Demnächst ist es schon 30 Jahre her, Herbst 1989: Massenfluchten und Montagsdemos mit Hunderttausenden Teilnehmern setzen das DDR-Regime unter Druck. Am 9. November 1989 kündigt Politbüro-Sprecher Günther Schabowski Reisefreiheit für alle DDR-Bürger an – und läutet damit unfreiwillig das letzte Kapitel in der Geschichte der deutschen Teilung ein. Noch am selben Abend öffnen sich die Grenzübergänge: Deutsche aus Ost und West liegen sich in den Armen, Freudentränen fließen, ein ganzes Land jubelt. Knapp ein Jahr später, am 3. Oktober 1990, existiert die DDR nicht mehr – Deutschland ist wiedervereinigt.
In der Zeit davor herrscht Massenexodus: Ein Volk verlässt sein Land. Aber nicht alle gehen. Einige entscheiden sich bewusst dafür, in der DDR zu bleiben. Sie wollen das Land verändern. Sie schließen sich in Bürgerrechtsbewegungen wie dem Neuen Forum zusammen, fordern demokratische Reformen und Reisefreiheit. Jeden Montag versammeln sich die Menschen, um gemeinsam zu demonstrieren, zuerst in Leipzig, dann im ganzen Land. Schon bald sind es Tausende, dann Hunderttausende, die bei den sogenannten Montagsdemonstrationen auf die Straße gehen, sie rufen „Keine Gewalt!“ und „Wir sind das Volk!“.
1989 war das – verspätete – 1968 der DDR-Bürger (SPON).
Kann man die beiden Jahre 1968 und 1989 tatsächlich miteinander vergleichen? Das bereits zum Mythos geronnene Jahr 1968 steht – weltweit – für Proteste aus der Gesellschaft heraus. Der Blick richtete sich auf Alternativen, besonders mit marxistischer oder neomarxistischer Ausrichtung, während in Osteuropa Freiheitsbewegungen politische Spielräume forderten. Sie wurden entweder unterdrückt oder integriert. Anders 1989: Hier waren die Folgen Regimewechsel und das Ende der Blockkonfrontation.
Die Gleichsetzung 1968/1989 hinkt, aber sie gibt auch eine Krücke zur Hand. Wie die Menschen im Westen hatten sich die Bürger im Osten der Anpassung an erstarrte, unkreative Verhältnisse verweigert. Doch – und das unterscheidet uns Deutsche – in dem Moment, als die DDR-Bürger ihre Welt zu der ihren machen wollten, wurde sie ihnen aus den Händen geschlagen. Nicht vom Westen, von die Geschichte. Es war einfach zu spät. In puncto Verhinderung von Geschichte hatten die greisen Genossen 1989 ganze Arbeit geleistet. Die Menschen im Osten waren ihre eigenen Nachzügler.
Nicht die BRD, sondern die DDR wurde nach dem Wettstreit der Systeme nicht mehr gebraucht. Was es aus ihr für die Ostdeutschen zu lernen gab, was da in Jahrzehnten gewachsen, war außerhalb der staatlich-orthodoxen Denkstrukturen, das wurde mit dem Bade ausgekippt. mit dem Badewasser der Stagnation. Das ist der eigentliche Verlust: die nicht fruchtbar gewordene Erfahrung, die in diesem ostdeutschen Aufbruch in den späten Achtzigern steckte.
Der Mauerfall war lediglich ein Nebenprodukt dieses Aufbruchs, war von den stammelnden Greisen des Politbüros als Ventil gedacht. Betrogen fühlen sich die Ostdeutschen nicht um die sozialen Errungenschaften der DDR, sondern um den Sinn, den diese 40 Jahre DDR hätten haben können, wenn der so verspätete Aufbruch den Entfaltungsraum gehabt hätte, den in der alten Bundesrepublik die 68er hatten.
Gemeint ist ein anderer Lebensstil, weder westlich, noch staatskonform. Gemeint sind andere Prioritäten, die genau zu formulieren einfach die Zeit fehlte. Die mundtote DDR hat viel zu lange gedauert, die mündige hingegen währte viel zu kurz, um die allzu lang unterdrückte politische Reifung nachzuholen.
Dass 1989 hinter 1968 verblasst, wird gelegentlich den 68ern in die Schuhe geschoben. Zum einen sei der 68er-Generation 89 auf dem Weg zur Macht in die Quere gekommen (Ulrich Greiner: Die Neunundachtziger, in: Die Zeit, 16.09.1994, S. 68), zum anderen dominierten die 68er, die heute in den Chefetagen der Medien und Kulturproduktion sitzen, noch immer die öffentlichen Debatten (Timothy Garton Ash: Die späte Morgendämmerung, in: Die Zeit, 15.05.2008, S. 13). Beide Erklärungen gehen übrigens von konkurrierenden, sich gegenseitig aufhebenden Ereignissen aus. Im Interesse konservativer Geschichtspolitik liegt es schon lange, 89 gegen 68 auszuspielen. Um die Deutung von 1968 als emanzipatorischem Aufbruch zu dementieren, versuche man neuerdings, die friedliche 89er Revolution gleichsam als Gegenbild der gewalttätigen 1968er Revolte ins Feld zu führen. 68 wird zur Vorgeschichte, die folgerichtig in den Terror der RAF und in den „Deutschen Herbst“ mündet.