Das Ausmaß dieser Epidemie überschreitet alles, was die Menschheit bisher erlebt hat. Selbst bei der Pest im Mittelalter waren nur bestimmte Gegenden betroffen, jetzt ist es gleichzeitig die ganze Menschheit. In einem Jahr wird unsere Welt gewiss eine andere sein. Manches, was bisher selbstverständlich war, wird es nicht mehr sein. Man kann vermuten: das Leben wird wohl etwas weniger oberflächlich sein.

Warten wir es ab. Dass Menschen nach solchen Katastrophen zur Besinnung kommen können, das sieht man an so herrlichen Kulturleistungen wie der Kirche Santa Maria della Salute am Ende des Canale Grande in Venedig, die zum Dank für das Ende der Pest (wikipedia.org) gestiftet worden war. Aber nach dem schrecklichen Ersten Weltkrieg gab es auch zunächst ein Abgleiten in eine gewisse Vergnügungssucht. Übrigens wird es für die Politiker erheblich schwieriger sein, die Schulen und andere Institutionen wieder zu öffnen.

Die Vorstellung, dass die Zivilisation nur eine ganz dünne Schutzschicht sei, existiert in unserer westlichen Kultur tatsächlich seit langem. Dass wir uns von unserer schlechtesten Seite zeigten, sobald irgendetwas Schlimmes geschieht, sagen wir, ein Krieg, eine Naturkatastrophe oder eine Epidemie wie jetzt. Dann entblößen wir unser wahres, animalisches Selbst. Das ist eine uralte Annahme in der westlichen Geistesgeschichte, die sich zu den klassischen Griechen, den Gründungsvätern der christlichen Kirche und den Philosophen der Aufklärung zurückverfolgen lässt. Und es ist eines der zentralen Dogmen unseres kapitalistischen Gesellschaftsmodells (Lutger Bregman, dw.com 30.03.2020).

Die Not … Sie wird uns Menschen heute inmitten der Corona-Krise erfinderisch machen. Zwangsweise! Unsere Art zu leben stößt nun an eine empfindliche Grenze. Wir haben es nicht nur mit einer medizinischen Krise zu tun, sondern auch mit einer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen. Ein “Weiter so!” gibt es auf absehbare Zeit nicht und wird es vielleicht auch nicht mehr geben.

Die Wirtschaft mit den Grundsätzen “höher – schneller – weiter” hat spürbar Sand im Getriebe. Plötzlich wird sie entschleunigt, kommt zum Teil sogar zum Stillstand. Abstand bedeutet Respekt, Zeit kann zu “In-sich-Gehen“ führen, und Not macht erfinderisch. Vielleicht können nun offene Konfliktfelder völlig neu durchdacht werden und eine lebenswerte Zukunft mit einer für alle lebensfreundlichen Wirtschaft entworfen werden?!

Bei vielen läuft jetzt eine Gedankenkette ab – vom Verlust des Lebensstandards und der Gesundheit, drohende Arbeitslosigkeit bis hin zum Bankrott. Und leider ist im Moment noch nicht klar, wo diese Gedankenkette unterbrochen werden könnte, weil wir nicht wissen, wie die Krise letztendlich verlaufen wird.

Mit ihren Maßnahmen hat die Politik den Menschen eine Orientierung gegeben. Sie lernen jetzt, sich innerhalb dieser Regeln zu bewegen und wie weit der Spielraum geht. Es ist menschlich, dass dieser Spielraum mehr und mehr genutzt wird. Das ist ein Anpassungsprozess (Enno Maaß, deutsche-handwerks-zeitung.de). Neue Regeln treffen auf “Das haben wir schon immer so gemacht”; warum also etwas verändern?!

Wir müssen! Neue Situationen erfordern neue Verhaltensregeln in der Gemeinschaft. Das Problem bei der Akzeptanz ist hier, dass die neuen Normen mit Freiheitsentzug – zumindest teilweise – verbunden sind. Wie viel Freiheit kann dem Durchschnittsbürger entzogen werden bis er rebelliert?! Wieviel Einsicht in die Notwendigkeit ist vorhanden, um die “Durststrecke” – die es hoffentlich sein wird – zu überstehen?

In Krisenzeiten werden Grundbedürfnisse wie Wohlstand, Existenz und Sicherheit neu reflektiert und der Weg zur Befriedigung dieser Bedürfnisse hinterfragt (Maaß, a.a.O.).

 

 

 

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