Der Strand war menschenleer. Seit gut einer halben Stunde lief ich am Meer entlang, es war sehr windig. Die Wellen waren hoch, zischend bildete sich Gischt bei deren Aufschlagen, blieb zurück auf dem Sand. Die Luft war feucht, ich schritt durch Tröpfchenwolken, den salzigen Geruch des Ozeans in der Nase …

Da stand er, den Blick geradeaus auf die See, Hände und Kinn gestützt auf einen Stock. Reich an Jahren, von der Last des Lebens gebückte Haltung, das Haupt kahl, und doch strahlte er eine majestätische Autorität aus. Er schien mich nicht zu bemerken, musste in seinen Gedanken weit weg sein, irgendwo in einer anderen Welt.

Guten Tag, mein Freund!“ begrüßte er mich, ohne den Blick vom Wasser abzuwenden. „Suchst Du Erkenntnis?“ Ich grüßte, stellte mich neben ihn. Was mochte er gemeint haben?!

Spaziergänge allein am Meer reinigen das Gehirn, hier denke ich am Besten nach!“ fuhr er fort. Ein guter Aufhänger, eine beliebte Angewohnheit, die Spaziergänge, die wir beide offensichtlich teilten. So kamen wir ins Gespräch.

Er fragte, immer noch auf seinen Stock gestützt und aufs Meer schauend: „Was geschieht in Afghanistan? Warum findet dieses Volk keinen Frieden?“
Ich erzählte ihm von dem Einmarsch der Sowjets 1979, dem Krieg mit den Mudschaheddin. Aufmerksam hörte er zu, wie ich ihm von dem Anschlag vom 11. September 2001 berichtete und den Vorwürfen gegen Osama Bin Laden, welcher nach Ansicht der Amerikaner bei den dort ansässigen Taliban Zuflucht suchte. Die US-Regierung habe zur Legitimierung ihrer im Oktober 2001 erfolgten Invasion einen Entschluss des UN-Sicherheitsrats, der ihnen das Recht auf Selbstverteidigung zusprach, genutzt. Man habe die Taliban in den meisten Regionen besiegt und versucht, die offizielle afghanische Regierung im Bemühen um Frieden zu unterstützen. Die Taliban würden jedoch, im Untergrund kämpfend, weiterhin diese Bemühungen mit Bombenanschlägen gegen die ISAF-Truppen und die Zivilbevölkerung gefährden.

Habt Ihr die Epoche des Kolonialismus immer noch nicht überwunden?!“
Ich wusste nicht, was ihn antrieb, Enttäuschung oder Erregung oder auch beides. Mit dem Finger auf mich zeigend fuhr er fort: „Ist es nicht so, dass die Afghanen, egal ob von den Russen oder auch den Amerikanern, zum Zwecke der Ausbreitung von deren Ideologie missbraucht werden? Wundert es Euch, wenn ein Volk sich dagegen auflehnt?!“

Warum gibt es Streit mit dem Iran?“
Iran wolle Uran anreichern, Israel befürchte, dass dies zu kriegerischen Zwecken gegen es genutzt werde. Man erwäge militärische Schritte. Iran beteuere, dass die Anreicherung lediglich zivilen Zwecken diene.
„Welchen Grund hat Israel, einen Angriff von Iran zu fürchten?“
Die iranische Regierung hetze gegen das Land, drohe mit dessen Vernichtung.
„Drohungen sind nicht gut, aber wer will dem iranischen Volk verdenken, dass es droht, wenn sein Nachbar dies ebenfalls tut? Hat man Beweise für den Bau einer Bombe?“
Ich sagte ihm, dass mir solche nicht bekannt seien.
„Wie sollen Völker in Frieden leben, wenn sie sich gegenseitig nicht vertrauen? Wollt Ihr den Frieden mit gegenseitiger Androhung bevorstehender Gewalt sichern?!“

Ich höre von Kindersoldaten in Syrien, von Kindern als Schutzschilden auf Panzern. Sind das auch Friedensbemühungen?“
Nein, der syrische Herrscher verteidige seine Macht. Dies habe zu Bürgerkrieg geführt.
„Warum verteidigt er seine Macht, wer macht sie ihm streitig?“
Es sei kompliziert, das Volk selbst sei mit dem Herrscher unzufrieden, jener wolle aber nicht abdanken. Eine ganze Welle dieser Revolutionen habe es in letzter Zeit in Nachbarländern gegeben, man nenne sie den „Arabischen Frühling“.
„Was verspricht sich dieser Mann von seiner Macht, wenn das Volk ihn nicht mehr will? Warum quält und missbraucht er dieses? Der Weg zum Volk führt über die Herzen, nicht über Waffen und Gewalt. Wen will er führen, wenn die Bevölkerung ihm nicht mehr vertraut? Die Grundlage seiner Macht ist zusammengebrochen, er wird die Liebe seines Volkes nicht mehr gewinnen.“

Er echauffierte sich sehr, bittere Enttäuschung war ihm anzumerken. Die Welt mochte schlecht sein, dennoch, ich rätselte, warum ihm dieses Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende alte Problem so nahe ging, so, als sei es eine frappierende neue Erkenntnis.

Was wird aus Kindern, die missbraucht werden, Gewalt lernen, ausüben und erfahren? Sage mir, was soll aus einer Generation werden, ja, aus unserer Welt, wenn eine Erkenntnis verbleibt, dass Gewalt die Lösung aller Probleme ist? Nein, die Menschen werden es nie lernen!“

Wer war er, warum stellte er mir all diese Fragen, auf die ich eigentlich keine rechte Antwort wusste?

Ich danke Dir mein Freund!“ sagte er, meinen Gedankengang unterbrechend. „Ich wünsche Dir alles Gute auf all Deinen Wegen! Lebe wohl!“ und schickte sich an, zu gehen. Überrascht stotterte ich ein „Ja, äh, danke!“ Ich rief ihm hinterher: „Alter, sag mir, wer bist Du? Warum stellst Du mir all diese Fragen?“
Er drehte sich um, sah mich eine ganze Weile eindringlich durch seine runde Nickelbrille an.
„Mein Junge, Du kennst mich. Man nennt mich Mahatma Gandhi.“
Dann setzte er seinen Weg fort.

Ich sah ihm nach, lange in die Richtung, in die er ging, selbst, als er schon verschwunden war.

© Thomas Dietsch

 

 

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