„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“.
Das steht am Anfang unserer Verfassung, dem Grundgesetz.
Was ist das: Würde? So etwas wie der Kern des Menschen? Oder vergleichbar mit dessen Leben? Hat doch jeder das Recht auf Leben. Aber das ist auch in unserer Verfassung festgehalten. Also kann Würde und Leben nicht das Gleiche sein, auch wenn es wohl oft einhergeht. Ist der Begriff „Würde“ aus unserem Bewusstsein verschwunden? Hatten wir früher, vielleicht vor hundert Jahren oder auch zur Zeit, als der Parlamentarische Rat am Grundgesetz bastelte, noch eine Vorstellung davon? War das schon immer eine aufgebauschte Worthülse, sozusagen „Blabla“, oder sind wir heute so richtig „würdelos“ geworden, so dass wir uns darüber schon keine Gedanken mehr machen?!
Peter Bieri hat in seinem neuen Buch „Eine Art zu leben“ Würde als etwas bezeichnet, das es anderen verbietet, einen zu erniedrigen, sozusagen bloßzustellen, zu de-grad-ieren. Das müsste so viel heißen wie von einem hohen auf ein niedriges Niveau abzuqualifizieren. Einer meiner Professoren an der Universität drückte es anders aus: Der Mensch muss Subjekt bleiben, er darf nicht zum Objekt werden. Läuft auf das Gleiche hinaus! Subjekt und Würde gehören zusammen, Objekte haben keine Würde.
Ich bin schon lange auf der Jagd nach der Würde; versuche, sie in die Enge zu treiben, einzukreisen und unter die Lupe zu nehmen. Ständig achte ich in der Fußgängerzone, auf der Straße oder auf öffentlichen Plätzen darauf, ob sie mir über den Weg läuft, ich sie anhalten und begrüßen kann. Einmal in praxi der Würde die Hand schütteln … Wäre doch geil, oder?!
Ich habe schon an vielen Orten gesucht, keiner kennt sie. Fragt man nach ihr, erntet man bloß Achselzucken oder Kopfschütteln.
Es gibt diese Leistungen nach Sozialgesetzbuch II. Klingt wichtig, kann man einfacher ausdrücken: „Hartz 4“. Auf den ersten Blick eine gute Erfindung: die Würde des Menschen erfordert es, dass man finanziell beziehungsweise wirtschaftlich schwachen Mitbürgern hilft. Laut Gesetz muss es Empfängern solcher Leistungen möglich sein, sich im alltäglichen Leben genauso frei zu bewegen wie ein – nennen wir ihn – Nichtempfänger. Und das einschließlich kultureller Bedürfnisse. Darunter zählen zum Beispiel Theaterbesuche! Fragen Sie doch mal einen Leistungsempfänger, wann er das letzte Mal im Theater war … Klar, das geht nicht. Weil das Amt mal wieder die ohnehin geringe Leistung gekürzt hat, reicht es kaum zum Leben. Fühlt man sich wirklich als Subjekt, wenn man jeden Schritt, den man tut oder unterlässt, mit Ämtern abstimmen muss? Wenn man über Wochen und Monate seinem Geld hinterherrennt, weil das Amt mal wieder einen Fehler gemacht hat und das erst prüfen muss? Wenn einen das Gefühl beschleicht, kontrolliert und im Zaum gehalten zu werden?!
Ja, stimmt. Danke für den Hinweis! Ausspähen, Geheimdienste und so … Schon doof, dass die einem überall reingucken oder mithören. Aber was soll ´s?! Was können die schon erfahren? Man ist ein braver Bürger, eine brave Bürgerin. Können die doch ruhig mithören, wenn´s Spaß macht. Nicht so schlimm, wenn einem von Mitarbeitern irgendeines Dienstes, von welchem man vorher noch nie gehört hat, der Vorwurf gemacht wird, man habe ein Opfer – bis dahin natürlich auch völlig unbekannt – aus terroristischen Motiven umgebracht oder zumindest Beihilfe dazu geleistet. Unmöglich?! Dann erklären Sie den Typen im Nadelstreifenanzug und Sonnenbrille doch mal diesen mitgeschnittenen Gesprächsfetzen, auf welchem Sie erklären, „diesen XY müsste man einen Kopf kürzer machen …“. Und jetzt bitte nicht diese billigen Rechtfertigungsversuche, von wegen das sei schon die eigene Stimme und man habe das auch gesagt, „aber …“. Immer schön Subjekt bleiben, ja?! Ist es Inhalt der Würde, wenn man kaum auf der Straße ist, dieses Gefühl der Beobachtung zu haben? Dass jemand genau verfolgt, wann man wo etwas tut oder sagt?! Angst zu haben, den nächsten Schritt zu tun?
Neulich habe ich gelesen, die Zensur der amerikanischen Medien sei schon lange nicht mehr so intensiv gewesen wie unter dem derzeitigen US-Präsidenten. Auch hier stellt sich mir die Frage: begegnen wir uns noch auf Augenhöhe, wenn mir mein Gegenüber, in diesem Falle meine Regierung, bewusst Informationen vorenthält, um mich handzahm zu machen? Anders formuliert: darf man ein Volk dumm halten oder nur ein bisschen doofer als man selbst, um es regieren zu können?!
Und nicht zuletzt: mal ganz unten oder ganz von vorn angefangen: die Schule erzieht uns zu mündigen Staatsbürgerinnen und -bürgern. Sagt man uns so … Schule, um junge Menschen zu befähigen, in den Bahnen eines gesellschaftlichen Systems zu denken und zu handeln. Sozusagen auf Spur zu bringen … Beachte die Regeln und Du bist geachtet! Missachte sie und Du wirst verhaftet! Wir sollen oder dürfen gar nicht alles wissen, um ein gutes Staatsvolk zu sein. Man merkt dies in den letzten Jahren daran, dass die Menge an sogenannten „Verschwörungstheorien“ stets zunimmt. Von Kindesbeinen heißt es oft: „Das sagt man aber nicht!“ oder „Das darf man aber nicht sagen!“. Hier beginnt schon der zarte, aber bestimmte Versuch, uns zu lenken. Zu lenken in die Richtung: „Das denkt man nicht!“. Und was nicht in das Denkschema der Gemeinschaft passt, wird mindestens verlacht als Verschwörungstheorie, wenn es nicht gar als Verschwörung strafrechtliche Verfolgung nach sich zieht.
Nun denn, liebe Mit-Subjekte, oder sind wir Objekte?! Denkt einmal darüber nach!
Und liebe Würde: ich würde Dir gerne mal die Hand schütteln. Wo bist Du? Schreib doch mal eine Ansichtskarte …
© Thomas Dietsch