Europa und die Vereinigten Staaten haben sich nach den Terroranschlägen der letzten anderthalb Jahrzehnte auf ihre Grundwerte der Aufklärung besonnen – und zur Ideologie verzerrt.

Nach den terroristischen Anschlägen vom 11. September 2001 versicherte man sich im Westen ganz rasch der gemeinsamen zivilisatorischen Identität und Solidarität. Eine kleine Gruppe Krimineller war für die mächtigsten und wohlhabendsten Gesellschaften der Welt natürlich keine tödliche Gefahr. Und doch wirkte dieses kollektive gegenseitige Versichern bestimmter westlicher Freiheiten und Privilegien wie ein natürlicher, emotionaler Reflex. „Wir müssen uns einig sein, was zählt“, schrieb Salman Rushdie damals.

Susan Sontag wirkte dagegen taktlos, als sie von „scheinheiliger, weltfremder Rhetorik“ sprach, von „Vertrauensbildung und Trauermanagement“, die an die „einstimmig bejubelten, selbstbeweihräuchernden Plattitüden eines sowjetischen Parteitags“ erinnerten. Sie wurde scharf angegriffen, als sie darauf bestand, dass „wir auf jeden Fall gemeinsam trauern, aber auf keinen Fall gemeinsam verblöden“ sollten.

Solche Proklamationen wirken so, als ob bourgeoise Annehmlichkeiten im Westen selbstverständlich für alle da sind. Sie passen merkwürdigerweise zu den Ausbrüchen junger Dschihadisten über die westliche „Dekadenz“. Natürlich sollen sie Trost und Zuspruch sein, aber sie verschleiern so manche komplexe Realität. Der Westen, insbesondere Paris sind viel zu vielschichtig, als dass man sie auf ein Schlagwort wie die Aufklärung reduzieren könnte.

Der treueste Verbündete des so vehement säkularen Frankreich im Nahen Osten ist eine fundamentalistische Theokratie: die wahre ideologische Heimat des IS. Frankreich, das es nicht geschafft hat, seinen spätimperialen Impuls loszuwerden, rebellische Eingeborene militärisch niederzuzwingen, führte in den letzten Jahren Krieg an mehreren Fronten: Afghanistan, Elfenbeinküste, Libyen, Zentralafrikanische Republik, Mali. Die unglückseligen Zivilisten in Raqqa wissen nur zu gut, dass Frankreich nicht nur Champagner, sondern auch Waffen hat.

Intellektuelle Rückzugsgefechte! In der „Financial Times“ dieser Tage fand sich eine Kolumne mit dem Titel: „Die Anschläge von Paris müssen Europa aus seiner Selbstzufriedenheit rütteln. Die Idee, dass der Westen Mitschuld haben könnte, beruht auf einem zersetzenden moralischen Relativismus.“

Der Text beginnt mit einem Angriff auf alle, die glauben, dass „in der Welt nichts Furchtbares geschehen kann, ohne dass irgendwie der Westen im Allgemeinen und die USA im Besonderen daran schuld sind“. Er verflucht all diese Irregeleiteten, „die im Schatten von Edward Snowdens Enthüllungen glauben, dass die größte Gefahr für Europas Freiheit von elektronischen Schnüffeleien der Geheimdienste ausgeht, und nicht von den Dschihadisten.“ Nach einem Aufruf zur Kampfbereitschaft schreibt er verächtlich über die „Selbstgefälligkeit, die die Aufklärung für eine Selbstverständlichkeit hält und den Willen untergraben hat, seine Fundamente zu verteidigen“.

Angehörige des militärisch-intellektuellen Komplexes greifen diese politisch eigentlich unbedeutende Figur immer öfter an, um sich als weltgewandte, vernünftige und verantwortungsvolle Mitglieder eines Establishments zu beweisen und in einer zunehmend rechtslastigeren politischen und medialen Kultur zu überleben. Wir leben in einer Zeitschleife voller Ansichten, die noch überholter sind als Fidel Castro, dessen „prägenden Erinnerungen“ aus der Zeit des Vietnamkrieges und CIA-Übeltaten in Lateinamerika stammen.

Es ist nicht so, dass angeblich geistig verwirrte 68er und anachronistische Straßenaktivisten die Dreistigkeit besitzen, ein paar unbequeme Wahrheiten in politischen Foren zu äußern: dass nach 9/11 die Politik der USA, Frankreichs und Großbritanniens mit ihren vorbeugenden Kriegen, ihren massiven Rachefeldzügen, Umstürzen und ihren Nationenbildungen katastrophal versagt hat.

Die permanent in Unkenntnis gehaltenen Bürger sehen die verheerenden Folgen in beängstigender Schärfe: Massaker daheim, gefolgt von eskalierenden Kriegen im Ausland, sowie ein Abbau der Bürgerrechte für einen ewigen Krieg gegen echte oder vermeintliche Feinde nach 9/11. Während sich das Fiasko entfaltet, können perplexe Experten und Meinungsmacher nur noch nach Sündenböcken suchen – und die finden sie unter den quasi-volksverräterischen Linken und Liberalen, die den Westen dazu zwingen, mit nur einer Hand zu kämpfen.

Die intellektuell kastrierte Industrie der Expertisen und Meinungen und des weltweiten Schlachtens geht einher mit Ahnungslosigkeit. Was wir brauchen ist aber echte Auseinandersetzung und frische Denkansätze – die Tradition der Selbstkritik, mit der sich der Westen einst unterschied und aufklärte. Was wir haben sind Konformisten und Karrieristen, die in der öffentlichen Debatte den Ton angeben. Endloser Krieg wird so Standard bleiben. Selbstbeweihräuchernde Plattitüden des Westernismus werden nach jeder Katastrophe dafür sorgen, dass wir gemeinsam trauern und verblöden.