„Die Wiege aller europäischen Freiheit und Gleichheit, die Schweiz, hält ihre Töchter enteigneter und geknechteter als keine der sie umringenden Monarchien; das mündigste Volk Europas betrachtet und behandelt seinen weiblichen Bestandtheil als das unmündigste Kind“. Julie von May von Rued 1872
Erst am 7. Februar 1971 erhielten auch die Schweizerinnen das Stimmrecht auf Bundesebene – 78 Jahre nach Neuseeland, 41 Jahre nach der Türkei, 26 Jahre nach Togo (SPON). In Europa waren nur Portugal (1974) und Liechtenstein (1984) noch später dran. Die Frauen im Kanton Appenzell-Innerrhoden mussten sogar noch 20 Jahre länger warten, bis sie wählen gehen durften.
Stolz war die Eidgenossenschaft darauf, die zweitälteste Demokratie auf Erden zu sein, gleich nach den Vereinigten Staaten, ein freies und fortschrittliches Land also.
Was sagt es über die Schweiz, diese vermeintlich so altehrwürdige Demokratie, dass sie die Hälfte der Bevölkerung so lange ausschloss? Wenn wir schon bei den Fragen sind: Warum war der Schweizer Ehemann noch bis 1988 der gesetzliche Vormund der Ehefrau? Warum wurde im Jahr 2020 so erbittert darüber gestritten, ob Väter ganze zwei Wochen „Vaterschaftsurlaub“ bekommen sollten? Und wie passt zu alldem, dass nun bald per Volksabstimmung das Ehegattensplitting abgeschafft werden könnte – womöglich früher als in Deutschland?
Die direkte Demokratie brachte die Schweizer Männer in die besondere Lage, selbst entscheiden zu dürfen, ob sie ihre politische Macht mit den Frauen teilen wollten. Dass etwa deutsche oder amerikanische Männer in so einem Fall eher zugunsten der Frauen abgestimmt hätten, ist möglich, aber nicht wahrscheinlich. „Demokratisierungsprozesse wurden oft von oben initiiert“ (Hedwig Richter, Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität der Bundeswehr München, zitiert in zeit.de).
Deutschland feierte vor gut zwei Jahren 100 Jahre Frauenwahlrecht. Dass die Schweiz am Sonntag den 50. Jahrestag des Stimmrechts für Frauen begeht, ist kein geringfügiger Unterschied.
Es gibt eine Seite der Schweiz, die man in diesem Zusammenhang ins Blickfeld rücken sollte. Parallel zu einer eher reformunwilligen Gesellschaft und einem chronisch schwerfälligen politischen System hat sich nämlich in der Schweiz eine Frauenbewegung formiert, deren Schlagkraft in Europa ihresgleichen sucht (sueddeutsche.de). 1959 konnten die Frauen einen Teilerfolg verbuchen. Der französischsprachige Kanton Waadt räumte ihnen dieselben demokratischen Rechte ein wie den Männern. Im selben Jahr demonstrierte das Patriarchat auf Bundesebene noch einmal seine Macht: Mehr als 66 Prozent der männlichen Schweizer schmetterten das eidgenössische Wahlrecht für das andere Geschlecht ab. Nun schaute auch das demokratische Ausland irritiert auf die Eidgenossenschaft.
Der Mythos, die Schweiz sei aufgrund des Wehrwillens der Schweizer Männer vom Krieg verschont geblieben. Der Mann ist in dieser Vorstellung für die Verteidigung zuständig, und staatsbürgerliche Rechte sind an die Wehrpflicht gekoppelt. Das Narrativ erzählt, dass die Schweiz aufgrund dieser Einzigartigkeit, der Verknüpfung von Wilhelm Tell und dem Recht auf Mitbestimmung, nicht angegriffen worden sei. „In dieser Vorstellung zeigt sich die Selbstherrlichkeit der Schweizer Männer“ (Elisabeth Joris, tagblatt.ch, 15.01.2021).