Europas Geister der Vergangenheit am Beispiel Spanien: Die spanische Demokratie schickt sich an, jene zu vertreiben. Die Gebeine des früheren Diktators Franco sollen aus dessen monumentaler Grabanlage im Valle de los Caídos entfernt werden. Der Schritt ist, vierzig Jahre nach dem Übergang zur Demokratie, überfällig (nzz.ch). Doch mehr als durch den toten Generalissimus wurde die spanische Demokratie in den letzten Jahren durch eine Serie von akuten Krisen auf die Probe gestellt: durch Korruptionsskandale, Massenproteste der „Empörten“, durch den katalanischen Separatismus. Hintergrund dieser Vorgänge war die Wirtschaftskrise, die das gesellschaftliche Gefüge ins Wanken brachte. Hinzu kommen die Terroranschläge von Islamisten.

In Katalonien will ein Teil der Separatisten den Zustand der Dauermobilisierung aufrechterhalten. Die Diada, der Nationalfeiertag am 11. September, war der Auftakt, es folgten Kundgebungen zur Erinnerung an das illegale Plebiszit, und solche zum Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung stehen noch bevor (zeit.de). Man kann das ganze Drehbuch des letzten Herbstes nochmals abspulen. Für zusätzliche Spannung sorgt der Kampf um die gelben Bänder, die überall in Katalonien an die gefangenen Anführer der Separatisten erinnern. Die einen hängen die Bänder auf, die andern reißen sie herunter, man befürchtet Schlägereien.

Der Begriff des „kalten Bürgerkrieges“ wurde in Katalonien geprägt; ihm implizit ist die Angst vor einem heißen Bürgerkrieg. Seit dem letzten Herbst ist die katalanische Gesellschaft scharf getrennt in zwei etwa gleich starke, feindliche Blöcke: Katalanisten und Spaniolisten. Die Regionalregierung hat bisher zu wenig unternommen, um das erschütterte Vertrauen zwischen den beiden Lagern wieder aufzubauen (heise.de 12.09.2018). Allerdings gibt es auch diejenigen Separatisten, die angesichts der offensichtlichen Niederlage vom letzten Jahr einen pragmatischen Weg einschlagen wollen: zuerst die Autonomie sichern, dann ein gültiges Unabhängigkeitsreferendum herbeiführen.

Hurra-Patriotismus ist heute in Spanien viel stärker verbreitet als vor der Eskalation in Katalonien.

Als Antwort auf die Herausforderung in Katalonien hat seit einem Jahr eine patriotische Aufwallung Spanien erfasst. Sie zeigt sich unter anderem in einem wahren Fahnenkult. Das rot-gelb-rote Banner wird an Kundgebungen geschwenkt und hängt überall von Balkonen herunter. Mit der Flagge wollen manche Spanier Herrschaftsansprüche unterstreichen: Hier ist Spanien! Damit einher gehen Forderungen nach dem Rückbau der regionalen Selbstverwaltung und des Schulunterrichts in den Regionalsprachen.

Das Gegenstück ist ein zwar national, aber nicht nationalistisch gestimmter Verfassungspatriotismus. Die Anhänger dieser Strömung sind bereit, sich auf eine Staatsreform mit erweiterten Befugnissen für die autonomen Regionen einzulassen. Dabei beharrt man auf rechtsstaatlich und demokratisch einwandfreien Verfahren, also keine Systemveränderung im Handstreich.

Podemos und der katalanische Separatismus sind die Antwort auf eine tiefgreifende Systemkrise der spanischen Demokratie. Diese war dreißig Jahre lang eine Erfolgsgeschichte. Nach vierzig Jahren Diktatur erfand sich Spanien neu, im Dezember 1978 wurde die demokratische Verfassung vom Volk mit überwältigender Mehrheit angenommen. Man entdeckte die Freiheit und den Wohlstand. Der Aufschwung wurde durch große staatliche Investitionsprogramme befeuert. Autobahnen und ein Hochgeschwindigkeits-Eisenbahnnetz wurden aus dem Boden gestampft, mit Anschlüssen an die Welt. Flughäfen entstanden im Land. Dazu kam eine kulturelle Rundumerneuerung, Madrid machte Furore mit seiner „Movida“, Sevilla hatte die Weltausstellung, Barcelona die Fußballweltmeisterschaft, Bilbao bekam sein Guggenheim-Museum. Grenzen wurden überschritten.

Auf die Jahre des Goldrauschs folgte die Krise. Zehntausende von halbfertigen Neubauwohnungen – „Ruinen mit Meerblick“ – Symbol einer gigantischen Pleite. Die Banken torkelten, der Staat schlingerte, die öffentliche Verschuldung erreichte das volle Bruttoinlandsprodukt eines Jahres. Die Arbeitslosenzahlen schnellten in die Höhe. Die ernüchternde Erkenntnis: Auch in der Demokratie war Wohlstand nicht garantiert. Plötzlich war Korruption ein Thema, die größte Schwachstelle des demokratischen Systems.

Nicht zuletzt nach wie vor ein Dorn im Fleisch: die Forderung nach einem Unabhängigkeitsreferendum in Katalonien. Voraussetzung dafür ist eine Verfassungsänderung. Eine solche scheint im heutigen, nationalistisch aufgeladenen Klima völlig aussichtslos, doch auf längere Sicht kann sich die Stimmung auch wandeln.

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