Heute Morgen meldete die Wahlbehörde YSK den Sieg des Kandidaten der Mitte-Links-Oppositionspartei CHP, Ekrem Imamoglu, In Istanbul mit einer hauchdünnen Mehrheit. Imamoglu habe einen Vorsprung von fast 28.000 Stimmen, erklärte der Chef der Hohen Wahlkommission, Sadi Güven, am Montag. Imamoglu kommt den vorläufigen Ergebnissen zufolge auf 4.159.650 Stimmen und der Kandidat der AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan, Ex-Ministerpräsident Binali Yildirim, auf 4.131.761 Stimmen (faz.net).
Es war für eine Weile die letzte Wahl in der Türkei, nach einem halben Jahrzehnt, in dem die Türken ständig gewählt haben. Auf die Kommunal- und die Präsidentschaftswahlen 2014 folgten zwei Parlamentswahlen 2015. Nur 2016 kam ohne Wahl aus, dafür fällt in dieses Jahr der Militärputsch. 2017 stimmten die Türken über die neue Verfassung ab und 2018 überraschte sie Erdogan mit Neuwahlen – des Parlaments und des Präsidenten.
Erdogans Hoffnung war, dass er die jetzigen Kommunalwahlen trotz Wirtschaftskrise einigermaßen übersteht und dass danach Ruhe einkehrt. Alle Ämter sind nun bis 2023 vergeben. Tatsächlich haben ihm die Wähler vor allem in den Großstädten gezeigt, dass sie sich und ihre Demokratie noch nicht aufgegeben haben, dass sie nicht bereit sind zu einer „Friedhofsruhe“ (stern.de).
Die „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ („Adalet ve Kalkinma Partisi“) war 2002 angetreten, um das Land zu demokratisieren. Das haben Erdogan und seine Mitstreiter anfangs auch geschafft. Das Militär wurde entmachtet, einige Minderheiten erhielten mehr Rechte. Unter Erdogan gab es einen Wirtschaftsboom. In seinen ersten Amtsjahren entfesselte er Kräfte im Land, von denen seine Popularität heute noch zehrt.
Genau das ist das Problem. Erdogan wird nicht nur von erzkonservativen Muslimen gewählt. Aber genau die sind es, die ihm zwar noch die Stange halten, aber eigentlich immer weniger von ihm überzeugt sind. Manche Kopftuchträgerinnen glauben, eine andere Partei würde ihnen wieder das Recht nehmen, in einer Universität ihre Haare zu verhüllen. Aber dass sie wegen der Wirtschaftskrise ihren Job verloren haben – auch dafür geben inzwischen viele Erdogan und seiner Führungsriege die Schuld.
Die Symbolkraft der Niederlagen auf kommunaler Ebene ist nicht zu unterschätzen. Die virushafte Schwäche der AKP, die sich schon seit Längerem abzeichnet, hat nun erstmalig zum Machtverlust in den großen Städten des Landes geführt. Der Präsident weiß um die Anfälligkeit seiner an der Macht verbrauchten Partei, deshalb hatte er im Wahlkampf alle Register der Manipulation und der politischen Kriegsführung gezogen.
Erdogan hat im Wahlkampf all jene Türken als „Terroristen“ bezeichnet, die nicht für ihn und die AKP stimmen. Damit ist die Marschrichtung für die Zeit nach der Wahl bestimmt. Kompromisse und große Koalitionen sind Erdogan fremd. Er wird die Polarisierung des Landes verschärfen und aus dem Präsidentenpalast gegen die Rathäuser der Opposition kämpfen. Er könnte versuchen, die Bürgermeister der Opposition abzusetzen, wie er es schon im kurdischen Osten des Landes gemacht hat. Er könnte die Rathäuser der Opposition mit Prozessen der willfährigen Justiz überziehen. Und vielleicht werden AKP und Opposition einen langen, hässlichen Nachwahlstreit um Istanbul führen.
Der jetzige Stimmungstest der Kommunalwahl ist umso bedeutender, als die Türkei zurzeit eine schwere Wirtschaftskrise durchläuft und jüngst sogar in eine Rezession gerutscht ist. Seit dem dramatischen Kursverlust der Lira im vergangenen Sommer ist die Inflation auf 20 Prozent gestiegen, und die Arbeitslosigkeit hat hohe 13,5 Prozent erreicht. Für die AKP, deren seit 2002 andauernde Regierungszeit lange mit einem imposanten Wirtschaftsaufschwung einherging, war das eine ungewohnte Ausgangslage. Die Regierung war bemüht, im Vorfeld der Wahlen die Folgen der ökonomischen Krise abzufedern. Allein in den vergangenen Wochen wurden mehrere Milliarden an Währungsreserven aufgewendet, um den Kurs der Lira zu stützen (nzz.ch).
Der rücksichtslose Wahlkampf Erdogans wurde von einigen Beobachtern als Zeichen einer wachsenden Nervosität in der erfolgsverwöhnten Partei gesehen. In dieser gibt es Kräfte, die mit dem autokratischen, isolationistischen und wirtschaftlich abenteuerlichen Kurs Erdogans zunehmend unzufrieden sind. Der Verlust Istanbuls, sollte es denn zu diesem kommen, könnte den Plänen innerparteilicher Erdogan-Kritiker, eine neue Partei zu gründen, neuen Auftrieb verleihen.