbecken grundlegender Gesellschafts- und Kapitalismuskritik geworden. Hier werden die zentralen Charakteristika des Denkens und Handelns der Grünen besonders deutlich.
Als Ursache für die Klimakrise sehen die Grünen die weitverbreitete „niedrige“ Gesinnung vieler Menschen. Das Weltklima werde destabilisiert, weil rücksichtslose Menschen das Klima absichtlich gefährdeten, um ihre egoistischen Ziele zu verfolgen. Diese Sichtweise schafft ein klares moralisches Feindbild und erlaubt es den Grünen, die Welt gemäß einem Gut-Böse-Schema einzuteilen und ihre eigene moralische Überlegenheit gegenüber anderen herauszustellen (Rupert Pritzl und Fritz Söllner in nzz.ch, 20.07.2021).
Moralpolitik in Deutschland zwischen 1960 und heute folgt keinem klaren Trend in Richtung permissive bzw. restriktive Regulierung.
Mit diesen Reformbewegungen stellt Deutschland im europäischen Vergleich keinen durchgehenden Vorreiter dar, sondern repräsentiert in erster Linie einen Mitläufer. In summa zeigt sich ein heterogenes Bild, das kaum Kategorisierungen zulässt. Moralpolitischer Wandel resultiert aus dem Zusammenspiel verschiedener Faktoren. Veränderungen des Status quo sind schwer vorhersagbar. Bei der Agendasetzung ergeben sich Reformfenster für Wandel in erster Linie durch eine Delegitimierung des Status quo (Stephan Heichel, Christoph Knill, Caroline Preidel, Moralpolitik in Deutschland) aufgrund ideellerVeränderungen.
Entscheidend ist der Akzeptanzverlust, der nicht auf objektivierbare Gründe, sondern wesentlich auf Reframing-Prozessezurückzuführen ist. Dies stellt ein moralpolitisches Spezifikum dar.