Nicht nur in Indonesien, dem Gastland der Buchmesse, erzählt man gern. Der Nobelpreis würdigt eine Stimmencollage. Was ist Literatur, wie entsteht sie?
Erzählforscher, Volkskundler, Literaturwissenschaftler oder Historiker sind für ihre Erforschung mündlicher Überlieferungen auf die Fixierung gesprochener Texte angewiesen. Die wichtigste Form der Fixierung – trotz der heutigen Möglichkeiten der Wiedergabe in Bild und Ton – ist die
schriftliche. Jede Verschriftlichung einer mündlichen Überlieferung bedeutet ihre „Übersetzung“ in
die geschriebene Form und damit ihre Veränderung. Im Fall von Balladen, Volksliedern oder Rei-
men ist die Form die Gedächtnisstütze, die sich für das Niederschreiben in Versen eignet. Im Fall
von Erzählungen ist die Verschriftlichung schwieriger. Lange Zeit galt in Europa unter Kompilato-
ren (so wird ein Autor bezeichnet, dessen Arbeit im Wesentlichen aus dem Sammeln oder Zusammenstellen von Werken oder Zitaten anderer Autoren besteht) – man denke nur an die Gebrüder Grimm – die Literarisierung als das probate Mittel der Übertragung. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelte sich – parallel zu technischen Möglichkeiten der Aufzeichnung von Sprache mit der Schallplatte (Ende 19. Jahrhunderts) oder Tonband (seit den 1930er Jahren) – die wortgetreue Übertragung von Erzählungen (Mareile Flitsch).
Manchen Märchensammlern ging es zunächst einmal um die Geschichte – und die konnte durch Feilen mitunter nur gewinnen. So zeigt etwa der Vergleich zweier Fassungen des schwedischen Märchens „Lasse, mein Knecht“, das der Volkskundler Nils Gabriel Djurklou sammelte, dass erst dessen Bearbeitung die Möglichkeiten dieses Märchenstoffs ganz ausschöpfte, während die Originalerzählung manche Pointen geradewegs verstolperte.
Was ist dann mit der Authentizität der Märchen als mündlich tradierte Texte, was ist mit dem erhofften Blick in eine schriftlose Zeit?
Natürlich gilt obiger Schluss nicht für alle Märchen der Gebrüder Grimm und nicht für alle in der Folge weltweit aufgezeichneten Märchen. Trotzdem wird man auch das, was sich Ethnologen von Vertretern schriftloser Kulturen erzählen ließen, nur eingeschränkt als genuin mündlich ansehen können. Denn allein die Anwesenheit eines Fremden, der einen noch dazu auffordert, in den riesigen Trichter eines Edison-Phonographen zu sprechen, wird dessen Erzählen verändern – inhaltlich, ganz sicher aber im Duktus hin zu einer elaborierten Mündlichkeit.
Vor demselben Problem stehen Linguisten, denen es nicht so sehr um die Inhalte von mündlich tradierten Texten, sondern etwa um deren Struktur geht, weil sie wissen wollen, ob es bestimmte Merkmale für Mündlichkeit in Abgrenzung zur Schriftlichkeit gibt. Am Beispiel der romanischen Sprachen zeigen Linguisten auch Übergangsformen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit auf, etwa Protokolle mündlicher Äußerungen oder Reden, die schriftlich entworfen, aber mündlich vorgetragen werden und so Merkmale aus beiden Sprachformen besitzen. In welchem Medium, also im engeren Sinne „mündlich“ oder „schriftlich“, ein Text dargeboten wird, ist letztlich nicht entscheidend. So wird eher zwischen der Sprache der Nähe und jener der Distanz unterschieden, während in der Mündlichkeit Gesten und Betonung das Ausdrucksspektrum des Sprechers erweitern, kommt in der Schriftlichkeit für den Adressaten die Möglichkeit des Vor- oder Zurückblätterns hinzu.
Besonders wenn es um Texte geht, die in schriftlosen Gesellschaften entstanden sind und später fixiert wurden, stellt sich die Frage, welchen Anteil dieser Transformationsprozess an ihrer endgültigen Gestalt hat. Wie im Fall der „Ilias“ und der „Odyssee“, ist hiermit auch die Frage nach dem Autor verknüpft.
© Thomas Dietsch