Demokratie als Prozess

Das Geheimnis der vergleichsweise großen Stabilität von Demokratien liegt so sahen es die Vordenker der attischen Demokratie – in ihrer beachtlichen Anpassungs- und Lernfähigkeit. Volkssouveränität und Gewaltenteilung sorgen dafür, dass Macht breit gestreut ist und der politische Prozess auf Öffentlichkeit und Debatte, das heißt auf die Weisheit der Vielen setzt. Demokratien können damit leichter dem Schicksal autoritärer Regime entgehen, die durch die übergroße Machtkonzentration an der Spitze immer wieder autistische Züge entwickeln.

Für autoritäre Verhältnisse gilt die hochaktuelle Definition: Macht hat derjenige, der glaubt, es sich leisten zu können, nicht lernen zu müssen (Karl W. Deutsch).

In vielen Ländern, nicht zuletzt in den gefestigten repräsentativen Demokratien des Westens, gibt es wachsende Zweifel an der politischen Leistungsfähigkeit sowie der demokratischen Qualität und Legitimation des eingespielten Politikbetriebs. Wir erleben eine Strukturkrise westlicher Demokratien und sind auf dem Weg zur „Postdemokratie“ (Colin Crouch). Der Brite hat mit dieser These das Schwinden demokratischer Gestaltungsfähigkeit angesichts einer Übermacht von großen Konzernen und Medienunternehmen angeprangert. Gleichzeitig ist der öffentliche Sektor in einer Weise geschrumpft und an den Maßgaben der Privatwirtschaft ausgerichtet, dass von ihm keine Gestaltungsimpulse mehr ausgehen.

Der politische und ökonomische Liberalismus, der die Verfassung westlicher Demokratien über zweihundert Jahre geprägt hat, scheint an eine Reihe von Grenzen geraten zu sein. Verschiedene Krisensymptome der liberalen Gesellschaftsverfassung legen den Übergang zu einem veränderten – postliberalen – Verständnis westlicher Gesellschaften nahe.

Putin, Trump, Erdogan: Überall das gleiche Phänomen!

In repräsentativen Demokratien wirkt eine geradezu unheimliche, säkulare Dynamik der Selbstzerstörung, die es in anderen politischen Strukturen in dieser Nachhaltigkeit und Wirkmächtigkeit nicht gibt. Sie entfaltet in diesen Tagen, Wochen und Monaten ihre verhängnisvolle Wirkung und löst gerade in den östlichen Ländern der Europäischen Union eine Krise des politischen Willensbildungsapparats aus, an deren Ende der totale Zusammenbruch oder das allmähliche Abgleiten der Demokratien in präfaschistische Strukturen stehen könnte.

Diese Tendenzen finden wir im Süden und im Norden, im Osten wie auch im Westen. Sie haben unterschiedliche Ursachen, sind jedoch in ihrer Wirkung ähnlich: Abbau demokratischer und Stärkung autoritärer Politik. Gewiss ist diese Tendenz nicht überall so stark, dass sie zur bestimmenden wurde und über die Qualität des jeweiligen politischen Systems entscheidet. Jedoch gibt es heute, zu Beginn des Jahres 2012, viele politische Systeme, die trotz ihrer jeweiligen Besonderheiten in ihrer Grundstruktur als autoritär charakterisiert werden können. Und in ihnen lebt die Mehrzahl der Menschen der Welt.

Heute zu COVID19s Zeiten sind im Alltag Tendenzen zu dem erkennbar, was sich – nur scheinbar widersprüchlich – als „autoritäre Demokratie“ bezeichnen ließe. Demokratische Kontrollinstanzen sind nicht entmachtet, aber ihre Rolle verschiebt sich allzu oft in Richtung auf das formale Beglaubigen dessen, was in Koalitionsrunden oder anderen Zusammenhängen jenseits öffentlicher Debatte beschlossen wurde.

Unsere Gesellschaft ist im Wandel; unsere Demokratie funktioniert. Lassen wir uns diese von einem Virus nicht nehmen …

 

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