Etwa jeder zweite Asylbewerber aus der Türkei hat zuletzt Schutz in Deutschland erhalten. Das geht aus einer Antwort des Bundesinnenministeriums auf eine schriftliche Frage der stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der Linken im Bundestag, Sevim Dagdelen, hervor, die der Deutschen Presse-Agentur vorliegt (faz.net).
Die Zahl der Türken, die in Deutschland Asyl beantragen, ist seit dem Jahr des Putschversuchs 2016 deutlich gestiegen. So stellen von 2013 bis 2015 jedes Jahr ungefähr 1.800 Menschen aus der Türkei hierzulande einen Asylantrag. 2016 waren es nach Angaben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf) 5.742 Anträge, 2017 insgesamt 8.483 Anträge, von Januar bis November 2018 wurden 10.075 Anträge gestellt (bamf.de).
Die Türkei ist kein sicheres Herkunftsland. Für andersdenkende türkische Staatsangehörige verschlimmert sich die Lage immer mehr. Wo liegen die Gründe?
Erdogans islamistisch und neoosmanisch unterlegter Umbau der Türkei gehört zum Spektrum der Identitätspolitik, die seit einigen Jahren Konjunktur hat. Eine Folge des auf konservative Rückbesinnung gegründeten Umbaus der Türkei durch Erdogans Politik sind Fluchtbewegungen, zumal mit den vorerwähnten Repressionen gegen Andersdenkende nicht gespart wird.
Nicht nur die an Universitäten ausgebildeten Jüngeren sind in den letzten Jahren aus dem Land abgewandert, sondern auch „Unternehmer, Geschäftsleute und Tausende wohlhabender Personen, die alles verkaufen und ihre Familien und ihr Vermögen ins Ausland bringen“ (nytimes.com).
Die These, wonach zum ersten Mal seit Gründung der türkischen Republik vor etwa 100 Jahren viele das Land verlassen, „die aus der Klasse des alten Geldes kommen, insbesondere aus der säkularen Elite, die das kulturelle und das Wirtschaftsleben des Landes seit Jahrzehnten dominiert haben“, stammt von dem Migrationsforscher Ibrahim Sirkeci, der diese Behauptung allerdings nicht mit empirischen Zahlen untermauert.
Erdogan zeigte sich in der Vergangenheit immer wieder stolz auf eine traditionelle religiöse Ausbildung; die Religionsschulen blühen unter seiner Herrschaft auf (was auch angesichts der Ausbildung der hunderttausende syrischen Flüchtlingskinder zu Besorgnis Anlass gibt). Anderseits versucht sein Wissenschaftsminister mit Stipendien den „brain drain“ aufzuhalten (heise.de).
Es handelt sich um einen Exodus, der eine dauerhafte Umstellung der Gesellschaft bedeuten kann und droht, die Türkei um Jahrzehnte zurückzuwerfen.
Buchstäbliche Breitseiten sind es, die liberale US-Gazetten auf die Türkei unter Erdogan abfeuern. Leser aus der Regierung in Ankara werden wenig entzückt sein. Vorgebracht wird, dass die Motive zur Flucht aus der Türkei nicht allein mit Verfolgung und Repression, der Beschneidung der Freiheiten und der Grundrechte zu tun haben, sondern auch mit der Politik Erdogans, die auf persönliche Bereicherung und die seiner Familie ausgerichtet ist.
Präsident Erdogan macht die Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen für den versuchten Staatsstreich verantwortlich. Offiziellen Zahlen aus dem Innenministerium zufolge haben Sicherheitskräfte 2018 rund 75.200 Menschen wegen Terrorverdachts festgenommen. Nach Angaben des türkischen Justizministers Abdülhamit Gül sind derzeit rund 31.000 Menschen wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung inhaftiert (n-tv.de).
Die türkischen Statistiker berichten aktuell wenig Gutes. Das Wirtschaftswachstum in der Türkei ist im letzten Quartal im Jahresvergleich nur noch um 1,6% gewachsen (2,0% Erwartung). Der Rückgang ist dramatisch. Letztes Jahr gab es noch 11,5% Wachstum. Dann ging es Quartal für Quartal schnell bergab auf um die 7% Anfang diesen Jahres. Jetzt ist man noch knapp im Plus. In Europa sind +1,6% ein ordentlicher Wert, aber in einem Emerging Market-Land (finanzmarktwelt.de) wie der Türkei ist man deutlich höhere Wachstumsraten gewöhnt.
Grund ist: Die Wirtschaft ist massiv kreditgetrieben. Entfällt das Wachstum, kann das Kartenhaus ins Wanken geraten. Ganz zu schweigen von dem Irrsinn, dass die Regierung mit enormem Aufwand Preissteigerungen im Einzelhandel unterbindet, wodurch sehr viele Einzelhändler in den Ruin getrieben werden. Aber diese Lawine braucht noch, bis sie sich hangabwärts bewegt.