Die Nationalratswahl in Österreich hat zwei große Sieger: zum einen die konservative ÖVP mit ihrem Chef Sebastian Kurz und zum anderen die Grünen. Die ÖVP konnte auf bereits hohem Niveau nochmals zulegen und verzeichnet das beste Ergebnis seit Wolfgang Schüssels Glanzresultat im Jahr 2002. Das ist insofern bemerkenswert, als die beiden Volksparteien ÖVP und SPÖ seit dem Aufkommen der Grünen und der populistischen Ausrichtung der FPÖ in den achtziger Jahren langsam, aber stetig an Zustimmung verloren.
Die Freiheitlichen der FPÖ haben gestern ein Debakel erlebt. Sie verloren knapp 10 Prozentpunkte und erreichen nur noch gut 16 Prozent Wähleranteil, das schlechteste Ergebnis seit dem Ende ihrer skandalträchtigen ersten Koalition zusammen mit der ÖVP 2006.
Wie man sich doch täuschen kann! Nach dem Auftauchen des Ibiza-Videos, das den FPÖ-Chef und Vizekanzler dabei zeigte, wie er die kritische österreichische Presse mit Hilfe einer ausländischen Oligarchin ausschalten wollte, und nach dem anschließenden Misstrauensvotum schien es mehr als fraglich, ob der gestürzte Kanzler dieser Koalition wieder auferstehen kann. Doch Sebastian Kurz hat es geschafft und das Wahlergebnis von 2017 für die ÖVP sogar noch gesteigert.
Kurz hat bei Asyl-, Wirtschafts- und Sozialpolitik aus Wählersicht geliefert, was er versprochen hatte. Böse Zungen behaupten, das hätte auch ein „Ziegelstein“ (SPON) zuwege gebracht. Wobei einem auf Anhieb mehrere GrünpolitikerInnen einfallen, die selbst diesen Elfmeter verschossen hätten. Das Thema Umwelt brennt. Im wahrsten Sinne des Wortes. Und es ist eigentlich ein Wunder, dass sich die FPÖ selbiges nicht unter dem Schlagwort Klimaflüchtlinge aneignete. Stattdessen versuchte man mit der inzwischen lächerlichen Pose des Klimawandelleugners durchzukommen. Die heilige Greta wurde als hysterisch hingestellt – man sprach von Zöpfchendiktatur.
Das Ärgerliche aus Sicht von Demokratie und Rechtsstaat ist, dass jene FPÖ nach diesem Skandal nur zehn Prozentpunkte verloren hat. Die Freiheitlichen, die sogar die Parteifarbe Blau mit der deutschen AfD teilen, haben mehr Stimmen als die erstarkten Grünen und nur sechs Prozentpunkte weniger als die SPÖ.
Der Wahlsieger steht fest, aber wie geht es nun weiter? Das fragt auch die ZEIT (zeit.de).
In Europa hofften viele auf einen „zweiten Fall Giuseppe Conte“. Also eine erneute Bestätigung des scheidenden Kanzlers, aber mit einem Juniorpartner. Der sich weniger gegen Brüssel stellt und mehr das Gespräch über europäische Dringlichkeiten wie die Migration sucht. Nachdem das Regierungsbündnis mit der rechten Lega-Partei in Italien zerbrochen ist, hatte sich die Fünf-Sterne-Bewegung unter Giuseppe Conte nach der Wiederwahl für eine Koalition mit dem proeuropäischen linken Lager entschieden.
„Kurz ist fesch und sympathisch. Wer so rüberkommt, gilt vielen nahezu automatisch als glaubwürdig und dann schnell auch als fähig“, schrieb einmal der Psychologe Michael Schmitz (web.de) über ihn. Nach dem Wahlsieg am Sonntag hat Kurz nun die freie Wahl: Wagt er gar ein Bündnis mit den kräftig erstarkten Grünen? Experten glauben, dass ein solche Koalition das Image von Kurz international noch weiter verbessern könnte (dpa/sap).
Rechnerisch kann Kurz ein Bündnis mit den erstarkten Grünen schmieden, aber auch mit der SPÖ oder erneut mit der rechten FPÖ. Der 33-Jährige sagte dazu am Sonntagabend im ORF, er werde auf alle im Parlament vertretenen Parteien zugehen (nnn.de).
Die Koalitionssuche wird zur Qual der Wahl, mitunter zur Auswahl zwischen Pest, Cholera und Ebola bezeichnet. Will heißen, dass keine Koalition leicht wird, dass jede einen Haken hat. Andererseits jedoch ist Kurz in der komfortablen Position, dass es de facto keine Mehrheit gegen ihn gibt, weil alle außer seiner ÖVP ein Bündnis mit der rechtspopulistischen FPÖ ausschließen. Keiner jedoch hat ein Bündnis mit der ÖVP ausgeschlossen, und unterm Strich würden wohl alle gern regieren. Kurz kann die Koalitionsaspiranten also kommen lassen und in aller Ruhe sondieren.
Wenn Kurz eine Koalition der Sieger bilden will, dann muss er sich auf ein gewaltiges Experiment einlassen: auf eine Koalition mit den Grünen. Rechnerisch ist nach den Hochrechnungen eine gemeinsame Mehrheit möglich, und Vorbilder gibt es dafür zumindest schon in den Ländern.
Sei es drum … Um Inhalte wird es erst jetzt gehen. Vor allem weil Kurz kaum welche hat. Er ist wie ein leeres Glas, das schön geputzt glänzt und das es jetzt zu füllen gilt. Ihm stehen alle Möglichkeiten offen.