Ihnen kann an diesem historischen Trauertag nur entgegnet werden: Vor 87 Jahren, am 30. Januar 1933, wurde ein gewisser Adolf Hitler vom demokratisch gewählten Reichspräsidenten Paul von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt. Hitlers Partei war in einer demokratischen Wahl stärkste Fraktion geworden. Am 5. März desselben Jahres verabschiedete der Reichstag das „Ermächtigungsgesetz“, das der Abschaffung der Demokratie gleichkam – mit den Stimmen der „bürgerlichen“ Parteien.
Was läuft da in Thüringen? Der Politikwissenschaftler Martin Florack spricht gar vom „Sündenfall“ (tagesschau.de).
Der Vergleich zwischen dem Ende der Weimarer Republik und dem Skandal von Erfurt ist an einer Stelle legitim: Erneut erweist sich, dass formal demokratische Entscheidungen den Feinden der Demokratie den Weg ebnen können.
Genau das ist am Mittwoch im Thüringer Landtag geschehen. Nicht, weil Höcke demnächst an die Regierung käme, so weit ist es noch nicht. Aber mit der Wahl Kemmerichs ist es seiner Partei erstmals gelungen, einen Block mit den „Bürgerlichen“ zu bilden, um die demokratische Alternative, in diesem Fall Rot-Rot-Grün, zu verhindern.
Der bisherige thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) hat nach der umstrittenen Wahl der FDP-Politikers Thomas Kemmerich mit Stimmen der AfD ein Zitat von Adolf Hitler auf Twitter veröffentlicht. „Den größten Erfolg erzielten wir in Thüringen. Dort sind wir heute wirklich die ausschlaggebende Partei. […] Die Parteien in Thüringen, die bisher die Regierung bildeten, vermögen ohne unsere Mitwirkung keine Majorität aufzubringen. A. Hitler, 02.02.1930“ (welt.de), schrieb Ramelow auf Twitter.
Zuvor war der FDP-Politiker Thomas Kemmerich vom Thüringer Landtag zum neuen Ministerpräsidenten gewählt worden – auch mit Hilfe der AfD. Im dritten Wahlgang erhielt Kemmerich am Mittwoch 45 Stimmen und damit eine Stimme mehr als der bisherige Amtsinhaber Bodo Ramelow (Linke). Damit stimmte die AfD-Fraktion offenbar geschlossen für den FDP-Kandidaten, ihr eigener Bewerber Christoph Kindervater erhielt keine Stimme.
Auch die FDP hadert mit der Entwicklung. Parteichef Lindner reist am Donnerstag als erster Spitzenvertreter einer Bundespartei zu Gesprächen nach Erfurt. Laut Medienberichten erwägt er, eine Vertrauensfrage im Erfurter Landtag anzuregen, um den Weg für Neuwahlen freizumachen.
Der Mann, der alles erklären sollte, kam zur Pressekonferenz zwanzig Minuten zu spät. Christian Lindner lief mit reichlich Verzug die Treppe im Hans-Dietrich-Genscher-Haus nach unten und stellte sich ans Pult vor die Journalisten. „Die FDP verhandelt und kooperiert mit der AfD nicht“ sagt er vor der Presse. „Wer umgekehrt unsere Kandidaten in einer geheimen Wahl unterstützt, das liegt nicht in unserer Hand“, fügte er hinzu. Die FDP ist in Ostdeutschland ohnehin schwach und kaum organisiert. Der Einzug in den Landtag war als großer Erfolg bejubelt worden. Sollte es jetzt zu Neuwahlen kommen, muss sie damit rechnen, aus dem Parlament zu fliegen. Dann war es ein kurzes Vergnügen.
Gerhart Baum, der frühere FDP-Innenminister, sagte: „Ein Hauch Weimar liegt in der Luft“ (SPON). Was in Realität passierte, hatte schon deshalb zumindest kein Außenstehender im Kalkül, weil es bisher noch in keiner Realität passiert war: dass eine Partei – in diesem Fall die AfD – ihren eigenen Kandidaten allenfalls zur Ablenkung im Wettbewerb ließ. Sie hatte gar nicht vor, ihn zu wählen – sondern stimmte geschlossen für den neuen Bewerber der FDP. Plötzlich war Thomas Kemmerich Ministerpräsident. Wie hatte Björn Höcke, der Landes- und Fraktionsvorsitzende der AfD, zuvor über seine Partei, CDU und FDP gesagt: „Wir können so viel gemeinsam erreichen“.
Es ist eine Schande, dass Kemmerich in Kenntnis des Ergebnisses diese Wahl angenommen hat. Im dritten Wahlgang ist in Thüringen gewählt, „wer die meisten Stimmen erhält“. Der Landtag besteht aus 90 Abgeordneten. Hätte zum Beispiel der AfD-Kandidat in diesem dritten Wahlgang 22 Stimmen erhalten, Ramelow 20, Kemmerich 26; der Rest Enthaltungen: Es wäre eine zwar kuriose, aber seriöse Wahl gewesen. Weil aber tatsächlich der AfD-Kandidat null Stimmen bekam und es auch lediglich eine Enthaltung gab, konnte Thomas Kemmerich nur durch ein Zusammenwirken der bürgerlichen Parteien CDU und FDP mit einer Partei ins Amt kommen, an deren Spitze in Thüringen ein Nazi steht. Noch mal zur Erinnerung: „Denkmal der Schande“, „tausendjährige Zukunft“, „wohltemperierte Grausamkeit“, „vollständiger Sieg der AfD“ usw. (sueddeutsche.de), alles Zitate des Björn Höcke, im Diskurs platziert. Der Mann nutzt die Instrumente der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, um diese zu bekämpfen.